Kapitel 12.1

In der Nacht träumte ich von Alex, der mir erzählte, dass er in den Ferien in Schwerin gewesen wäre und dort überall Flugposter hingen, auf denen Amaliel gesucht wurde. Bevor ich die Situation erklären konnte, standen wir in einer Traumversion unseres Gartenhauses und Alex hielt Amaliel am Kragen. Der Boden war bedeckt mit Kopien meiner Religionsklausur. Ich wollte etwas sagen, mich vor Alex rechtfertigen, aber kein Laut wollte meinen Mund verlassen. Amaliel schüttelte den Kopf und wandte enttäuscht den Blick von mir ab.

Als ich aufwachte, schnappte ich nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Meine weit aufgerissenen Augen starrten in die Finsternis und ich zwang mich, tief Luft zu holen und mich zu beruhigen.

Erst dann schaute ich auf die Uhrzeit; 5:28. Noch mehr als eine Stunde, bis mein Wecker klingeln sollte.

Grummelnd drehte ich mich auf die andere Seite und versuchte jeden Gedanken an meinen Traum zu verdrängen und wieder einzuschlafen.

{☆}

Das nächste Mal wurde ich pünktlich durch meinen Wecker wach. Unwillig drehte ich mich auf die andere Seite, um ihn auszuschalten. Ich widerstand der Verlockung einfach weiterzuschlafen und setzte mich schwerfällig auf. Die Spuren meines Traums waren schon fast wieder verschwunden, nur Amaliels enttäuschtes Gesicht war mir im Gedächtnis geblieben.

Ich nahm meine Aufschriebe mit nach unten, um noch beim Frühstück etwas für die Arbeit zu lernen.

Meine Mutter gesellte sich nach einer Weile zu mir und machte sich einen Kaffee.

»Was lernst du?«, fragte sie mit Blick auf meine Notizen.

»Religion, das schreiben wir nachher.« Ich klang so motiviert, wie ich mich fühlte.

»Viel Erfolg.« Sie schenkte mir ein Lächeln. »In welchen Stunden schreibst du? Damit ich dir die Daumen drücken kann.«

»Dritte und vierte«, murmelte ich und trank einen Schluck meines angenehm warmen Tees. »Bist du heute den ganzen Tag da?«, fragte ich möglichst unauffällig. Vielleicht gab es einen Zeitpunkt, an dem Amaliel ins Haus konnte.

Ich fragte mich, was er den ganzen Tag machen wollte. Irgendwann würde ihm todlangweilig werden.

»Hm, vielleicht gehe ich nachher in die Stadt, mal schauen. Aber dein Vater ist da.« Nachdenklich drehte sie ihre Kaffeetasse in den Händen.

»Stimmt.« Ganz konnte ich die Enttäuschung nicht aus meiner Stimme nicht raushalten. »Ich muss gehen.« Mit einem Seufzen erhob ich mich von meinem Stuhl und trank den Rest meines Tees, bevor ich die Tasse in die Spülmaschine stellte.

In meinem Zimmer nahm ich mein Handy zur Hand, um Amaliel zu schreiben.

Hey, heute musst du wahrscheinlich den ganzen Tag draußen bleiben. Ich komme auch erst um halb sechs wieder nach Hause.

Die Nachricht kam nicht an, wahrscheinlich schlief er noch.

Guten Morgen, schickte ich noch hinterher.

Dann packte ich meine restlichen Schulsachen ein und lief die Wendeltreppe nach unten. Während ich meine Schuhe anzog, rief ich meiner Mutter noch ein schnelles »Tschüss« zu, bevor ich die Haustür hinter mir zuzog.

Die kräftige Morgensonne strahlte mir ins Gesicht und ich genoss einige Sekunden ihre angenehme Wärme, bevor ich mich auf den Weg zur Schule machte.

Es fühlte sich seltsam an, das Haus hinter mir zu lassen und mich immer weiter von Amaliel zu entfernen. Die letzten zwei Wochen waren wir immer in unmittelbarer Nähe gewesen und jetzt ließ ich ihn mit meinen unwissenden Eltern zurück. Aber eigentlich sollte nichts passieren. Amaliel würde im Gartenhaus bleiben, in das meine Eltern nie schauten. Heute würde alles gutgehen.

Nur würde das auch so bleiben, wenn meine Eltern wieder arbeiteten und Amaliel sich zeitweise im Haus aufhalten konnte? Es gab so viele Risiken, die in den zweieinhalb kommenden Monaten auftreten konnten, dass ich gar nicht darüber nachdenken wollte.

