Kapitel 22

»Habe ich dir je erzählt, dass die Polizei mal wegen mir kommen musste?«, fragte Amaliel, als er sich an die Arbeitsplatte lehnte, während ich die Spülmaschine ausräumte.

»Nein. Will ich die Geschichte hören?«, fragte ich mit kritischem Blick und räumte einige Teller in den Schrank neben mir.

»Sicher. Ich bin extra dafür hergekommen. Deswegen habe ich weniger Briefe an dich geschrieben, weißt du? Damit ich genau für Situationen wie diese noch Geschichten zu erzählen habe.«

»Dann fang an, ich bin ganz Ohr.« Er öffnete gerade den Mund, da unterbrach ich ihn schon: »Du könntest dich in der Zeit auch nützlich machen und diese Tassen in den Schrank räumen. Inzwischen müsstest du wissen, wo sie hingehören.«

Widerwillig nahm er die Tassen, die ich vor mir auf der Arbeitsplatte abgestellt hatte, in die Hand und ging zwei Schritte weiter, um sie in den Schrank zu stellen.

»Es ist lustig, ich verspreche es dir.« Er grinste bei der Erinnerung. »Okay, es war so: Ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt und bei meiner Oma zu Besuch. Allein. Meine Schwestern waren irgendwo anders. Jedenfalls ... habe ich mich im Keller vor ihr versteckt, weil ich dachte, es wäre lustig, wenn sie mich nicht finden würde. Das Problem war nur, dass ich aus ihrer Sicht verschwunden war und sie nach einer Stunde, in der sie mich nicht gefunden hat, die Polizei gerufen hat. Die haben mich dann gefunden.«

Sein Grinsen war während der Erzählung immer breiter geworden, er schien stolz auf diese Leistung zu sein.

Ich schüttelte den Kopf und merkte, dass ich aufgehört hatte, die Spülmaschine auszuräumen. »In keinem Leben hast du es eine Stunde allein in einem Keller ausgehalten.«

»Es ist wahr. Es stand sogar mit einem kleinen Artikel in der Zeitung. Meine Eltern haben ihn aufgehoben.«

»Wenn du wieder zuhause bist, musst du mir ein Bild davon schicken. Dann glaube ich dir vielleicht.« Drohend zeigte ich mit einem Pfannwender auf ihn, wohlwissend dass ich gerade das Thema angeschnitten hatte, das wir im Stillen beschlossen hatten, nicht mehr zu erwähnen.

Amaliel ging nicht weiter darauf ein, sondern fasste sich gespielt verletzt ans Herz. »Es enttäuscht mich, dass du so wenig Vertrauen in mich besitzt.«

Meine Antwort war ein Augenrollen, bevor ich die letzten Sachen aus der Spülmaschine in den Schränken verstaute. Arme legten sich federleicht um meine Mitte und zogen mich an einen langen Körper. Ohne nachzudenken lehnte ich mich sanft an Amaliel.

»Was willst du?«, fragte ich leise. »Warum bist du wirklich hier?«

»Die wahre Frage ist doch«, antwortete er nah an meinem Ohr, »warum du mich so gut kennst.«

Er drückte mir einen Kuss auf die Wange, bevor er mich losließ und ins Esszimmer lief. Ich folgte ihm, ließ den Stapel dreckiges Geschirr zurück, der noch eingeräumt werden wollte.

»Was ist los?«, wollte ich von ihm wissen, als wir uns gegenübersaßen und er weiter schwieg. Ich hatte eine Vorahnung, in welche Richtung sich das Gespräch wenden sollte, wollte aber warten, bis er etwas dazu sagte.

Amaliel blickte noch einige Sekunden durch die großen Fenster nach draußen, bevor er seufzte und sich mir zuwendete, die Arme vor der Brust verschränkt. »Wie hast du es herausgefunden? Das Ganze mit deiner Sexualität und so.« Er biss sich auf die Innenseite der Wange und senkte den Blick auf die Maserung des Tischs.

