Kapitel 27

Amaliel

Ich fühlte mich wie in einer Blase, durch die alle Gedanken und Gefühle nur vermindert drangen.

Am Rande bekam ich mit, wie meine Sachen zusammengepackt wurden, wie Delians Hand sich aus meiner löste, wie ich ihn verließ.

Auf dem Polizeirevier wurde meine Familie angerufen, ich weigerte mich mit ihnen zu sprechen. Noch wollte ich nicht wahrhaben, dass ich wirklich zurückgehen würde. Außerdem wusste ich nicht, ob ich das Gespräch überstehen würde ohne zusammenzubrechen. Es war so lange her, dass ich die Stimmen meiner Schwester und meines Vaters gehört, dass ich mir nicht mehr vorstellen konnte, wie ich darauf reagieren würde.

Ich blinzelte müde durch die Fensterscheibe geradewegs in die aufgehende Sonne. Die Polizisten hatten keine Sekunde gezögert, mich einer kurzen Befragung unterzogen und dann auf den Weg nach Hause geschickt.

Hin und wieder döste ich für einige Minuten ein, weil ich die vergangene Nacht nicht geschlafen hatte. In meinen wachen Phasen musste ich immer wieder dagegen ankämpfen zu weinen. Ich zwang meine Gedanken in andere Bahnen, auch wenn es schier unmöglich schien, nicht an Delian zu denken. Delian, den ich so bald nicht wiedersehen würde.

Was würde aus uns werden, wenn wir nicht mehr zusammen waren? Ich hatte ihm eine Zukunft versprochen, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wie sie aussehen würde. Ob wir sie haben würden.

Wieder zog sich meine Kehle zusammen, wieder prickelten Tränen in meinen Augen. Ich hob das Gesicht zum Himmel und atmete tief ein und aus. Ich musste mich zusammenreißen. Wenigstens bis ich bei meiner Familie war und sie in die Arme schließen konnte.

Die nächsten Stunden starrte ich auf die sich verändernde Landschaft, auf Städte, Wälder, Kühe, Wolken. Etwas anderes hatte ich nicht zu tun, außer mich in meinen Gedanken zu verlieren.

Ich musste wohl wieder eingenickt sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, kam mir die Umgebung vage bekannt vor. Sofort setzte ich mich gerade auf, beobachtete die vorbeiziehenden Bäume und schluckte, als ich sie tatsächlich erkannte. Es war nicht mehr weit bis nachhause.

Verdrängte Aufregung und Angst mischten sich in meinen Venen und ließen mich keine Sekunde mehr entspannen. Mein Magen verkrampfte und mir wurde zeitweise so schlecht, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.

Ohne jegliche Vorwarnung hatte ich meine Familie verlassen, schon vor zweieinhalb Monaten. Sie mussten bemerkt haben, dass meine Kleidung fehlte, dass ich alles mitgenommen hatte. Aber auch, dass ich mein Handy zurückgelassen hatte. Und dass ich nicht mehr zurückgekommen war.

Bis heute.

Sie mussten sich solche Sorgen gemacht haben, vor allem meine Schwester, die mir mehr bedeutete, als ich manchmal zugeben wollte. Unser Band war so eng geworden, seit unsere Mutter gestorben war, doch ich hatte es nicht geschafft, ihr von meinen Problemen zu erzählen. Nur Delian wusste von allem, was mich belastete.

Viel zu schnell verging die restliche Zeit, viel zu schnell stand ich mitten in einem mir unbekannten Polizeirevier und musste mich zurückhalten, meine Arme nicht schützend um meinen Körper zu schlingen.

Eine junge Polizistin führte mich in einen separaten Raum und informierte mich, dass meine Schwester und mein Vater auf dem Weg seien. Ich nickte, nicht zu mehr imstande.

Und dann wartete ich. Setzte mich auf den Stuhl an der Wand, stand auf, lief herum, setzte mich wieder. Nichts fühlte sich richtig an. Nicht, bis ich wusste, was meine Familie jetzt von mir dachte. Ob ich sie enttäuscht hatte oder ob sie nur glücklich waren, dass ich wieder da war.

Die Tür öffnete sich und mein Blick schnellte hoch. Dort, wahrhaftig, stand sie, meine Schwester, und schlug sich die Hände vor den Mund.

