Kapitel 17
Delian: Ich kann das nicht
Es war Samstagnachmittag und ich saß zusammen mit Malte und Alex auf dessen dunkelrotem Sofa in seinem Zimmer. Die warme Julisonne schien durch das gekippte Fenster und ließ jedes Staubkörnchen golden leuchten. Meine beiden besten Freunde spielten beide ein Spiel gegeneinander auf ihren Handys, während ich mit angezogenen Beinen neben ihnen saß.
Das war meine Gelegenheit, es ihnen zu sagen. Aber jedes Mal, wenn ich kurz davor war, den Mund zu öffnen, verließ mich der Mut.
Mali: Du schaffst das, Eli. Du hast es auch bei Mary geschafft, dabei kennst du sie noch nicht so lange wie die beiden
Vielleicht liegt es daran, tippte ich mit zittrigen Fingern in unseren Chat. So gemein es auch klang, bei Mary hatte ich nicht so viel zu verlieren wie bei Alex und Malte. Unsere Freundschaft war noch jung, bei meinen besten Freunden war sie tief verwurzelt. Außerdem hatte Mary es selbst herausgefunden.
Ich schloss einige Sekunden die Augen und atmete tief durch, während ich auf Amaliels Antwort wartete.
Mali: Wenn du wiederkommst, halte ich dich ganz fest, okay?
Ich konnte das glückliche Lächeln, das sich bei seinen Worten auf meinen Lippen ausbreitete, nicht unterdrücken.
»Delian, wer hat dir denn gerade geschrieben?«, hörte ich Alex vom anderen Ende des Sofas rufen.
Ich riss die Augen auf und presste mir mein Handy an die Brust, wollte Amaliel ganz für mich behalten. »Niemand«, antwortete ich viel zu schnell, Alex musste lachen. Jetzt hob auch Malte interessiert den Blick vom Bildschirm.
Bevor er etwas erwidern konnte, räusperte ich mich und setzte mich auf. »Ich wollte euch sowieso etwas erzählen. Etwas Wichtiges.«
Jetzt war es raus, jetzt musste ich weitermachen. Meine schweißnassen Finger umklammerten das Handy in meinen Händen, als wäre es mein einziger Ankerpunkt.
Meine Freunde schenken mir nun ihre ganze Aufmerksamkeit, anscheinend merkten sie, wie nervös ich war.
»Du kannst uns alles sagen«, begann Malte leise, als ich nicht weitersprach. »Solange du keine Leichen bei dir im Keller herumliegen hast, ist alles gut. Du weißt, ich kann kein Blut sehen.«
»Nein. Nein, das ist es nicht.« Ich biss mir auf die Unterlippe und versuchte verzweifelt, mir irgendwelche Sätze in meinem Kopf zusammenzulegen, die sie vorbereiten könnten. Aber meine Gedanken waren wie leergewischt, ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Delian, sicher, dass es dir gut geht?« Eine Sorgenfalte bildete sich zwischen Alex' Augenbrauen.
»Ich ... hoffe nur, dass alles gleichbleibt, dass sich zwischen uns nichts verändert. Weil ... ihr seid meine besten Freunde und ich weiß nicht, wie ihr das Ganze aufnehmen werdet und eigentlich weiß ich gar nichts. Ich habe jetzt schon eine Weile darüber nachgedacht, es euch zu sagen, aber ich wusste einfach nicht wie. Und irgendwie fühlt es sich so groß an, obwohl es das doch eigentlich nicht sein sollte, oder?«
Ich vermied jeglichen Blickkontakt und betrachtete stattdessen den groben Stoff unter mir, als ich ein letztes Mal einatmete. »Ich bin ... ich bin schwul.«
Die Worte fühlten sich neu und ungewohnt auf meiner Zunge an, hatte ich sie bis jetzt doch kaum in den Mund genommen. Sobald der Satz meinen Mund verlassen hatten, presste ich die Augen zusammen, hörte auf meinen Atem, auf jedes Geräusch, das Alex und Malte verursachten.