Ich hatte Recht behalten. »Ich habe dir schon davon erzählt.«

»Ich weiß, aber ...« Er legte sich eine Hand über die Augen, atmete ein paar Mal tief durch. »Du hast das Äußere erzählt, mit dem Typen aus der Stufe über dir, den du so interessant fandest. Wie sich alles langsam zusammengefügt hat. Aber du hast nicht erzählt, wie es sich in dir angefühlt hat, wie du es nicht wahrhaben wolltest. All das.« Hilflos zuckte er mit den Schultern.

Mein Herz wurde schwer bei seinem Anblick. »Ich wusste nicht, dass es dir auch so geht. Dass du das auch durchmachst.«

Ich verurteilte ihn nicht, weil er mir nichts von seinen Gefühlen, seinen Gedanken erzählt hatte. Jeder ging anders damit um und mir war bewusst, dass er noch nie so offen wie ich mit seinen Gefühlen gewesen war. Stattdessen wünschte ich, ich hätte vielleicht früher erkannt, dass er ähnlich fühlte wie ich, dass er nicht heterosexuell war. Aber wie sollte ich das über Briefe, wenn er es sich doch selbst nicht einmal eingestand?

»Ich habe es verdrängt, denke ich. Dass da etwas anders an mir sein könnte, dass ich nicht so normal bin, wie ich dachte.«

»Sag das so nicht«, unterbrach ich ihn. »Das mit dem Normal. So klingt Homosexualität unnormal.«

»Oh, stimmt. 'Tschuldigung.« Er wirkte ehrlich betroffen, deswegen griff ich nach seiner Hand und lächelte.

»Aber glaub mir, Mali, ich habe die Phase auch durchgemacht. Wie sicherlich fast jeder. Wenn du merkst, dass du ... von der Norm abweichst, von dem, was alle Menschen um dich herum anscheinend sind, dann ist das ... beängstigend? Für mich war es das. Ich hatte eigentlich keine Ahnung, wie mein Umfeld dem gegenüber denkt.«

»Und ich war der Erste, der davon erfahren hat«, fügte Amaliel leise hinzu.

»Ja. Ich schätze, weil es einfacher ist, wenn man die Zeit hat, alles in einem Brief zu verfassen und wirklich nachzudenken. Und es ist einfacher, weil es nicht persönlich ist, weil ich dachte, wir werden uns doch sowieso nie sehen. Und jetzt – ein Dreivierteljahr später ...« Ich deutete wage auf uns.

Amaliel musste lächeln, wurde aber wieder ernst. »Hast du mich damals schon gemocht?«

Seine Frage traf mich so unerwartet, dass ich den Blick abwandte und mir auf die Wange biss. »Ja.«

Diesmal blieb sein Lächeln länger. »Und ich kann dir nicht mal sagen, ab wann ich dich gemocht habe, weil ich nicht weiß, wann ich angefangen habe, alles zu dem Thema zu verdrängen.«

»Ist es wichtig?«, fragte ich. »Ich weiß auch nicht, wann meine Gefühle angefangen haben. Aber im realen Leben ist es nochmal ganz anders als über Briefe, deswegen würde ich die Zeit kaum zählen. Weißt du, was ich meine?«

Amaliel nickte, sein nachdenklicher Blick glitt wieder an mir vorbei nach draußen. »Ich frage mich nur ... wie. Wie man herausfindet, wer man ist.«

Auch wenn er es nicht aussprach, wusste ich, was er meinte. Jetzt, da er akzeptiert zu haben schien, dass er nicht heterosexuell war, sehnte er sich nach einer Definition für das, was er dachte. Dafür, zu welchen Menschen er sich hingezogen fühlte.

»Ich kann dir bei deiner Selbstfindung nicht helfen, das musst du allein mit dir und deinem Inneren ausmachen. Das hat niemand anderen etwas zu interessieren.«

»Ich weiß.« Er stieß die Luft aus seinen Lungen aus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es fühlt sich komisch an.«

»O ja, das kann ich verstehen. Das war bei mir auch so. Und dann habe ich im Internet nach allen möglichen Sexualitäten gesucht, weil ich nicht sicher war, ob ich wirklich schwul bin oder vielleicht etwas anderes.«

Amaliel öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Ich konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. »Kannst du mir dabei helfen?«

»Das solltest du alleine machen«, antwortete ich zögernd, hatte ich ihm doch gerade erst gesagt, dass ich ihm nicht helfen konnte.