Ich sprang von meinem Stuhl auf, blieb aber still stehen, unsicher, was sie wollte. Doch sie nahm mir nach einer Sekunde der Ungläubigkeit die Entscheidung ab, stürmte die paar Schritte auf mich zu und zog mich in eine feste Umarmung. Ich schlang die Arme um sie, merkte erst jetzt, wie sehr sie mir die vergangenen Monate gefehlt hatte.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich in ihre dunklen Haare, die Stimme ganz rau von unterdrückten Tränen. »Es tut mir so leid.«

Ihre Finger krallten sich in meine Schulterblätter und ich verdrängte den Gedanken an Lilith, der mich durchzuckte. »Halt die Klappe. Ich dich vermisst.«

Eine andere Gestalt betrat den Raum. Mein Vater stand in der Tür, die starken Arme vor der Brust verschränkt, die dunklen Augen auf mein Gesicht geheftet. Ich schluckte und wollte mich sanft von Cara lösen, um ihm gegenüber zu treten, doch sie hielt mich nur fester.

Mein Vater schüttelte den Kopf und kam langsam auf uns zu. »O Junge, was machst du nur?«

Dann schloss er uns beide in seine Arme und seufzte. Ich erstarrte eine Sekunde. Es war so unfassbar lange her, dass mein Vater mich umarmt hatte, dass ich mich kaum mehr daran erinnern konnte.

»Es tut mir leid«, wiederholte ich und presste die Augenlider zusammen, damit die Tränen nicht entweichen konnten. Ich wollte nicht weinen, nicht hier mitten auf dem Polizeirevier.

»Die Polizisten meinten, wir dürften dich gleich mitnehmen, aber dass du nochmal befragt wirst. Du sollst dich nur erstmal eine Runde ausruhen«, erklärte mein Vater mit seiner gewohnt sachlichen Stimme, drückte mich aber nochmal, bevor er Cara und mich losließ.

Auch meine Schwester löste sich langsam von mir, blieb aber dicht an meiner Seite stehen. Ihre Augen glitzerten verdächtigt und ich schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln, um ihr zu versichern, dass es mir gut ging. Den Umständen entsprechend.

»Dann lasst uns doch gehen«, sagte sie, als niemand sich bewegte.

Ich nickte und setzte mich mit ihr an meiner Seite in Bewegung. So ganz traute ich den Polizisten, die uns auf dem Weg nach draußen beobachteten, nicht, dass sie uns einfach gehen ließen. Erst als wir draußen an der frischen Luft standen und niemand uns aufgehalten hatte, atmete ich erleichtert auf.

Die Fahrt nach Hause war schweigsam. Ich sah meiner Familie an, dass sie mir tausend Fragen stellen wollten, aber nicht wussten, wie sie beginnen sollten. Vielleicht wollten sie mir noch Ruhe lassen.

Bei dem Mehrfamilienhaus, in dem wir seit Jahren wohnten, angekommen, nahm ich meinen Sachen, die im Kofferraum verstaut gewesen waren. Cara wollte nach meiner Sporttasche greifen, doch ich schüttelte den Kopf. Ich wollte die Sachen allein zurückbringen.

»Ich muss dir unbedingt etwas zeigen, wenn wir drinnen sind«, erzählte sie im Versuch, die Stimmung aufzuhellen. Ich spielte mit und hob erwartungsvoll die Augenbrauen. Wenn ich lange genug so tat, als ob, wurde es vielleicht irgendwann Wirklichkeit.

Cara grinste und hüpfte hinter unserem Vater die Treppen nach oben. Dieser schnaubte amüsiert und schüttelte den Kopf über seine jüngste Tochter.

Als unsere Haustür in meinem Blickfeld auftauchte, krampfte sich etwas in meiner Brust zusammen. Genau hier hatte ich gestanden vor zweieinhalb Monaten, hatte einen letzten Blick zurückgeworfen, bevor ich meinem Zuhause endgültig den Rücken gekehrt hatte. Wer hätte ahnen können, was alles passieren würde?

Cara hatte bemerkt, dass ich stehen geblieben war, und warf mir einen besorgten Blick zu.

»Ist schon okay«, sagte ich leise und setzte mich wieder in Bewegung. Wenn unsere Haustür mich so aus der Fassung bringen konnte, wie würde dann erst der Rest der Wohnung werden? Der Rest meines Lebens?

Mein Vater schloss die Tür auf und ließ uns in die Wohnung. Ich steuerte direkt auf mein Zimmer zu, versuchte die Bilder und Erinnerungen auszublenden, die mich ereilten. Ich war nicht bereit mich damit auseinanderzusetzen, wieder hier zu sein.

