Kapitel 21

Amaliel

Ich wurde durch Delian wach, als er sich in meinen Armen bewegte. Müde blinzelte er gegen das Licht des frühen Morgens, unter dem ich schon so oft aufgewacht war.

»Warum ist es so hell?«, murrte Delian und legte sich einen Arm über die Augen.

»Weil die Sonne scheint, Schätzchen.« Ich wusste nicht, woher der neckende Spitzname kam, war aber froh, dass Delian nicht sehen konnte, wie ich rot wurde. »Man gewöhnt sich daran.«

»Du musst es wissen.« Er drehte sich zu mir um, den hellen Bezug der Decke eng um seine Schultern geschlungen. Für einen Moment wusste ich nichts zu erwidern, starrte in seine wunderschönen hellblauen Augen, die im Morgenlicht strahlten. Der braune Fleck, den Delian überhaupt nicht mochte, machte sie noch so besonderer und einzigartiger. Ich könnte sie stundenlang betrachten.

»Ist letzte Nacht wirklich passiert?«, fragte ich mit rauer Stimme. Fast schon ohne mein Zutun hob sich meine linke Hand und strich ihm seine dunklen Locken aus der Stirn.

»Komm darauf an, was du denkst, was passiert ist«, entgegnete er und verzog seine Lippen zu einem Lächeln. Die Lippen, die ich gestern geküsst hatte, wieder und wieder.

Anstelle einer Antwort beugte ich mich vor und küsste ihn sanft auf den Mund. Delians Körper reagierte sofort und drängte sich näher an mich. Ich lächelte in den Kuss hinein und vergrub meine Hand in seinen Haaren.

Es war erschreckend, wie leicht es mir fiel. Sobald das Eis gebrochen war, sobald ich ihn das erste Mal geküsst hatte, war es so einfach gewesen, es immer wieder zu tun.

Mein Mund schwebte wenige Millimeter über Delians, sodass wir uns gerade nicht küssten. Ich wartete auf den Moment, an dem die Situation anfing, sich falsch anzufühlen.

Er kam nicht.

»Was wäre, wenn ich Nein gesagt hätte? Dass das gestern nicht passiert ist.« Delian zog sich so weit zurück, dass er mir in die Augen schauen konnte. Eine seiner Hände hatte sich in das Gewirr meiner Haare geschlichen und zog sanft an einigen Strähnen.

»Dann würdest du lügen«, antwortete ich leichthin und zog ihn in einen erneuten Kuss. Ich konnte nicht mehr genug davon bekommen.

»Leider hast du damit recht«, murmelte er gegen meinen Mund.

Ich küsste ihn abermals, diesmal heftiger, leidenschaftlicher. Delian vergrub seine Hand tiefer in meinen Haaren und zog mich näher an sich. Ich hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Seit dem ersten viel zu frühen Kuss hatte ich die Erinnerung daran immer wieder in meinem Kopf wachgerufen und war in den letzten Tagen so oft kurz davor gewesen, dem Drang nachzugeben und Delian zu küssen.

Ich berührte seine Lippe mit meiner Zunge, vorsichtig zunächst, weil wir uns so intensiv noch nicht geküsst hatten, doch als Delian seinen Mund öffnete, nahm ich die Einladung an. Er stieß ein kleines, tiefes Geräusch aus, als unsere Zungen sich berührten, und, fuck, es fühlte sich so gut an.

Zu gut.

Ich wusste nicht, wie es passierte, wer sich zuerst bewegt hatte, doch plötzlich war Delian über mir und mein ganzer Körper versteifte sich. Plötzlich waren da nicht mehr Delians weiche Locken und die Wärme des Sommermorgens, sondern Alkoholgeschmack auf meinen Lippen und Fingernägel, die sich schmerzhaft in die Haut an meinen Hüften gruben. Ich schnappte nach Luft und musste würgen, als die Erinnerung in mir aufstieg, vor der ich mich das letzte halbe Jahr versteckt hatte.