»Ja, aber ... ich habe keine Ahnung. Was ... was für Optionen ich habe?« Er wurde immer unruhiger, konnte seinen Blick gar nicht mehr auf mich fokussieren. Es bedeutete mir viel, dass er mit mir darüber reden wollte, obwohl es ihm so unangenehm zu sein schien.

»Oh. Ja, klar. Da kann ich helfen.« Ich räusperte mich und setzte mich auf meinem Stuhl auf. »Welche Sexualitäten kennst du denn schon?«

»Naja, die üblichen schätze ich. Schwul, lesbisch – das bin ich ja auf alle Fälle nicht –, bisexuell. Und vielleicht habe ich noch von anderen gehört, aber ich weiß nicht, was sie bedeuten. Ich meine, was soll es sonst noch Verschiedenes geben? Entweder man mag das andere Geschlecht oder das gleiche oder beide.« Unbeholfen zuckte er mit den Schultern. »Aber allein LGBTQ hat schon mehr Buchstaben.«

»Da hast du recht. Aber die Abkürzung umfasst zum Beispiel auch Geschlechtsidentitäten und andere Aspekte, nicht nur, zu wem du dich hingezogen fühlst.« Für einige Sekunden ließ ich meinen Blick nach draußen schweifen, während ich mir meine nächsten Worte zurechtlegte. »Pansexualität ist vielleicht die nächstbekannte Sexualität nach denen, die du aufgezählt hast. Sie ist nicht so leicht zu definieren wie die anderen und jeder muss das für sich selbst entscheiden. Wenn du pan bist, fühlst du dich – grob gesagt – zu Menschen hingezogen, nicht zu bestimmten Geschlechtern. Das ist nebensächlich. Du verliebst dich in Menschen.«

»Das klingt schön«, murmelte Amaliel. Er hatte sich nach vorne gelehnt und das Kinn auf seinen Händen abgestützt. »Es würde zu dir passen.«

Ich musste lachen. »Meinst du?«

»Ich meine, ich weiß, dass es nicht stimmt und dass man so nicht die Sexualität einer anderen Person bestimmen sollte. Aber du ... Deine Persönlichkeit passt zu der Sexualität. Ergibt das Sinn?«

»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.« Ich wartete kurz, ob Amaliel noch etwas fragen wollte, bevor ich weitersprach. »Dann gibt es noch queer. Und das ist noch schwerer zu beschreiben, weil es eigentlich ein Sammelbegriff für alles ist. Aber du kannst dich auch als queer definieren.«

Amaliel nickte langsam. »Das musst du mir schon etwas genauer erklären.«

»Queer ist zum Beispiel für Personen, die ihre Sexualität nicht genau definieren wollen oder keinen anderen Begriff als passend empfinden. Du kannst dich aber auch als queer bezeichnen, wenn du weißt, dass du zum Beispiel nicht heterosexuell bist, aber noch nicht weißt, welches Label auf dich und dein Empfinden zutrifft.« Nervös spielte ich mit meinen Fingern und beobachtete Amaliels Reaktion. Ich war in keiner Weise ein Experte auf diesem Gebiet und hoffte, dass meine Erklärungen verständlich waren.

Amaliel schien weiter in Gedanken versunken, es schien, als überprüfte er sofort, inwiefern das alles auf ihn zutraf. »Das ist ... interessant. Ich wusste nicht, dass es nicht für alle Sexualitäten eine genaue Definition gibt.«

»Ich auch nicht. Aber es ist schön, findest du nicht? Niemand muss sich fest einem Label zuschreiben und man kann es auch ändern, wenn einem auffällt, dass es doch nicht passt. Außerdem gibt es noch viel mehr Microlabels, die ich alle gar nicht kenne und die nochmal winzige Unterscheidungen machen.«

»Das passt auch. Ich glaube, das reicht erstmal.« Amaliel lächelte und griff nach der Wasserflasche, die auf dem Tisch steht, um daraus zu trinken.