Dabei war in diesem Haus nie etwas Schlimmes passiert. Meine Mutter hatte es an einem Morgen verlassen und war nie zurückgekommen. Das Auto war stärker gewesen als ihr Fahrrad und ihre Knochen.

Ich war an einem Abend zu einer Party gegangen, war in Liliths Bett gelandet und schlussendlich in meinem, um zu weinen und mich selbst zu hassen.

Diese Wohnung war immer ein Rückzugsort gewesen, immer ein Zuhause. Bis ich abgehauen war, weil ich mich nach jemandem gesehnt hatte, den ich das letzte Mal vor sieben Jahren gesehen hatte.

Ich ließ meine Taschen auf den Boden fallen und war kurz davor, mich auf mein Bett zu werfen, als meine Schwester hinter mir mein Zimmer betrat.

»Du wolltest mir etwas zeigen, stimmt«, erinnerte ich mich und riss mich von meinem Zimmer los. Es sah aus wie damals, als ich es verlassen hatte. Sogar die Bettwäsche war die gleiche.

Cara nickte aufgeregt und trat zurück in den Flur. Nun doch gespannt folgte ich ihr hinaus.

»Ich wollte sie schon ewig, aber ich nie was gesagt. Und als du plötzlich weg warst, ging es uns allen so schlecht und ich habe Papa gefragt, ob ich sie nicht vielleicht haben könnte, und dann hat er sie mir einfach geschenkt. Er hat nicht mal lange gezögert«, plapperte sie drauf los und blieb vor der weiß lackierten Tür stehen, hinter der unsere älteren Schwestern früher geschlafen hatten. Das war Jahre her, seitdem war der Raum zu einem Gästezimmer umfunktioniert worden. Ich fragte mich, was sie wohl hier drin hatte.

»Beruhig dich«, sagte ich amüsiert und konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf meine Lippen schlich.

»Okay. Ich habe nur Angst, dass du sie nicht magst.« Unsicher biss sie sich auf die pinke Unterlippe, drehte sich dann aber um und öffnete die Tür. Sofort begann etwas dahinter zu zwitschern und als ich hinter ihr ins Zimmer lugte, sah ich einen großen Käfig auf dem Schreibtisch in der Ecke stehen.

Erstaunt trat ich näher und sah zwei Vögel, die auf Ästen im Käfig saßen. Das hatte ich ganz und gar nicht erwartet. »Du hast dir Wellensittiche gekauft?«

Eifrig nickte meine Schwester und trat näher an mich heran. Ihr angenehmer Geruch nach Rosen stieg mir in die Nase. »Genau. Sie heißen Blue und Green. Der blaue Wellensittich ist Green und der grüne ist Blue. Um die Leute zu verwirren.«

Die Namen waren so unerwartet, dass ich anfing zu lachen. Ja, das klang ganz nach Cara. »Das werde ich mir merken.«

Sie strahlte mich glücklich an und nickte. »Die beiden fressen mir inzwischen aus der Hand. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde. Aber an dich müssen sie sich jetzt erst einmal gewöhnen.«

»Ich hätte nicht geahnt, dass du Vögel so magst.« Ich schüttelte den Kopf und betrachtete dann, wie Green näher ans Gitter hüpfte und uns neugierig betrachtete.

»Ich hätte nicht geahnt, dass du abhaust«, antwortete meine Schwester und zwang meinen Blick damit zurück zu ihr.

»Ich ...«, begann ich automatisch, wusste aber nicht, wie ich den Satz beenden wollte.

»Schon okay.«

Ich wusste, dass es ganz und gar nicht okay war, konnte mich aber nicht dazu überwinden, es zu sagen. Irgendetwas zu sagen.

So wandten wir uns wieder dem Käfig zu und schauten den beiden Wellensittichen beim Klettern zu.

Gefühlte Stunden später war ich wieder in meinem Zimmer und ließ mich, mein Gepäck ignorierend, auf mein Bett fallen.

Wir hatten zusammen etwas gegessen und dabei kaum ein Wort gewechselt. Selten hatte sich eine Situation mit meiner Familie so unangenehm angefühlt. Würde es von jetzt an immer so sein? Würde mein Verschwinden immer zwischen uns stehen, bis ich es schaffte, mich den beiden gegenüber zu öffnen?

Es war irgendwann am Nachmittag, aber beim Kontakt mit meinem Bett wurde ich plötzlich todmüde. Kein Wunder, schließlich hatte ich letzte Nacht nicht geschlafen und auf der Fahrt hierher nur hin und wieder gedöst. Mein Körper schrie nach der verdienten Belohnung nach all der emotionalen Anstrengung der letzten Stunden.

