Kapitel 20.1
Für einige Sekunden genoss ich die Stille im Haus, die meine Mutter hinterlassen hatte, als sie das Haus verlassen hatte. Sie würde erst im Laufe des nächsten Tages wiederkommen, mein Vater ebenso.
Manchmal fühlte ich mich unendlich einsam in unserem riesigen Haus, in dem meine Eltern kaum waren. Ich saß allein auf der großen, grauen Couch, die Beine an den Körper gezogen und den Blick auf den schwarzen Fernseher gerichtet.
Ich hielt es allein nicht aus.
Amaliel kam innerhalb von zwei Minuten aus dem Gartenhaus zu mir. Ich lächelte.
»Ich bin gleich bei dir«, begrüßte er mich, als er durch die Glastür ins kühle Innere trat. »Ich muss nur ganz kurz mal aufs Klo.«
Damit war er auch schon auf der Toilette im Flur verschwunden. Ich wartete auf dem Sofa auf seine Rückkehr und spielte gelangweilt mit den Enden der grauen Decke, die darauf lag.
»Es ist so unerträglich heiß da draußen«, beschwerte Amaliel sich, sobald er das Wohnzimmer wieder betreten hatte, und trocknete die Hände an seiner Hose ab. »Aber wenn ich noch mehr trinke, muss ich ununterbrochen aufs Klo.«
»Ich kann leider nichts am Wetter ändern«, sagte ich zerknirscht und setzte mich ein Stück auf. »Aber hey, du kannst den restlichen Tag hier im klimatisierten Haus verbringen. Und die Nacht auch, wenn du willst.«
»Nachts ist es wenigstens noch erträglich.« Er ließ sich neben mich auf die Couch fallen. »Wie ist dein Zeugnis ausgefallen? Das hast du doch heute bekommen, nicht?«
»Dafür interessierst du dich?« Ich musste lachen. »Nicht dafür, dass ich jetzt Sommerferien und damit ganz viel Zeit für dich habe?«
»Dafür natürlich auch. Dein Zeugnis ist mir eigentlich scheißegal, solange du nicht sitzengeblieben bist.«
»Ne, das bin ich nicht. Ich habe mir extra ganz viel Mühe gegeben.«
»Dann bin ich sehr stolz auf dich.« Amaliel fuhr sich durch die blonden Haare. »Was dagegen, wenn ich duschen gehe? Ich weiß nicht, wann ich die nächste Chance bekomme.«
»Die nächsten Tage soll es quasi durchgehend regnen, stell dich einfach raus«, scherzte ich.
Amaliel rollte schmunzelnd die Augen. »Ich geh schon meine Sachen holen.«
Schon war er wieder nach draußen verschwunden, lächelnd folgte ich ihm mit den Augen.
Plötzliche Sehnsucht suchte mich heim, stach tief in mein Herz und ließ mich nach Luft schnappen. Situationen wie diese waren mir inzwischen so schrecklich vertraut, wie sollte es werden, wenn Amaliel wieder ging und mich zurückließ? Wir wussten beide, dass das hier keine Dauerlösung werden konnte, entweder entdeckten meine Eltern ihn oder er ging, wenn er achtzehn war, zurück nachhause.
Und dann?
Was wurde dann aus uns?
»Möchtest du mitkommen?« Amaliels Stimme riss mich aus meinem trüben Gedankenstrudel und ich drehte mich auf der Couch zu ihm um.
»Was?«
»Ob du mit mir duschen möchtest?« Er grinste mich frech an. Wann hatte er eigentlich angefangen, solch anzügliche Kommentare von sich zu geben?
»In deinen Träumen vielleicht.« Ich schüttelte den Kopf und wartete, bis er murrend die Treppe nach oben gegangen war, bevor ich aufstand.
Ich war dazu übergegangen, das Abendessen herzurichten, da mein Magen geknurrt hatte, und holte gerade die Butter aus dem Kühlschrank, als ich hörte, wie oben die Badezimmertür geöffnet wurde.
»Bärchen?«, rief Amaliel fragend in den Raum herein.
»Bin hier unten«, antwortete ich und schloss den Kühlschrank wieder, als ich alles hatte. »Ich such uns gerade unser Abendessen zusammen.«
»Das ist eine super Idee.« Die Stufen knarrten leise, als Amaliel herunterkam und mit nackten Füßen über den Parkettboden tapste. »Ich bring nur noch schnell meine Sachen rüber.«
Als Amaliel wieder ins Haus gelaufen kam, suchte ich gerade zwei Messer aus der Schublade heraus.
»Schau mal, ich hab draußen noch zwei Erdbeeren gefunden.« Er hob seine rechte Hand, in der die beiden tiefroten Früchte lagen. »Und ein paar Himbeeren.« Jetzt hob er seine andere Hand.