Meine Schritte stockten, als ich an dem gelben Briefkasten vorbeikam. Dem Briefkasten, in den ich über all die Jahre all die Briefe an Amaliel hineingeworfen hatte. Heute hatte ich keinen dabei. Mit einer Hand berührte ich eine Seite, dann lief ich schnell weiter und ließ die Erinnerungen hinter mir.

{☆}

Im naturwissenschaftlichen Trakt lag der gleiche seltsame Geruch in der Luft wie immer und meine Schuhe quietschten auf dem Linoleumboden. Heute hatte ich wirklich keine Lust auf Biologie, waren meine Gedanken doch die ganze Zeit woanders.

Zum Glück hatte ich das Fach mit Malte zusammen. Malte, mit den mahagonifarbenen Locken und der runden Brille, die ihm immer von der Nase rutschen wollte. Er hatte die Fähigkeit, dass jeder Unterricht mit ihm schneller vorbeiging.

»Wie waren die Ferien?«, fragte er, während er sorgsam sein Mäppchen neben seinen schwarzen Ordner legte.

Maltes Innerstes stand im großen Kontrast zu seinem Kleidungsstil. Während er immer ein Lächeln und Lösungen zu allen möglichen Problemen parat zu haben schien, hatte ich ihn in kaum etwas anderem gesehen als in schwarzen und vielleicht grauen Klamotten, in denen er regelrecht versank.

»Nichts Besonderes.« Ich folgte seinem Beispiel und drehte mich von ihm weg, um meine Schulsachen auszupacken. Eventuell auch, damit er nicht sah, wie ich versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.

Als ich mich wieder zu Malte drehte, hatte der die Hände auf dem Tisch gefaltet, den Blick auf seine schwarz lackierten Fingernägel gerichtet. Es kam nicht oft vor, dass er sie so trug, aber ich fand es so cool und bewunderte ihn dafür, dass ihm die abschätzenden Blicke, die ihm manchmal zugeworfen wurden, nichts auszumachen schienen.

»Du warst zwei Wochen allein zuhause. Da hättest du Alex und mich ruhig einladen können.« Es schwang kein Vorwurf in seiner Stimme mit, natürlich nicht, schließlich war er Malte.

Ich schnaubte. Allein war ich sicher nicht gewesen, aber davon durfte Malte nichts wissen. »Vielleicht ein anderes Mal, es war ganz schön allein zu sein. Aber wie waren deine Ferien?«

»Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass du mich zu dir einlädst«, antwortete er trocken.

Wir fingen gleichzeitig an zu lachen, bis der Lehrer uns unterbrach, indem er lautstark seine Tasche auf dem Pult abstellte.

{☆}

Kaum war Pause, erhoben Malte und ich uns gleichzeitig von unseren Plätzen und ließen den tristen Biologie-Raum hinter uns. Wir steuerten den Oberstufenaufenthaltsraum an, in dem wir die meisten Pausen verbrachten. Alex und ein paar andere waren schon da.

»Hey«, begrüßte er uns. »Carlotta, Davis und ich hatten vor, für die Mittagspause Pizza zu bestellen.« Er deutete vage hinter sich auf das großgewachsene blonde Mädchen mit Nasenpiercing und den dunkelhäutigen Jungen, der seine Mütze über die Augen gezogen hatte und auf dem Sofa schlief. »Willst du auch eine? Ich würde dann gleich da anrufen.«

»Klar«, ergriff Malte sofort die Initiative und schmiss sich neben Davis aufs Sofa. Der gab einen genervten Laut von sich und rückte etwas zur Seite. »Einmal Peperoni, bitte.«

»Man, Malte. Du hast doch nicht mal Schule heute Mittag. Chemie entfällt.« Alex schüttelte grinsend den Kopf, seine Dreads flogen hin und her.

»Scheiße, echt? Geil.« Er lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Ich nehm' trotzdem 'ne Pizza, wenn sich schon mal die Möglichkeit bietet.«

»Wir bestellen uns fast jede Woche was.« Alex gab die Diskussion mit Malte auf, als dieser nicht mehr antwortete, und drehte sich stattdessen zu mir. »Und was willst du?«

»Margherita«, entschied ich und zog mir einen Stuhl heran, um mich zu den anderen zu setzen. Vielleicht würde etwas von der Pizza übrigbleiben, die könnte Amaliel dann haben. Darüber würde er sich sicher freuen.

»Du bestellst immer die langweiligsten Pizzen«, beschwerte sich Alex, schmunzelte aber.

»Musst du nicht auch lernen?«, fragte ich, während ich mich auf die Suche nach meinen Lernzetteln machte, um sie ein letztes Mal zu wiederholen.