Delian hatte das Verkrampfen meiner Muskeln sofort bemerkt und zog sich von mir zurück, bis wir uns nicht mehr berührten.

Die Erinnerungen verschwanden nicht zusammen mit dem Körperkontakt.

Ich zwang meinen zitternden Körper sich aufzusetzen, sich aus der liegenden Position zu befreien, Macht zu gewinnen, bis ich nicht mehr hilflos auf dem kalten Bett lag, Lilith über mir und ihre Lippen an meiner Haut.

Meine Fingernägel bohrten sich in meine Handflächen, der Schmerz sollte mich zurückholen, während ich meine Stirn gegen meine angewinkelten Knie drückte und verzweifelt die Panik zu unterdrücken versuchte, die mit jeder weiteren Sekunde in mir aufstieg.

»Fuck«, hauchte ich, die Stimme erstickt. Mit aller Kraft versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten. Es war alles so gut gewesen, der ganze Morgen war perfekt gewesen. »Fuck, fuck, fuck.«

Ich krallte meine Finger in meine Unterarme, wieder und wieder, hoffend, dass der körperliche Schmerz größer werden würde als der in meinem Innern.

»Mali«, hörte ich Delians Stimme. Sie klang so weit entfernt und gebrochen, dass ich sie zunächst kaum bemerkte. »Mali, hör auf. Hör auf, dir wehzutun.«

Ich sollte ihn nicht anschauen, wollte ihn am besten ignorieren und so tun, als sei er nicht da, aber ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da hob sich mein Kopf schon. Meine Augen trafen direkt auf seine. Eine Träne lief seine Wange herunter. Noch eine.

Ich zwang meine Hände, sich zu Fäusten zu ballen. Erschöpft ließ ich den Kopf nach hinten fallen, spürte das Holz der Wand hinter mir. Sobald ich die Augen schloss, sah ich die Nacht im Januar vor mir, also zwang ich mich, sie offenzuhalten, und starrte ausdruckslos auf die Hinterwand des Regals, das meinen Schlafplatz begrenzte.

»Mali«, flüsterte Delian, sicher nicht zum ersten Mal. Ich wagte nicht, in seine Richtung zu schauen, sonst fing ich womöglich selbst noch an zu weinen. »Mali, es tut mir leid. Ich ... Das hätte nicht passieren dürfen.«

»Es ist nicht deine Schuld«, presste ich hervor. Meine Stimme war rau von den Tränen, die ich immer noch zurückhielt. »Ich komme nur i-i-immer noch n-nicht damit klar.«

Ich hasste es. Ich hasste es, dass ich jetzt wieder anfing zu stottern, ich hasste es, dass ich vor Delian so schwach war. Ich hasste es, dass diese Scheiße im Januar überhaupt erst passiert war und ich nicht stark genug war, um damit fertig zu werden.

Delian blieb leise und ich nutzte die Zeit, um mich auf meine Atmung zu konzentrieren und die Sekunden zu zählen, in denen ich ein- oder ausatmete. Runterkommen, meinen Herzschlag normalisieren, mich verdammt noch mal wieder zu beruhigen.

»Tut mir leid«, murmelte ich, als ich das Gefühl hatte, dass meine Stimme nicht sofort wieder brechen würde. Langsam entspannten sich meine Muskeln und mein Körper war nicht mehr in Alarmbereitschaft. Ich öffnete meine noch immer zitternden Hände.

»Nein, Mali, entschuldige dich nicht. Nicht dafür.«

Endlich wagte ich einen Blick in seine Richtung, ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Ein schmerzhafter Stich fuhr in mein Herz bei seinem Anblick; er hatte aufgehört zu weinen, aber auf seinen Wangen sah ich immer noch die Tränenspuren.

