Kapitel 24.1
»Was möchtest du nach der Schule machen?«, fragte mich Amaliel, als wir uns eines Abends bei mir auf dem Boden gegenübersaßen. Mein Vater schaute unten im Wohnzimmer Fernsehen und meine Mutter war noch nicht zuhause, also mussten wir nicht flüstern.
Er hatte am Mittag geduscht und war danach nicht mehr nach unten gekommen. Als ich ihn suchen ging, hatte er in meinem Zimmer auf meinem Bett gesessen und Wolken beobachtet.
»Haben wir darüber nicht schon an unserem ersten Tag geredet?« Ich drehte meinen Kopf zu ihm.
»An unserem zweiten«, korrigierte er lächelnd. »Waren wir damals schon ehrlich zueinander?«
»Ich habe es versucht. Aber es war anders«, antwortete ich nach einigen Momenten der Stille. »Aber ich weiß wirklich nicht, was ich machen möchte. Bei meiner Oma zu arbeiten ist vielleicht eine Übergangslösung, auch wenn ich es mag. Aber was möchtest du machen? Was möchtest du arbeiten?«, fuhr ich fort, bevor er etwas erwidern konnte. Ich hatte keine große Lust, über mich zu reden.
»Ich arbeite schon. Bei meinem Vater.«
»Lagerlogistik? Das ist nicht das, was du machen willst, Amaliel. Das weiß ich.«
Seine Mundwinkel hoben sich kurz. »Nein, das ist es nicht.« Er verstummte, ließ den Blick durch den Raum gleiten. »Ich mag Wolken.«
»Ich weiß.«
»Aber ich weiß nicht, ob ich sie so sehr mag, dass ich in so einem Themenfeld arbeiten will. Ich kann das Wort nicht mal aussprechen. Scheiß Stottern.« Er schnaubte genervt und schüttelte den Kopf.
»Welches Wort?« Ich musste ihn fragen und er wusste es.
Gequält verzog er das Gesicht und rollte mit den Augen. »Meteorologie«, sagte er schließlich langsam und mit konzentriertem Gesichtsausdruck.
»Geht doch«, meinte ich mit einem Grinsen und veränderte meine Sitzposition, weil mein linkes Bein unangenehm zu kribbeln begann.
»Das Thema ist so interessant, weißt du«, begann er und beugte sich leicht nach vorne. »Du befasst dich ja nicht nur mit Wolken, sondern mit dem gesamten Klima, mit Wüsten und Gletschern und Winden. Es gibt nur ein Problem: Ich hab kein Abi. Und man kann das nur studieren, es gibt keine Ausbildung. Also muss ich mir etwas anderes suchen.«
Amaliels Tonfall schien endgültig und ich wollte ihn zu nichts drängen, deswegen nickte ich widerstrebend und ließ das Thema fallen. Ich hoffte inständig, dass er sich irgendwann nochmal Gedanken darüber machen würde, denn die Meteorologie schien ihn wirklich zu begeistern.
»Können wir schlafen gehen?«, fragte er leise und unterdrückte ein Gähnen.
»Ich muss noch Zähneputzen«, murmelte ich und spürte, wie ich plötzlich viel müder wurde. Amaliel war ansteckend.
Leise verließ ich mein Zimmer und lauschte auf die Geräusche, die nach oben drangen. Nur die Krimiserie meines Vaters war zu hören.
Auf dem Rückweg vom Bad beugte ich mich über die Brüstung und wünschte ihm eine gute Nacht. Er lächelte mir zu und wandte sich dann wieder zum Fernseher um.
Amaliel hatte sich schon auf mein Bett gesetzt, genau unter das geöffnete Fenster, durch das angenehm kühle Nachtluft strömte. Ich sah ihm an, dass er am liebsten noch eine Weile nach draußen gegangen wäre.
Für ein paar Sekunden stellte ich mich hinter ihn und genoss die erfrischende Brise, die ins Zimmer geweht wurde. Dann ließ ich langsam den Rollladen nach unten, aber so, dass noch ein guter Streifen frei blieb.
»Kannst du ... kannst du dich heute hinter mich legen?«, fragte Amaliel leise, als ich mich zu ihm legen wollte. Ich bemerkte, wie er eine Hand in die dünne Bettdecke krallte.
»Warum?« Bis jetzt hatte immer er mich von hinten gehalten, bis auf das eine mal am Todestag seiner Mutter im Gartenhaus. Ich hatte die ganze Zeit darauf geachtet, ihn nicht am Bauch oder an den Hüften zu berühren, damit die Erinnerungen nicht hochkamen und ihn überwältigten. Aber würde ich ihn nicht genau dort berühren müssen, wenn ich ihn so umarmte wie er sonst mich?