Ich musste lachen. »Du klingst wie ein stolzes kleines Kind. Danke für den Nachtisch.«
»Hab ich doch gerne gemacht.« Er verdrehte die Augen und legte alle Beeren auf seinem Teller ab. »Dann bekommst du halt nichts.«
»Ich habe das ganze Essen vorbereitet, ich bekomme sehr wohl etwas«, beschwerte ich mich und setzte mich auf meinen Stuhl Amaliel gegenüber.
»Ich überlege es mir.« Er griff nach der ersten Brotscheibe.
»Was sollen wir heute Abend machen?«, schlug ich ein neues Thema an, bevor ich in mein Brot mit Frischkäse biss.
Amaliel zuckte mit den Schultern. »Hast du keine Disneyfilme mehr, die du mir noch nicht reingezwungen hast?«
»Jetzt übertreib mal nicht. Du magst die Filme auch, du willst es nur nicht zugeben.«
Er warf mir ein schelmisches Grinsen zu. »Das wirst du wohl nie herausfinden.«
Das restliche Abendessen verlief schweigend und wir hatten schon die Reste und das Geschirr wieder in die Küche geräumt, als Amaliel wieder nach den Beeren auf dem Tisch griff. »Muss man die waschen?«
»In unserem Beet befinden sich hoffentlich keine giftigen Stoffe, also nein.« Ich hielt ihm eine offene Hand hin, damit er mir etwas abgeben konnte.
Mit Bedacht legte er eine pinke Himbeere in meinen Handteller. Erst als ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, gab er sich geschlagen, teilte die Himbeeren in der Hälfte und gab mir eine der zwei Erdbeeren. Die kleinere.
»Die sind gut«, kommentierte er seine erste Himbeere und steckte sich gleich noch eine zweite in den Mund. Ich versuchte währenddessen, nicht zu auffällig auf seine Lippen zu starren, an denen Saft klebte.
»Natürlich sind die gut, die sind aus unserem Garten.« Viel zu schnell waren die Beeren in meiner Hand verschwunden und hatten nichts als etwas klebrigen Saft zurückgelassen.
Amaliel versuchte unterdessen, seine letzte Himbeere mit dem Mund aufzufangen. Dabei warf er sie viel zu hoch, sodass sie geradewegs an seinem Mund vorbeisegelte und auf dem Boden landete.
Ich lachte und bückte mich, um die Beere wieder aufzuheben.
Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Amaliel hielt mich an der Hüfte fest, vermutlich damit ich die Himbeere nicht zu fassen bekam, sorgte aber nur dafür, dass ich stolperte und fiel und er gleich mit mir. Keine Sekunde später fand ich mich auf dem Boden wieder, Amaliel kniete mit verdutztem Gesicht halb über mir.
»Du Arsch«, lachte ich und schlug schwach gegen seinen Oberarm. »Jetzt hab ich die Himbeere zerquetscht.«
Amaliel stieß ein Geräusch aus, das eine Mischung aus einem Grunzen und einem Lachen war, und legte kichernd seine Stirn mitten auf meiner Brust ab. »Das ist das erste Schimpfwort, das ich von dir höre.«
»Ich hab's mir extra für dich aufgehoben.« Mit einer Hand griff ich in seine Haare, einfach um sein Herz auch mal stocken zu lassen. Meines hatte aufgegeben, mit normaler Geschwindigkeit zu schlagen, seit er halb auf mir lag.
Amaliel schaute wieder auf, das Lächeln immer noch auf den Lippen, aber mit einem anderen Ausdruck in den Augen. Bevor mein Gehirn überhaupt verarbeiten konnte, wie nah er mir war, hatte er sich schon zu meinem Gesicht vorgebeugt und seine Lippen auf meine Wange gedrückt.
Mein ganzer Körper erstarrte und ich konnte nichts anderes, als mit weit aufgerissenen Augen Amaliel anzustarren, der nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war. Auch er schien sich seiner Handlungen bewusst zu werden, denn er räusperte sich und setzte sich auf, sodass ich genug Freiraum bekam, um mich wieder vom Boden zu erheben.
»Zeig mal her«, forderte er mich auf, als wir wieder standen. Folgsam drehte ich ihm den Rücken zu und spürte sofort seine Finger an meinem Rücken, als er mein T-Shirt um den Himbeerfleck herum berührte. Er machte das alles nur, um mich durcheinanderzubringen, inzwischen war ich mir sicher.
»Hättest du heute wohl lieber kein helles T-Shirt angezogen«, schloss er aus seiner Bobachtung.
Ich drehte mich wieder zu ihm um. »Wusste ich heute Morgen, dass wir uns noch wegen einer Himbeere auf dem Boden wälzen würden?«
Er schnaubte belustigt. »Ganz so würde ich es nicht bezeichnen.« Dann blitzte etwas in seinen Augen auf und ich wusste schon, dass mir sein nächster Satz nicht gefallen würde. »Du kannst ja dein T-Shirt ausziehen, damit du den Fleck selbst sehen kannst.«
»Sag doch einfach, dass du mich halbnackt sehen willst«, murmelte ich, während ich schon nach dem Saum meines Oberteils griff. Seine Augen weiteten sich.