Ich streckte die Hand nach ihm aus, aber er saß zu weit weg, um ihn zu berühren. Dabei wollte ich nichts anderes. Seine weiche Haut unter meiner spüren, bis mein Körper verstand, dass Delian mir nichts tun wollte, und mich die Erinnerungen nicht mehr quälten.

Delian rückte näher an mich heran, gerade so, dass ich seine Hand nehmen konnte, ohne mich zu strecken. Er drückte sie sanft und schaute mir dabei forschend ins Gesicht, als erwartete er, dass ich zurückzucken würde. Vielleicht wartete ich auch darauf.

Seine Hand in meiner gab mir Sicherheit und half mir, mich wieder zu beruhigen. Eine Weile saßen wir so da, so weit voneinander entfernt, aber doch beisammen.

»Ich hasse es«, murmelte ich. »Das sollte nicht passieren.«

»Du kannst nichts dafür, du kannst es nicht verhindern.« Delian schluckte sichtbar und rückte ein winziges Stück näher auf, seine Hand fest in meiner. »Amaliel, du ...«

»Nein«, unterbrach ich ihn, lauter als gedacht. »Lass es.« Ich wollte meine Hand zurückziehen, schaffte es aber nicht.

»Doch, bitte. Du musst es akzeptieren. Sonst wird es nie besser.«

»Das kannst du nicht wissen.« Ich fühlte wieder die Übelkeit, die Erinnerungen in mir aufsteigen. Ich hatte sie doch eben erst verdrängt.

»Amaliel, bitte.« Obwohl er flüsterte, bohrten sich seine Worte in meinen Kopf. »Du wurdest vergewaltigt. Das ist kein Spaß.«

»Natürlich ist es das nicht«, fauchte ich. Endlich schaffte ich es, meine Finger aus seinen zu ziehen und mich von ihm zu lösen. Ich wusste, wie kindisch es war, als ich mir die Hände auf die Ohren presste, aber ich wollte ihn nicht mehr hören, wollte ihn und seine Worte aussperren.

Aber es war zu spät. Das Gesagte hatte seinen Weg in meinen Kopf gefunden und hallte darin wider, bis ich das Gefühl hatte, Delian würde mich anschreien. Vergewaltigt, du wurdest vergewaltigt. Amaliel, du wurdest vergewaltigt.

Ich schaffte es nicht standzuhalten, wieder nicht. Ich hatte in den letzten Monaten so oft geweint, war es denn nicht irgendwann genug?

»Fuck«, hauchte ich, als sich die ersten Tränen den Weg aus meinen Augen bahnten.

Delian war sofort bei mir. Mit größter Vorsicht berührte er mich an der Schulter. Es tat weh zu wissen, dass er sich nicht mehr traute mich anzufassen.

Mit einem Schwall der Verzweiflung griff ich nach seinem T-Shirt, zog ihn an mich und vergrub mein Gesicht an seinem Hals. Ich brauchte ihn, seinen Geruch, seine Wärme, während ich anfing zu weinen und all die Erinnerungen an diesen verdammten Sex in mir hochkamen und sich das Schamgefühl mit jeder Sekunde tiefer in meine Knochen einbrannte.

Delian hielt mich und strich beruhigend über meinen Rücken, als ich mich verzweifelt an ihn drückte. Seine Nähe tat gut, war alles, was ich brauchte, wonach ich mich sehnte. Er war für mich da.

Meine Lunge schmerzte und mein Kopf dröhnte dumpf, als meine heißen Tränen endlich versiegten. Ich lehnte meine Stirn an Delians nassgeweinte Schulter, um seine beruhigende Nähe noch nicht verlassen zu müssen.

»Geht es wieder?«, flüsterte er, während er seine Finger vorsichtig mit meinen verschränkte.

»Danke«, antwortete ich leise und drehte meinen Kopf, um ihm einen Kuss auf den Kiefer zu geben. Schwerfällig richtete ich mich wieder auf, damit ich ihm in die strahlend blauen Augen blicken konnte.