Mit jeder Sekunde, die verstrich, zog sich mein Herz weiter zusammen, bis meine Brust schmerzte und ich kaum noch atmen konnte. Warum sagten sie denn nichts? Alles war besser als diese nervenzerreißende Stille.
»Okay, wow«, vernahm ich Alex endlich durch das Rauschen in meinen Ohren. »Das ... habe ich nicht unbedingt kommen sehen.«
Ich nahm all meine Kraft zusammen und hob meinen Kopf, um endlich ihre Reaktionen sehen zu können. Alex schaute zwischen mir und Malte hin und her, als wollte er ihn dazu bringen, auch etwas zu sagen. Der starrte jedoch nur nachdenklich durch mich hindurch. Es war nicht ungewöhnlich für ihn, dass er schnell in seine Gedanken abdriftete, aber gerade wünschte ich mir nichts mehr als eine Antwort auf mein Geständnis.
»Nicht weinen, Delian«, flüsterte er schließlich, eine Hand an seine Wange gehoben.
Schnell wischte ich mir über die Augen, bemerkte erst jetzt die nassen Tränenspuren darauf. »Oh, 'tschuldigung.«
»Ist doch scheißegal«, meinte Alex und stand vom Sofa auf. »Sorry, dass ich gerade nichts gesagt hab, ich war etwas überrascht. Aber ist doch scheißegal, ob du schwul bist oder nicht. Du bist immer noch Delian und das ist mehr als genug.«
Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln und ich nickte schwach. Mein bester Freund griff nach meiner Hand, zog mich hoch und fest an sich. Ich wusste nicht, ob wir uns schon jemals so umarmt hatten, aber ich spürte, wie alle Anspannung meinen Körper verließ, und lehnte mich dankbar an ihn.
»Danke. Ich wusste nicht, was ihr davon halten würdet.«
Alex löste sich wieder von mir, hielt mich aber an beiden Schultern fest. »Es ist unfassbar, dass man heutzutage hier noch Angst haben muss, aufgrund der Sexualität nicht akzeptiert zu werden.«
Auch Malte hatte sich vom Sofa erhoben und legte einen Arm um meine Schultern. »Er hat recht. Ich bin stolz, dass du es uns gesagt hast. Und, ganz ehrlich, ich verstehe, was du an Typen findest.«
»Was!?«, entfuhr es Alex entsetzt.
»Hey.« Malte lachte und löste seine Hand wieder von meiner Schulter, um sie abwehrend in die Höhe zu halten. »Ich bin nicht schwul oder so. Jedenfalls weiß ich nichts davon. Aber manche Typen sehen halt geil aus.«
Ich konnte ein Lachen nicht zurückhalten, Alex und Malte stimmten mit ein. Die unangenehme Situation hatte sich so schnell gelöst, das Gewicht auf meinen Schultern fühlte sich nicht mehr halb so schwer an.
»Aber«, begann Alex, als wir uns wieder beruhigt hatten, »ich bin neugierig. Hast du einen Freund?«
»Man muss keine Beziehung eingehen, um seine Sexualität herauszufinden«, antwortete ich, vielleicht etwas zu defensiv.
»Das meinte ich gar nicht.« Er ließ sich zurück auf die Couch fallen, Malte und ich machten es ihm nach. »Aber du hast mit irgendjemandem geschrieben, der dich sehr glücklich hat grinsen lassen. Und du konntest uns ja schlecht von einem Freund erzählen, als du noch nicht geoutet warst.«
Einen Moment überlegte ich, ob ich einfach antworten sollte, dass Mary mir etwas Nettes geschrieben hatte, entschied mich dann aber für die Wahrheit. »Wie klischeehaft ist es, wenn ich sage, dass es kompliziert ist?«
»Sehr. Klär uns auf.« Malte stützte sich mit den Armen auf seinen Oberschenkeln ab.
»Er ... Ich glaube, er ist sich einfach noch nicht sicher, ob er wirklich nicht-hetero ist, und zurzeit ist er einfach sehr verwirrt. Ich habe keine Ahnung, was das mit uns ist.« Wieder wagte ich nicht, zu meinen besten Freunden aufzublicken, sondern betrachtete den Boden zu meinen Füßen. Ich war mir nicht sicher, warum, aber von Amaliel zu erzählen fühlte sich bei den beiden gänzlich anders an als bei Mary.