Ich schloss schon die Augen, um an Ort und Stelle einzuschlafen, als es an meiner Tür klopfte. Brummend drehte ich mich auf den Rücken und rief die Person herein. Es war meine Schwester.

»Störe ich?«, fragte sie unsicher und blieb in der Tür stehen.

»Ist schon okay«, murmelte ich und setzte mich auf.

»Ich wollte nochmal mit dir reden.« Sie ließ sich neben mir im Schneidersitz auf das Bett sinken. Ihre Finger fanden sofort den Saum ihres hellbraunen Strickpullovers, mit dem sie spielen konnte.

»Was ist los?«, fragte ich sie leise, als ich den traurigen Tonfall hörte.

»Es ist nur ... Ich dich so vermisst, okay?« Als sie aufschaute, glänzten Tränen in ihren Augen. »Ich wusste nicht, wo du bist, wann du wiederkommst, ob ich dich verdammt nochmal je wiedersehen würde. Ich hatte so schreckliche Angst, dass du einfach verschwunden bist und ich dich nie wieder bei mir haben würde. I-Ich dachte, es ist wie bei Mama. Sie war plötzlich weg und ist nie wiedergekommen. Ohne Abschied.«

Jetzt weinte sie und ich musste mich zusammenreißen, um ihrem Beispiel nicht zu folgen. »Es tut mir leid, es tut mir so leid«, wiederholte ich mein Mantra von heute Morgen und schloss meine kleine Schwester fest in meine Arme.

Sie krallte sie an meinen Schultern fest und schluchzte hemmungslos in mein T-Shirt.

Schreckliche Schuldgefühle sammelten sich in mir, drückten auf meine Kehle und ließen das Atmen schwer werden. Ich hatte nicht daran gedacht, dass sie bei meinem Verschwinden an unsere Mutter denken würde. Keine Sekunde hatte ich daran gedacht und damit meiner Schwester entsetzliche Angst bereitet.

Ich hätte tot sein können und sie hätte es nicht gewusst. Ohne ein Wort gegangen wie unsere Mutter, als sie gestorben war.

Als ihr Weinen sich beruhigt hatte, strich ich meiner Schwester sanft die Haare aus dem Gesicht und schaute ihr fest in die geröteten Augen. »Ich hatte vor zurückzukommen, das musst du mir glauben. Ich wollte wiederkommen, aber ich musste einfach mal hier raus.«

»Aber- Aber dann kannst du doch mit uns reden. Dann kannst du uns doch sagen, dass du gehst.« Verständnislos schaute sie zu mir hoch und griff nach meiner Hand, um sie fest zu drücken. »Jeder braucht mal eine Auszeit.«

»Natürlich, i-ich weiß. Aber ich wollte nicht, dass irgendjemand weiß, wo ich bin.« Ich wusste, meine Argumente waren schwach, aber ich konnte und wollte mich nicht in meinen emotionalen Zustand von vor zweieinhalb Monaten zurückerinnern. Es fühlte sich an, als wären seitdem Jahre vergangen.

»Aber wo warst du denn? Warum warst du am anderen Ende des Landes?«

Die Polizei hatte meiner Familie wohl nur die nötigsten Informationen gegeben, wenn meine Schwester nur das wusste. Oder sie wollte es von mir selbst hören.

»Ich war bei Delian«, antwortete ich leise, als würde das alles erklären.

»Wer ist Delian?«, fragte Cara, nun mit weicherer Stimme.

Ich schaute ihr in die großen braunen Augen und wusste, dass das der Moment war. Jetzt musste ich es ihr sagen, musste offenbaren, wer Delian für mich war, wer ich war. Jetzt musste ich mich outen.

Ich drehte den Kopf zur Seite. Ich konnte das nicht.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Cara mich weiter neugierig musterte und irgendwann enttäuscht den Kopf senkte. Es fühlte sich nicht richtig an, ihr nichts zu erzählen. Neben Delian stand ich meiner Schwester am nächsten.

»Vielleicht zeige ich dir morgen ein Bild«, sagte ich. Ich war mir im Klaren darüber, dass das Bild einem Outing beinahe gleichkommen würde. Es war das Foto, das Delian von uns beiden im Gartenhaus gemacht hatte. Wir sahen darauf viel zu vertraut aus, um bloß Freunde zu sein.

Ich hatte ihn gebeten, es mir auszudrucken.Jetzt steckte es in der Außentasche meines Rucksacks. Es war das Einzige, das ich noch von ihm hatte.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top