»Die musst du jetzt aber auch leertrinken«, ermahnte ich ihn. »Wenn du willst, kann ich dir aber auch noch etwas zum asexuellen Spektrum erzählen. Das hat ... weniger mit Geschlechtern zu tun, sondern mehr mit dem Sex direkt.«

Mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete ich, wie Amaliel langsam die Flasche wieder absetzte und sich die Wassertropfen von der Lippe wischte. Ich wusste, dass er bei diesem Thema empfindlicher war, deswegen hatte ich damit gewartet, um herauszufinden, ob er sich darauf einlassen würde.

»Erzähl«, antwortete er schließlich und setzte sich aufrecht in seinem Stuhl hin, die Augen auf mich gerichtet.

»Nun, asexuell bedeutet in etwa, dass du keine sexuelle Anziehung verspürst oder einfach kein Verlangen nach Sex hast.« Ich musste mich räuspern und setzte erst nach einigen Sekunden der Stille wieder mit Reden ein. »Demisexuelle Menschen empfinden sexuelle Anziehung erst dann, wenn sie eine tiefere emotionale Bindung zu jemand anderem verspüren.«

Amaliels ruhige Haltung veränderte sich, er verschränkte erst die Arme vor der Brust und vergrub dann das Gesicht in den Händen. Alles in mir schrie danach, zu ihm zu gehen, ihn zu berühren und zu beruhigen, doch ich zwang mich sitzen zu bleiben. Zu groß war die Angst, dass er vor mir zurückschrecken würde.

»Das ...«, begann er leise, brach dann ab und schüttelte den Kopf, der immer noch in seinen Händen lag.

Das passt zu mir. Die ungesagten Worte schwebten zwischen uns und ich hörte sie so klar, als hätte er sie ausgesprochen.

Jetzt erhob ich mich doch und trat in zwei schnellen Schritten um den Tisch. Ich beugte mich zu ihm und legte einen Arm um seine Schultern. Zu meiner Erleichterung zuckte er nicht zurück, sondern lehnte sich kaum merklich in meine Berührung.

»Es braucht Zeit«, flüsterte ich, erinnerte mich an meine eigene Phase der Selbstfindung. »Das reicht für heute.«

Amaliel nickte und hob den Kopf, bis er mir in die Augen blickte. Er hatte nicht geweint, doch seine Augen waren rot und groß.

»Danke«, murmelte er, immer wieder. Dann streckte er sich mir entgegen und zog mich in einen tiefen, langen Kuss.

»Immer wieder, Mali, immer wieder«, hauchte ich gegen seine Lippen, die sich inzwischen viel zu vertraut an meinen anfühlten. »Lass dir Zeit, denk darüber nach, aber nicht zu viel. Sonst wirst du verrückt.«

Er lachte und es klang befreit. »Dann lenk mich ab.«

Damit küsste er mich und ließ uns alles um uns herum vergessen.

{☆}

Es waren kaum fünf Minuten vergangen, seit Amaliel verschwunden war, als meine Eltern fast zeitgleich zuhause ankamen. Meine Mutter war noch einkaufen gewesen, weil wir nachher grillen wollten, wie sie mir mitteilte, während ich ihre Tasche auspackte.

Ich schluckte, als ich das ganze Fleisch sah. Heute würde ich nicht drum herumkommen, auch etwas davon zu essen. Zum Glück gab es auch einige vegetarische Spieße und einen Salat, den meine Mutter gerade zusammenstellte.

Als ich nicht mehr in der Küche gebraucht wurde, ging ich nach draußen in den Garten. Es ergab Sinn, dass wir heute grillen wollten. Heute war der erste halbwegs warme Tag seit den letzten verregneten und zudem waren wir ausnahmsweise alle drei zuhause.