»Ich will deine Nähe.« Amaliel schien nervöser zu werden, weswegen ich sanft meine Hand auf seine legte. »Es hat doch schon mal geklappt.«
»Ich will nur nicht, dass du dich zu etwas zwingst«, gab ich zu, bevor ich über ihn stieg und mich an die Wandseite legte. »Aber wenn du es wirklich willst, ist es okay.«
»Sonst hätte ich nicht gefragt.« Schwach sah ich das Lächeln auf seinen Zügen, als er näher an mich heranrückte und meine Lippen küsste. »Du fühlst dich nach Geborgenheit an, Delian.«
Mir fielen keine Worte ein, die ich antworten konnte, so küsste ich ihn einfach zurück, um das warme Glücksgefühl in mir zu kompensieren.
»Gute Nacht, Mali«, flüsterte ich gegen seine Haut, als er sich an mich kuschelte. Ich legte einen Arm um seinen Oberkörper und lächelte, als er sich nicht versteifte, sondern entspannt neben mir liegen blieb.
Es war definitiv ungewohnt, dass Amaliel in meinen Armen lag und nicht ich in seinen. Seine Haare kitzelten mein Kinn und ich wagte die erste Zeit kaum zu atmen, aber je mehr Minuten vergingen, desto mehr entspannte ich mich. Ich schloss die Augen und schlief ein.
{☆}
Ich wusste, dass wir einen verdammt großen Fehler gemacht hatten, als ich durch das Öffnen meiner Tür aus dem Schlaf hochfuhr und in das überraschte Gesicht meiner Mutter blickte.
Vor Schreck riss ich die Augen auf und zog ich Amaliel enger an mich. Mit einem schnellen Blick stellte ich fest, dass er wohl nicht aufgewacht war.
Nein, nein, nein, das durfte nicht passieren, das musste ein Traum sein. Sie konnte nicht hier in meinem Zimmer stehen.
Alles Blut schien aus meinen Venen in mein Herz zu schießen, das nun doppelt so schnell schlug wie normalerweise. Mein müdes Gehirn sprang zwischen verschiedenen Erklärungsansätzen für diese Situation hin und her, konnte sich aber auf nichts festlegen.
Meine Mutter war wie ich in eine Art Schockstarre verfallen, aus der sie sich langsam wieder löste. Mit einer Hand hielt sie sich am Türrahmen fest, während ihr Blick ein paar Mal zwischen Amaliel und mir hin und her wanderte. Beim Blick in meine geweiteten Augen wurde ihr Gesichtsausdruck weicher.
»Ich mache uns Frühstück. Bring ihn mit runter«, flüsterte sie schließlich und lächelte zaghaft.
Ich war zu nichts anderem zustande als einem schwachen Nicken.
»Warte«, rief ich, als sie sich schon umdrehte. »Ist Papa auch da?« Der Gedanke, ihm gleich gegenüber zu sitzen, ließ ein unangenehmes Gefühl in mir aufsteigen.
»Nein. Nur wir drei.« Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich schloss erleichtert die Augen, während sie mein Zimmer verließ. Beim Geräusch der sich schließenden Tür regte sich Amaliel in meinen Armen und ich erstarrte wieder.
War er die ganze Zeit wach gewesen und hatte sich nur nichts anmerken lassen oder hatte ihn erst die Tür geweckt?
»Es ist zu früh am Morgen«, war das Erste, was er anmerkte. Er gähnte herzhaft. Erst dann schaute er zu mir hoch und seine schlaftrunkenen Augen wurden sofort wacher. »Was ist los?«
Hektisch sah er sich nach allen Seiten um und rutschte dabei aus meinen Armen. Meine Finger krümmten sich, wollten nach ihm greifen und ihn halten. Ihn hier verstecken und vergessen, dass meine Mutter uns gesehen hatte.
»Wir hätten das nicht tun sollen«, flüsterte ich und starrte auf die Tür.
»Delian.« Amaliels Stimme war ernst und er griff nach meinen Oberarmen, während er sich ein Stück weit aufrichtete. »Wer hat uns gesehen?«
»Meine Mutter.« Ich zwang meinen Blick zurück zu seinem Gesicht in der Hoffnung, dass es mich beruhigen würde. »Sie macht Frühstück für uns.«
»Scheiße.« Geschlagen schloss er die Augen und ließ seinen Kopf in den Nacken fallen.
»Es ist okay«, erwiderte ich und spürte, wie das Leben zurück in meine Glieder kam. »Es ist okay. Es ist nur meine Mutter, sie wird uns akzeptieren, das weiß ich. Mein Vater ist nicht da. Es wird okay.«
»Das hätte nicht passieren dürfen.« Es schien, als hätten wir die Rollen getauscht; während ich wieder rational zu denken begann, spielten sich hinter Amaliels hellen Augen Horrorszenarien ab.
»Lass uns aufstehen, uns anziehen und nachdenken. Schaffst du das?«, fragte ich ihn.
Langsam setzte er sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und schüttelte schwerfällig den Kopf. »Ich hab nichts anderes zum Anziehen hier.«
Ich ließ meinen Blick kurz an ihm heruntergleiten, registrierte seine graue Jogginghose und das weiße, zerknitterte T-Shirt. »Es wird schon gehen.«
Ich strampelte die Bettdecke weg, die sich um meine Beine gewickelt hatte, und setzte mich neben ihn auf den Rand des Bettes. »Ich gehe mich schnell anziehen und dann denken wir uns etwas aus, okay?«
Ein Nicken. Ich strich mit meinen Fingern sanft über seinen Unterarm, bevor ich aufstand und mir Anziehsachen suchte.