»Also braucht er einfach nur Zeit?«, meinte Alex, auch wenn es mehr nach einer Frage klang.
»Vielleicht.« Nur wusste ich nicht, wie viel Zeit wir noch hatten. Jeder Tag, jede Stunde könnte die letzte mit Amaliel sein. Meine Eltern könnten ihn entdecken, seine Familie könnte irgendwie eine Verbindung zu mir herstellen.
Scheiße, seine Familie. Sie hatten sicher schon die Polizei eingeschaltet, weil Amaliel sich seit einem geschlagenen Monat nicht mehr bei ihnen gemeldet hatte. Seit einem Monat war er jetzt schon weg, zwei sollten es noch werden. Das konnte nicht gut gehen. Ich hatte ihn mit Müh und Not zwei Wochen bei uns verstecken können, aber das konnte doch nie und nimmer noch zwei ganze Monate funktionieren. Worauf hatte ich mich hier eingelassen?
Seine Familie musste ihn schrecklich vermissen und er sie auch. Vielleicht wollte er früher zurück, vielleicht merkte er, dass es besser so wäre.
Aber ein kleiner, egoistischer Teil in meinem Hinterkopf fragte sich, was dann mit mir wäre. Wenn Amaliel jetzt ginge, was würde dann aus uns werden?
Frustriert vergrub ich den Kopf in den Händen. »Warum muss alles so verdammt kompliziert sein?«, fragte ich seufzend.
»Das ist das Leben«, antwortete Malte. »Sonst wäre es doch nicht spannend.«
»Kennen wir deinen Nicht-Freund?«, fragte Alex und lenkte so das Gespräch auf das eigentliche Thema zurück. »Wenn er dir nämlich irgendwann wehtut, würde ich ihm gerne mal einen Besuch abstatten.«
»Nein, ihr kennt ihn nicht. Aber bitte, lass ihn in Frieden. Er bedeutet mir viel.« Vielleicht mehr, als ich zugeben wollte.
»Das merke ich, Delian.« Malte lehnte sich zurück. »Aber du hältst uns auf dem Laufenden, ja? Nicht dass wir etwas Wichtiges verpassen.«
»Natürlich.« Dann wussten jetzt wohl alle meine Freunde Bescheid. Es war ein seltsames, aber auch befreiendes Gefühl. Endlich musste ich mich nicht mehr verstecken.
»Ey, hast du deinen Eltern schon davon erzählt?«, wollte Alex wissen, während er nach der Tüte griff, die auf dem Tisch lag, und sich ein paar Paprikachips in den Mund schob.
»Nein. Ich bin mir nicht sicher, naja, wie sie reagieren werden. Und sie haben mehr ... mehr Macht über mich.« Ich wusste nicht recht, wie ich es formulieren sollte.
»Deine Mutter ist chillig. Die wird dich wohl kaum rausschmeißen.« Alex schnaubte und strich sich seine schulterlangen Dreads zurück. »Aber keine Ahnung bei deinem Vater, ich kann ihn nicht wirklich einschätzen.«
»Er ist dein Vater, wenn er dich wegen so etwas Simplem nicht mehr liebt, hat er dich nicht verdient«, fügte Malte Alex' Überlegungen hinzu.
Ein Lächeln hatte sich bei ihren Worten auf mein Gesicht geschlichen. »Danke euch. Ich überlege es mir. Aber für den Moment reicht es, dass ihr es wisst.«
»Warte, sind wir die ersten, die davon erfahren? Scheiße, Malte, wir sind privilegiert.«
»Tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen, aber Mary hat es vor euch herausgefunden«, meinte ich mit einem Schulterzucken.
»Immer diese Frauen«, murmelte Alex.
»X, das ist aber auch genug«, sagte Malte, halb im Scherz, halb ernst. »Wie meinst du herausgefunden?«, fragte er an mich gerichtet.