»Warum kannst du es nicht akzeptieren?«, wollte er wissen. Die Finger, die nicht meine hielten, legten sich sanft an meine Wange. Ich schloss die Augen und genoss die Berührung, bevor ich ihm antwortete.

»Du weißt warum.« Ich sträubte mich dagegen, es laut auszusprechen.

Genau das schien Delian zu wissen. »Das stimmt. Aber ich möchte es gerne von dir hören.« Seine Berührung in meinem Gesicht verschwand.

»Es ...« Ich seufzte und wandte meinen Blick von seinem Gesicht ab. »Es klingt scheiße, das zu sagen, aber ... es sind immer nur Frauen oder Mädchen, die vergewaltigt werden. Und ...« Ich schaffte es nicht, den Satz zu Ende zu bringen.

»Nie Jungs und erst recht keine Männer. Habe ich recht?« Er drehte meinen Kopf wieder in seine Richtung. »Weil es sie schwach wirken lässt. Weil Männer doch das starke Geschlecht sind und Frauen das schwache. Wie kann dann ein Mann von einer Frau vergewaltigt werden? Ein Junge von einem Mädchen?«

Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, um nicht wieder weinen zu müssen. Weil, scheiße, natürlich hatte er recht, natürlich spielten sich genau diese Gedanken seit Januar in meinem Kopf ab. »Ich kann nichts dafür, dass ich so denke«, wehrte ich schwach ab.

»Natürlich nicht. Dieses Denken ist viel zu tief in unserer Gesellschaft verankert, da kann sich kaum jemand leicht von lösen. Aber, was ich eigentlich sagen möchte ...«, er rutschte etwas näher an mich heran. »Du bist nicht schwach. Ich möchte nur, dass du das verstehst. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber irgendwann. Nichts von dem, was damals passiert ist, war deine Schuld, und du bist nicht schwach, weil du es zugelassen hast. Okay?«

»Okay«, antwortete ich und der ernste Blick in seinen Augen wurde sofort weicher. Ein warmes Gefühl von Dankbarkeit stieg in mir auf und ich beugte mich vor, um Delian zu küssen und ihm zu vermitteln, wie viel mir das alles gerade bedeutet hatte.

Delian erwiderte den Kuss zunächst, zog sich aber schnell wieder zurück. Eine Scherbe schnitt in mein Herz, es fühlte sich an, als hätte er mich zurückgewiesen. Konnte er mich jetzt nicht einmal mehr küssen, weil seine Gedanken noch bei ihr und ihren Taten hing?

Ich drehte den Kopf zur Seite, damit er den Schmerz in meinen Augen nicht sehen konnte. Er hatte schon so lange davon gewusst, warum hatte das erste Gespräch darüber etwas bei ihm geändert?

»Mali, hey«, flüsterte er vorsichtig. »Ich will nicht, dass du mich jetzt küsst, um das alles zu vergessen und an etwas anderes denken zu können. So soll das nicht laufen.«

Die Erkenntnis sickerte tief in meine Knochen; er hatte meinen Kuss nur falsch interpretiert. »Das ... das habe ich so nicht gemeint. Nein, Bärchen, nein. Ich würde das alles am liebsten verdrängen, aber nicht so.« Ich umfasste sein Gesicht sanft mit meinen Händen und betrachtete die Spiegelung der Morgensonne in seinen hellen Augen. »Ich würde dich nie für so etwas benutzen.«

»Okay«, antwortete er nach einigen Sekunden.

»Darf ich dich denn noch küssen?«, wagte ich zu fragen. »Obwohl du jetzt wahrscheinlich nur an sie denken kannst. Dass sie ... mich dazu gezwungen hat.«

»O Mali. Ich habe eher Angst, dass dich das alles an sie erinnert. Ich möchte dir nicht wehtun.«

»Das tust du nicht. Und wenn es so sein sollte, wirst du es merken.« Um ihn davon abzuhalten, mir zu widersprechen, beugte ich mich zu ihm und küsste ihn fest auf den Mund. Vielleicht tat ich es auch, um mich von der Richtigkeit meiner Worte zu überzeugen.