Erst als ich meinen Vater auf das Gartenhaus zugehen sah, bemerkte ich meinen Fehler. Grillen. Wir wollten grillen und der Grill war im Gartenhaus. Genau wie Amaliel.

Der Schreck schoss mir in die Glieder und ließ mich erstarren, doch schon im nächsten Moment rannte ich los, auf meinen Vater zu. »Ich kann das machen«, rief ich, vielleicht etwas zu atemlos.

Verwirrt drehte mein Vater sich um und hob fragend eine dunkle Augenbraue, nur zwei Schritte von der Tür entfernt. Wir müssten in Amaliels Hörweite sein.

Ich lächelte ihn höflich an und hoffte, dass er nicht weiter nachfragen würde, ich wusste nämlich nicht, ob mir auf die Schnelle ein schlauer Grund für meine Hilfsbereitschaft einfallen würde.

»Wenn du meinst«, brummte er schulterzuckend und drückte mir den kleinen silbernen Schlüssel für das Gartenhaus in die Hand.

»Gerne.« Das Lächeln fiel mir vom Gesicht, sobald er sich von mir weggedreht hatte und zurück zum Haus ging. Meine Finger zitterten so sehr, dass ich das Schloss erst beim dritten Versuch traf. Die Tür knarzte leise, als ich sie öffnete und ins Innere lugte.

Auf den ersten Blick schien alles normal. Amaliel war nicht zu sehen, genau wie seine Sachen. »Mali«, flüsterte ich, als ich einen Schritt in den Raum trat, immer noch ängstlich, dass mein Vater mich hören könnte.

»Bin da«, antwortete er irgendwo hinter dem großen Regal. »Scheiße, ich hatte echt Schiss, dass dein Vater mich gleich entdeckt.«

»Ich auch. Das kannst du nicht glauben.« Mein Atem fühlte sich immer noch ungewöhnlich schwer an, als ich einen Sack Blumenerde zur Seite schob, um an den runden Holzkohlegrill zu kommen.

Hatten wir wirklich gedacht, wir würden um Situationen wie diese herumkommen? Auch wenn meine Eltern kaum ins Gartenhaus kamen, war es doch manchmal der Fall. Und darauf hätten wir besser vorbereitet sein sollen.

»Wir müssen vorsichtiger sein«, flüsterte ich schweren Herzens in Amaliels Richtung, bevor ich den Grill hochhob. Wir sollten uns weniger treffen, war, was ich eigentlich sagte.

Meine Glieder protestierten, als ich das Gartenhaus verließ, als wollten sie sich nicht zu weit von Amaliel entfernen. Als könnte er verschwinden, wenn ich nicht mehr bei ihm war.

Mein Vater hatte begonnen, ein ruhiges Stück auf dem Flügel im Wohnzimmer zu spielen, während er auf mich wartete. Ich stellte den Grill auf dem Steinboden neben dem Haus ab und erlaubte mir, einige Momente die Augen zu schließen und seinem geübten Spiel zu lauschen.

Schon immer hatte seine Musik eine beruhigende Wirkung gehabt und als kleiner Junge war ich oft neben ihm gesessen und hatte ihm zugehört. Das war auch der Grund gewesen, warum ich damals so unbedingt Klavier spielen lernen wollte. Ich wollte so sein wie mein Vater.

Heute nicht mehr. Heute war ich älter, liebte meinen Vater immer noch, fürchtete mich aber davor, ihm irgendwann davon zu erzählen, dass ich schwul war. Fürchtete mich davor, dass sich etwas zwischen uns verändern würde.

Ich riss mich los von dem Gedanken und dem Musikstück, das noch immer in sanften Wellen vom Haus zu mir rollte, drehte mich um und lief zurück zum Gartenhaus, um die Kohlen zu holen.

»Spielst du mir auch mal wieder etwas vor?«, fragte Amaliel, als ich durch die Holztür trat. Ich konnte ihn immer noch nicht sehen.

Ein, zwei Sekunden blieb ich still und lauschte auf die Musik, die sogar bis hier zu hören war, wenn auch viel leiser. »Vielleicht. Aber wir müssen in Zukunft vorsichtiger sein«, wiederholte ich meine Worte von vorhin.