Wenn er es schaffte, mich die ganze Zeit aus dem Konzept zu bringen, dann konnte ich das auch.
Und auch wenn mein Magen einen nervösen Salto schlug, zog ich mir mein T-Shirt über den Kopf.
»Ich weiß, ich bin weiß wie die Wand«, kommentierte ich seinen Blick, den ich mehr spürte als sah. Ich hielt mir das T-Shirt vor die Brust und versuchte mit aller Kraft, das Zittern meiner Finger zu unterdrücken. Immerhin war das gerade Amaliel, vor dem ich oberkörperfrei stand.
Ich fand sofort den störenden knallpinken Fleck auf dem hellen Stoff, an dem noch etwas Fruchtfleisch hing. »Das muss wohl in die Wäsche.«
Erst jetzt wagte ich es, den Blick zu heben und Amaliels zu begegnen. Er schluckte und sah schnell zu Boden. »Ich hätte nicht gedacht, dass du es machst.« Kam es mir nur so vor oder war seine Stimme heiserer als sonst?
»Ich auch nicht«, antwortete ich und lachte leise.
Seine Augen fanden meinen wieder und wanderten erst nach wenigen Sekunden weiter nach unten, als suchte er erst meine Zustimmung. Es fühlte sich nicht unangenehm an, so entblößt vor ihm zu stehen, nur ungewohnt. Amaliel schluckte abermals.
Ich musste mich zurückhalten, um nicht auf ihn zuzugehen und »Sag nochmal, dass du hetero bist« zu sagen.
»Ich hole mir dann ein neues T-Shirt«, entschied ich, als das stille Mustern zwischen uns länger wurde. »Du kannst den Rest der Himbeere vom Boden wegwischen.«
»Klar. Stimmt, mach ich.« Ich schien ihn aus seiner Starre gerissen zu haben, denn er verschwand sofort in die Küche.
Kaum war er weg, kam auch in mich Bewegung und ich machte mich so schnell wie möglich auf den Weg nach oben in mein Zimmer.
Sobald die Tür hinter mir geschlossen war, sank ich auf den Boden und erlaubte mir, tief ein- und auszuatmen. Mit zitternden Fingern drückte ich mir mein T-Shirt gegen die nackte Brust.
»O mein Gott«, murmelte ich. »O mein Gott.«
Mein Oberkörper war nichts Besonderes, weder trainiert noch braun gebrannt, doch so wie Amaliel ihn angesehen hatte, musste mehr dahinter sein. Ich wusste es. Ich wusste, dass Amaliel für mich nicht nur Freundschaft empfand. Aber solange zwischen uns noch nicht mehr war, konnte ich sicher die Grenzen ausreizen, oder? Er machte das die ganze Zeit.
Nachdem ich noch eine Weile am Boden gekauert hatte, schaffte ich es, mich wieder zu erheben und ein neues T-Shirt anzuziehen. Diesmal war es schwarz.
Als ich schließlich auch mein altes Oberteil im Wäschekorb entsorgt hatte, überlegte ich kurz, wieder nach unten zu gehen, hörte aber schon Amaliels leise Schritte auf der Treppe. Er folgte mir wortlos in mein Zimmer, trat ans Fenster und warf einen Blick hinaus. Die Wolken waren dunkel und grau, es würde wohl bald der Regen mit der Dunkelheit zusammen einbrechen.
»Hast du dir schon einen Film ausgesucht?«, fragte Amaliel so unvermittelt, dass ich einige Sekunden brauchte, um zu verstehen, worauf er sich bezog.
»Nein, hast du einen Vorschlag?«
Er seufzte und lehnte sich mit verschränkten Armen an das Fensterbrett. »Ich weiß nicht, ob ich heute überhaupt Lust habe, einen Film zu schauen.«
Nach einem Blick auf sein Gesicht wusste ich, warum. »Du willst viel lieber rausgehen. Mali, es wird nachher regnen.«
»Wir verbringen definitiv zu viel Zeit miteinander, wenn du mich so leicht durchschauen kannst. Und schau doch«, sagte er und öffnete das Fenster hinter sich, nachdem er eine Pflanze zur Seite geschoben hatte. »Ich liebe es, wenn die Luft vor dem Regen so schwer und warm ist. Wie kannst du da nicht nach draußen wollen?«
Ich lächelte. »Ich bin nicht du. Aber für dich würde ich es vielleicht tun.«
»Natürlich würdest du das.« Er lächelte so glücklich, dass meinem Herz ganz warm wurde. »Aber warten wir noch eine Weile.«
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