Das Zögern, das Delians Körper durchlief, hielt nur kurz an, dann erwiderte er meinen Kuss und wir klammerten uns aneinander, als könnte der Sturm in meinem Inneren uns auseinanderreißen.

Der Kuss artete nicht so aus wie der letzte, wir hatten daraus gelernt. Als wir uns schließlich schwer atmend voneinander lösten, lehnte ich meine Stirn an seine, noch nicht bereit, seine Nähe wieder loszulassen.

»Mali.« Seine Hände zogen sich langsam von meinen Schultern und Armen zurück. »Ich muss dich noch etwas fragen. Welche ... also wo soll ich dich nicht berühren?«

Ich war so gerührt von seiner Frage, dass zunächst nichts herauskam, als ich den Mund öffnete. Natürlich wusste ich, dass er sich um mich sorgte, aber die Frage berührte etwas tief in mir.

»Ei-Eigentlich nur an den Hüften, glaube ich«, brachte ich schließlich heraus, die Worte rollten schwer über meine Zunge. »Und nicht über mich, weil dann ... dann fühle ich mich hilflos.«

Delian nickte und blickte mich so verständnisvoll an, dass ich gleich wieder hätte weinen können. »Ich werde es versuchen.«

»Können wir nochmal schlafen gehen?«, fragte ich, um den vielen unausgesprochenen Fragen in seinen Augen zu entgehen. Mein Körper fühlte sich erschöpft an, meine Glieder waren schwer, als hätte die Unterhaltung alle Kraft aus mir herausgesaugt.

Delian zögerte erst, nickte aber und rückte von mir zurück, damit wir uns hinlegen konnten. Wie selbstverständlich drehte er mir den Rücken zu, damit ich meine Arme um ihn legen und ihn nah an mich ziehen konnte.

»Danke«, flüsterte ich in sein Ohr. Als Antwort drückte er meine Hand fest.

{☆}

Als ich aufwachte, war die Sonne draußen weiter gestiegen, genau wie die Wärme in diesem kleinen Raum. Von der Kühle der Nacht war nichts geblieben.

»Delian?«, fragte ich in die Stille.

»Wieder wach?« Er drehte sich langsam, damit ich Zeit hatte, den Griff meiner Arme zu lösen. »Findest du es auch so unerträglich heiß?«

»Mhm«, brummte ich und rollte mich zur Seite. »Kannst du das Fenster öffnen?«

Der Holzboden knarzte, als Delian sich erhob. Ich seufzte und legte eine Hand über die Augen. Der Schlaf hatte die Müdigkeit zwar weitestgehend aus meinen Knochen vertrieben, aber ich wollte noch nicht aufstehen und die kleine Blase, die Delian und ich gebildet hatten, verlassen.

Er legte sich wieder neben mich und ich drehte mich ihm zu. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er seine Hand ausstreckte und an dem Bandana zupfte, das noch immer um mein Handgelenk geschlungen war. »Trägst du jetzt immer meine Sachen?« Seine Finger wanderten weiter zu meinem rechten Arm, um den der rote Wollfaden gebunden war.

»Sagt der, der mein T-Shirt und meine Hose anhat«, antwortete ich amüsiert und piekte ihn in den Bauch. Delian lachte.

Er konnte nicht ahnen, dass es kleine Liebeserklärungen waren an ihn, Liebeserklärungen, die ich mich nicht traute auszusprechen und deswegen leise nach außen zeigte.

»Du übersiehst da etwas, Mali. Ich hatte keine Wahl, als deine Klamotten anzuziehen. Du schon.«

»Du hättest dich auch nackt hinlegen können«, sagte ich, bevor ich die Worte zurückhalten konnte, und zuckte mit den Schultern.