Ich zog mich so schnell wie möglich im Bad um, damit ich Amaliel nicht allzu lange allein lassen musste und mir selbst nicht zu viele Gedanken im Kopf kreisen konnten.
Als ich in mein Zimmer zurückkam, war Amaliel aufgestanden und lief unruhig auf und ab. Seine Augen fanden meine sofort. Ich schloss sanft die Tür hinter mir.
»Was sollen wir tun?«, fragte Amaliel und trat zwei Schritte auf mich zu.
»Ruhig bleiben erstmal.« Ich legte meine Hände auf seine Oberarme und schaute ihm fest in die Augen. »Sie kennt dich nicht, Mali. Sie wird dich nicht erkennen, okay?«
Er zögerte, nickte dann aber. »Okay.«
»Wir brauchen eine Geschichte. Sie wird danach fragen, wie wir uns kennengelernt haben und so weiter«, fuhr ich fort. Amaliel legte seine Arme um meinen Körper und zog mich näher zu sich.
»Hast du eine Idee?«, fragte er. Ich hatte das Gefühl, dass er tatsächlich ruhiger wurde.
»Ich habe mir überlegt ... An Silvester war ich auf dieser Neujahrsparty, ich habe dir doch davon erzählt.«
Er nickte bedächtig und hörte mir weiter aufmerksam zu.
»Also, die Geschichte geht so: Wir haben uns auf dieser Party kennengelernt. Da waren genug Menschen, das hätte gut passieren können. Ich bin früher gegangen als Alex und Malte, und du hast mich nach Hause gebracht. Wir haben uns gut verstanden und in den Pfingstferien, während meine Eltern nicht da waren ...« Ich stockte, wusste nicht, ob ich den nächsten Part wirklich sagen wollte. Amaliel schaute mich fragend an und ich schluckte. »In den Pfingstferien sind wir dann zusammengekommen.«
Unsicher flog mein Blick zwischen seinen Augen umher. Jetzt wäre es mir lieber, nicht in seinen Armen zu sein, denn so konnte ich mich nicht von ihm wegdrehen.
»Okay«, antwortete Amaliel mit einem Lächeln und küsste mich sanft auf die Wange. Er blieb zu mir heruntergebeugt, seine Wange lag an meiner. »Ich wäre gerne mit dir zusammen, wenn es das ist, was dir Sorgen bereitet.«
Mein Herz schlug so laut in meiner Brust, dass er es hören musste, und mein ganzer Körper wurde heiß. Wir hatten nie darüber geredet, ich hatte nicht gewusst, was unser Beziehungsstatus war, und das war okay gewesen. Aber diesen Satz aus seinem Mund zu hören, löste eine Welle an Gefühlen in mir aus, die mich überwältigte.
»Ich auch mit dir«, brachte ich mit Mühe heraus, bevor die Glücksgefühle sich wieder in den Vordergrund drängten und ich mit beiden Händen nach seinem Gesicht griff und ihn auf den Mund küsste. Amaliel lächelte gegen meine Lippen, bevor er sich sanft löste.
»Danke, dass du nicht sofort angenommen hast, dass wir in einer Beziehung sind, nur weil wir uns geküsst haben«, flüsterte er, bevor er mich gänzlich losließ.
Kurz war ich verwirrt von seiner Aussage, bis mir einer seiner Briefe wieder einfiel. Lilith hatte ihn nie gefragt, sondern sie sofort als Pärchen betitelt, auch wenn es sich für Amaliel noch nicht so angefühlt hatte.
»Immer, Amaliel«, erwiderte ich mit einem Lächeln. »Hast du noch Fragen? Sonst würde ich jetzt nach unten gehen. Wir können meine Mutter nicht ewig warten lassen.«
Schon sah ich die Unsicherheit in seine Augen wieder und er spannte den Kiefer an. »Wir müssen, oder?«
»Ich verspreche dir, es wird okay. Ich kenne meine Mutter.« Meine eigene Aufregung kehrte zurück und ruinierte mein aufmunterndes Lächeln.
»Eigentlich solltest du mehr Angst haben als ich, Eli. Es ist dein Outing vor einem Teil deiner Familie. Nicht meins. Mich kennt sie nicht.« Er hob eine Hand an meine Wange, gab mir Kraft.
»Wenn sie etwas gegen mich hätte, dann hätte sie es vorhin schon gesagt«, versuchte ich ihm und mir einzureden. Es stimmte, doch mein viel zu schnell klopfendes Herz und meine schweißnassen Finger zeugten davon, dass ich meinen eigenen Worten nicht glauben konnte.
»Lass es uns hinter uns bringen«, beschloss Amaliel und umschloss meine Finger fest mit seinen, bewegte sich aber kein Stück von der Stelle.
»Okay.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, aber ich schaffte es, meine Hand auf die Klinke zu legen, die Tür zu öffnen und hindurchzutreten. Amaliel folgte mir auf den Fuß.
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