»Das werden wir.« In Amaliels Stimme schwang die Hoffnung mit, nach der ich mich sehnte.

Ich verließ das Gartenhaus wieder mit der Kohle und schloss hinter mir ab. Schloss Amaliel für den Rest des Tages im hintersten Teil meines Herzens ein.

{☆}

Ich hatte gewusst, dass ich nicht darum herumkommen würde, Fleisch essen zu müssen.

Meine Mutter wusste, dass ich am liebsten Vegetarier wäre, setzte sich aber nicht gegen meinen Vater durch, der immer noch meinte, dass Fleisch wichtig für mich sei. Inzwischen glaubte ich, dass sie sich ihm die ganzen Jahre über immer wieder untergeordnet hatte, um keinen Streit zu provozieren und das stressfreie Leben beizubehalten, das uns schon so lange begleitete.

Manchmal fragte ich mich, was wohl geschah, wenn ich irgendwann achtzehn wurde und von zuhause auszog. Ob sie dann trotzdem noch zusammenwohnen würden, obwohl sie sich nicht liebten, weil sie sich viel zu sehr daran gewöhnt hatten.

»Steak oder Wurst?«, fragte mein Vater, der plötzlich mit einem Teller in der Hand neben mir aufgetaucht war.

Ich blinzelte gegen die Sonne, die mir ins Gesicht schien, und hob meinen Blick zu seinem Gesicht. »Wurst.«

Ich biss die Zähne zusammen, als er mit seiner Grillzange eine Bratwurst auf meinen Teller beförderte, auf dem auch schon ein halber Grillkäse wartete. Die andere Hälfte lag bei meiner Mutter. Zum Glück gab es genügend Kartoffelbrei, mit dem ich den Geschmack vielleicht überdecken konnte.

»Willst du in den Ferien nicht mal etwas mit deinen Freunden unternehmen?«, begann meine Mutter das Gespräch, bevor sich eine unangenehme Stille über den Tisch legen konnte.

Ich musste ein Lachen unterdrücken. »Alex hat sich die Bänder im Fuß überdehnt und schmollt jetzt wahrscheinlich den Rest der Zeit, weil er weder Fußballspielen noch Reiten kann. Aber ja, vielleicht lässt er sich für etwas anderes motivieren.«

Alex hatte mich schwören lassen, niemandem zu verraten, dass er sich die Bänderdehnung beim Treppensteigen zugezogen hatte und nicht bei irgendeinem heldenhaften Fußballtrick oder Ähnlichem. Er schämte sich dafür, aber ich konnte nicht umhin, jedes Mal beim Gedanken daran grinsen zu müssen.

»O nein, richte ihm gute Besserung aus.«

»Werde ich machen. Malte ist die ganzen Ferien im Urlaub oder muss arbeiten, deswegen kann ich mit ihm auch nichts unternehmen.« Ich wollte das Thema so schnell wie möglich wieder beenden, wollte nicht zugeben, dass ich meine besten Freunde komplett vergessen hatte. Alles in mir hatte sich in der letzten Zeit so sehr auf Amaliel fokussiert, dass ich an nichts anderes mehr gedacht hatte. Aber das durften meine Eltern nicht wissen.

»Das könntest du doch auch machen. Dir eine Arbeit suchen, ein bisschen Geld verdienen. Das habe ich dir schon öfter gesagt«, warf mein Vater ein, der bis jetzt auf seinem Steak gekaut hatte.

»Ja, ich weiß. Aber ich habe nichts für mich gefunden.« Ich hatte kaum nach etwas geschaut, hatte mich nicht getraut, mir eine Stelle zu suchen. »Und für die Sommerferien finde ich jetzt eh nichts mehr. Ich kann ja immer bei Oma aushelfen.«

»Ich meine etwas Gescheites. Nicht Kuchenbacken«, erklärte mein Vater.

»Ich weiß.« Ich biss die Kiefer zusammen und starrte auf meinen Teller.

Den Rest des Essens schwebte schwere Stille über uns.


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