Ein ungläubiges Lächeln verließ seine perfekten Lippen. »Ich weiß nicht, ob wir das überlebt hätten.«

»Wahrscheinlich nicht.« Ich beugte mich über ihn. »Kannst du mal aufhören zu lächeln, damit ich aufhören kann, dich die ganze Zeit küssen zu wollen?«

Sein Lächeln wurde noch breiter. »Aber warum denn?«, fragte er unschuldig und zog mich mit einer Hand in meinem Nacken zu sich herunter. Fuck, ich liebte es noch mehr, wenn er mich küsste.

»Ich muss dir noch was zeigen«, murmelte ich gegen seine Lippen, sprach den Gedanken aus, bevor er wieder entfliehen konnte. Oder bevor ich mich nicht mehr traute.

Delian gab mich frei und ich setzte mich auf meinem behelfsmäßigen Bett auf, um mich zu meiner Tasche zu drehen, die zwischen dem unteren Ende der Matratze und der Wand ihren Platz gefunden hatte. Meine Finger fühlten sich zittrig an, als ich den Reißverschluss das erste Mal seit anderthalb Monaten wieder öffnete und alle Briefe zum Vorschein kamen, die Delian mir über die Jahre geschrieben hatte. All die Erinnerungen und Erlebnisse, gebannt auf Papier und aufgehoben für die Ewigkeit.

Ich biss die Zähne zusammen und verdrängte die Nostalgie aus meinem Kopf, um wieder klar denken zu können. Ich strich einmal mit den Fingern über die Stapel aus Papier, bevor ich sie an der Seite auf der Suche nach einem ganz bestimmten Brief aus dem Weg schob.

»Ich hab dir einen Brief geschrieben«, sagte ich, als ich das dünne Papier zu fassen bekam.

»Du hast mir viele Briefe geschrieben«, antwortete Delian langsam, abwartend. Ich drehte mich zu ihm um und sah, dass er sich aufgesetzt hatte.

»Du hast mir mehr geschrieben.« Das entlockte ihm ein kleines Lächeln. »Aber ... den hier habe ich nie abgeschickt.«

Ich hob den Brief etwas an, als hätte Delian ihn noch nicht bemerkt. »E-Er ist schon ein paar Monate alt, aber ich konnte ihn damals einfach nicht abschicken und ... keine Ahnung. Ich wollte, dass du ihn liest. Jetzt. Damals nicht.«

Delian nickte langsam. Er hatte verstanden, wie wichtig mir der Inhalt des Briefs war. Ich hatte ihm bisher von allem erzählt, von meiner Mutter, von Lilith. Es fühlte sich falsch an, ihm nicht auch hiervon zu erzählen. Gleichzeitig fühlte es sich auch viel privater an und ich brachte es kaum über mich, zurück zu Delian zu rutschen und ihm den Brief zu geben.

Meine Finger wollten sich kaum lösen, doch schließlich schüttelte ich ergeben den Kopf und ließ los. »Es ...« Ich verstummte, wusste nicht, was ich eigentlich hatte sagen wollen.

Delian nickte, als würde er verstehen. Seine feinen Finger öffneten den Brief; ich hatte ihn nicht zugeklebt. Er zog das Papier heraus, ganz vorsichtig, als könnte es bei zu viel Druck zu Staub zerfallen.

Er faltete es auf und die Luft erdrückte mich. Ich konnte nicht hier sitzen bleiben, während Delian den Brief las. Diese Verzweiflung, gebannt auf Papier, aber nicht aus meinen Gedanken verschwunden.

»Ich geh raus, okay?« Ich wartete nicht auf seine Antwort, sondern erhob mich schnell von der Matratze. Die Enge, die Wärme, sie erstickten mich, ich brauchte Luft. Ich konnte nicht da drinbleiben, bei Delian und meinem Brief. Es fühlte sich so verdammt falsch an.