»Naja, es ist ... etwas zwischen ihm und mir passiert und Mary hat bemerkt, dass ich an dem Tag so abwesend war. Wir haben geredet und irgendwie ... ist es passiert, schätze ich.« Ich wollte ihnen nicht von dem Kuss erzählen, wollte die ganze Geschichte nicht nochmal erzählen. Die Gefahr, dass ich Fehler in das Lügennetz, das Amaliel umspannte, einbaute, wurde mit jeder neuen Information größer.
»Wann war das?«, fragte Alex neugierig.
»Vor ...« Ich musste rechnen. »Eineinhalb Wochen? Ja, müsste etwa hinkommen.«
»Wir sind echt blind, wenn wir in der Zeit nichts mitbekommen haben«, lachte mein bester Freund, Malte nickte zustimmend.
»Dazu will ich lieber nichts sagen ...«
»Hey!« Alex schlug mir spielerisch auf die Schulter, wir mussten beide lachen. »Gibt es hier sonst noch jemanden, der etwas beichten muss? Wenn wir schon mal dabei sein.«
Malte hob die Hand. »Hab mal einen Kugelschreiber aus einem Laden geklaut, für den Adrenalinkick. Niemand hat es bemerkt, im Nachhinein war es ziemlich langweilig.«
»Hä, das ist gar nichts. Erinnerst du dich nicht mehr dran, wie wir dieses Baustellenhütchen geklaut haben?« Er zeigte auf den orangenen Pylonen, der umgekehrt an die Wand gelehnt dastand. »Wir waren pissbetrunken damals.«
»Das war an Neujahr, X.« Malte verdrehte die Augen. »Ich kann mich an die halbe Nacht nicht erinnern.«
Die beiden hatten mich an Silvester zu irgendeiner Party mitgezogen, von der ich wahrscheinlich als einziger nüchtern nach Hause gekommen war. Es hatte Spaß gemacht, aber ich war froh gewesen, als ich mich Stunden vor meinen Freunden wieder auf den Weg nach Hause gemacht hatte. Die Geschichte mit dem Pylonen hatten sie mir lachend wenige Tage darauf erzählt.
»Ich erinnere mich noch ganz genau. Und jetzt hab ich einen coolen Mülleimer im Zimmer. Das hat nicht jeder.« Zur Demonstration griff er nach einem Papier, das auf dem Tisch lag, knüllte es zusammen und warf es ohne zu zielen. Das Bällchen flog geradewegs am Hütchen vorbei.
»Gut, dass du Fußball und nicht Basketball spielst«, lachte Malte.
»Sei leise, du kannst es sicher nicht besser.«
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht verfolgte ich, wie Malte ebenfalls ein Bällchen formte, das perfekt in die Öffnung an der Unterseite des Pylonen segelte.
»Danke, danke.« Er verbeugte sich zu nicht-existierendem Applaus, während Alex schmollte. »Das war dann auch genug Sport für heute.«
Gerade als ich meinen Blick von meinen Freunden abwandte, blinkte eine neue Nachricht auf meinem Handy auf.
»Oh, hat dir dein Freund geschrieben?«, wollte Alex grinsend wissen.
»Nein, meine Mutter.« Zum Beweis hielt ich ihm kurz das Handy hin. »Sie fragt, ob sie etwas zum Abendessen mitbringen soll.«
Kaum hatte ich auf ihre Nachricht geantwortet, erschien eine neue, diesmal von Amaliel. Verstohlen blickte ich zu meinen Freunden, die mir jedoch keine große Beachtung schenkten.
Mali: Ist etwas passiert? Du antwortest nicht mehr
Delian: Ich habe es ihnen gesagt. Es ist alles gut. Ich erzähle dir später alles
Mali: Scheiße, bin ich froh. Hab mir schon Sorgen gemacht
Wärme sammelte sich unter meiner Haut an und wieder konnte ich das Lächeln nicht zurückhalten. Ich hätte es viel schlechter erwischen können – mit meinen besten Freunden, mit meinem Nicht-mehr-nur-Brieffreund, mit allem eigentlich. Ich konnte nur hoffen, dass es auch so blieb.
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