Draußen vor der Tür begrüßten mich kühles, nasses Gras unter meinen nackten Füßen und das Zwitschern der Vögel am Morgen. Blätter raschelten, ein Auto fuhr auf der Straße vorbei. Ich lief einige Schritte, schloss die Augen und atmete die klare, frische Luft ein, die der Morgen mit sich brachte. Sie reinigte meine Lunge und lenkte meine Sinne auf die Ruhe, die hier draußen herrschte und sich auf meinen Geist übertrug.

Es dauerte eine Weile, bis ich leise Schritte hinter mir hörte. Ich wagte es nicht mich umzudrehen, ich konnte sein Gesicht nicht ansehen.

Delian schien zu verstehen. Er blieb hinter mir stehen und lehnte sich vorsichtig an meinen Rücken. Ich zuckte weder zurück noch verkrampften sich meine Muskeln.

»Hey«, flüsterte er, die Wange zwischen meine Schulterblätter gelegt.

»Hey.« Ich tastete nach seiner Hand, berührte seine Finger und umgriff sie. Delian drehte den Kopf, küsste mein Schulterblatt und lehnte sich wieder an mich.

Wir schwiegen eine Weile, mir war klar, dass er wollte, dass ich zuerst sprach. Aber immer, wenn ich den Mund öffnete, verstummten alle Worte, die ich hatte sagen wollen. Ich schluckte, blickte zum Himmel und hoffte, dass die Wolken mich wieder beruhigen würden. Sie waren groß und weiß, verdeckten nach und nach das helle Blau. Haufenwolken. Cumulus.

»Ich ...«, begann ich, als ich merkte, dass ich die Unterhaltung nicht mehr herauszögern konnte, und räusperte mich. »Ich weiß nicht mehr, ob das noch stimmt. Aber ich wollte, dass du es weißt. Dass ich daran gedacht habe.«

»Dass du vielleicht bi bist?«, fragte er, sprach das Wort zum ersten Mal aus. Ich zuckte zusammen.

»Ich glaube nicht, dass es stimmt. Es fühlt sich falsch an.« Ich drehte mich zu ihm um und sah in seine wunderschönen Augen. Was würde ich nur dafür tun, für den Rest meines Lebens diese Augen sehen zu können.

»Das kannst nur du wissen.« Er lächelte. »Es bedeutet mir viel, dass du mir den Brief gezeigt hast, Mali.«

»Es hätte sich falsch angefühlt, ihn dir nicht zu geben. Vor allem nach letzter Nacht.« Schon wünschte ich mir, mich nicht umgedreht zu haben, denn ich spürte, wie das Blut in meine Wangen stieg beim Gedanken an die Küsse, die wir geteilt hatten.

Delian lächelte breiter, echter. »Ich fand's schön. Ich hoffe, du auch. Du bereust es nicht?«

»Nein, nein, das nicht. Habe ich nicht gesagt, wir hätten das schon früher machen sollen?«

Er lachte und ich spürte, wie auch meine Mundwinkel sich hoben. »Das stimmt. Und ich würde jetzt liebend gerne weiter machen, aber ich weiß nicht genau, wann meine Eltern wieder kommen, und dann sollten sie dich nicht mit mir hier draußen erwischen.«

Etwas legte sich schwer in meinen Magen, ich war zurück in die Realität gekommen. Eine Realität, in der ich von zu Hause abgehauen war und mich vor Delians Eltern versteckt hielt.

»Ah, stimmt.« Ich trat einen Schritt von ihm zurück, um mich wieder zu fangen. »Dann ... sollten wir vielleicht unsere Klamotten von gestern aufhängen. Die sind sicher noch nass.«

»Das ist eine perfekte Idee«, befand Delian und drehte sich auf dem Absatz um.

{☆}☆{☆}

Ich habe die letzte Zeit damit zugebracht, eine Illustration zu diesem Kapitel zu malen (weil es zu einem meiner liebsten gehört). Es gibt Menschen, die das definitiv besser können als ich, aber ich bin schon etwas stolz darauf. Was sagt ihr?

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