»Ach, scheiß doch auch Religion, das brauchen wir später sowieso nicht mehr.«

Ich schüttelte nur den Kopf. Wenn Alex sich nicht für etwas interessierte, war es kaum möglich, ihn dazu zu bewegen, etwas dafür zu lernen. Wenn ihm jedoch etwas wichtig war, dann brannte er dafür und scheute keine Risiken, um sein Ziel zu erreichen.

Sogar Malte schaute auf einen zerfledderten Zettel, der bis ins kleinste Eck vollgeschrieben war. Er schrieb im Gegensatz zu uns Ethik, ein Fach, das er wirklich mochte. Davis lugte ihm mit zusammengekniffenen Augen über die Schulter, gab aber rasch auf und ließ sich zurück ins Sofa fallen.

Alex stand auf, um draußen mit dem Pizzalieferdienst zu telefonieren. Ich lernte den Rest der Pause.

{☆}

Auf Mary traf ich, als ich gerade die Tür zum Klassenzimmer möglichst leise hinter mir schloss. Ein paar meiner Klassenkameraden schrieben noch.

Mary, eigentlich Maria, kam genau im gleichen Moment aus dem Zimmer mir gegenüber. Sie hatte mit Malte zusammen Ethik geschrieben. Heute trug sie einen roten Rock, der um ihre Knöchel schwang.

»Hey.« Ich lächelte sie an. »Wie war die Arbeit?«

Wir machten uns auf den Weg zum Treppenhaus, in dem uns prompt ein Fünft- oder Sechstklässler entgegenkam, der die Stufen nach oben rannte.

»Ich glaube, die zweite Aufgabe war nicht gut. Ich wusste nicht ganz, was sie bei der von mir wollte, also habe ich alles hingeschrieben, was ich wusste. Ich hoffe, das ist richtig.« Marys Stimme war etwas zittrig, sie war oft sehr nervös vor Arbeiten, das legte sich erst im Laufe des Tages wieder.

»Ich bin mir sicher, es wird eine gute Klausur werden«, sprach ich ihr Mut zu.

Mary zuckte die Schultern und kaute auf der Unterlippe herum. »Wie war es bei dir?«, fragte sie schließlich.

»Ach, besser, als ich erwartet hätte. Ich hatte bis gestern Abend vergessen, dass wir eine Arbeit schreiben und konnte deswegen auch erst dann anfangen zu lernen.«

»Oh, scheiße.« Sie wirkte genauso erschrocken wie ich, als ich mich an die Klausur erinnert hatte.

»Ach, halb so schlimm. Am Ende war es ganz gut.« Wir waren im Erdgeschoss angekommen. Es war noch fast leer, die Pause begann offiziell erst in fünf Minuten. »Was hast du als nächstes?«

»Chemie.« Sie verzog das Gesicht. »Ich frag mich, warum ich das gewählt habe.«

»Stimmt. Ich habe Physik, auch nicht viel besser. Gerade ist es so langweilig.« Wir liefen durch die Eingangstüren, bis wir auf dem Schulhof standen. Manche meiner Pausen verbrachte ich mit Mary, andere mit Alex und Malte. So war es schon das ganze Schuljahr.

Ich hatte Mary erst kennengelernt, als sie sich in Mathe auf den leeren Platz neben mir gesetzt hatte – es war der letzte, der frei gewesen war. Davor war sie in einer meiner Parallelklassen gewesen, mit denen ich nicht viel zu tun hatte.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich mir gegenüber geöffnet hatte. Ihre Mitschüler hatten sie immer ausgeschlossen, deswegen fühlte sie sich auch unter meinen anderen Freunden nicht wohl. Immerzu erwartete sie die gehässigen Kommentare zu ihrer Figur oder ihrer Art, so hatte sie es mir erklärt. Ich wollte ihr helfen, konnte aber nicht mehr tun, als für sie da zu sein.

Darum hatte ich nun zwei separate Freundesgruppen.

Wir setzten uns auf eine Bank am Rand des Schulhofs, von der aus man die anderen Schüler gut überblicken konnte. Ein Ahorn spendete uns Schatten vor der Sonne, die den Beton zu unseren Füßen anstrahlte. Heute würde es wieder warm werden, aber das war nicht zu vergleichen mit den nächsten Tagen, wenn ich dem Wetterbericht glauben wollte. Über dreißig Grad und kein Fleckchen Wolken am Himmel. Ich hoffte nur, dass es in unserem Gartenhaus nicht allzu heiß werden würde und Amaliel vor sich hin brutzelte.

»Wie waren die Ferien?«, fragte ich Mary, während ich in meiner Schultasche nach meiner Vesperdose kramte. Eine Gruppe Schüler aus jüngeren Klassen kam auf den Schulhof gerannt, um sich eine der Tischtennisplatten zu sichern. Ich erinnerte mich, wie Alex früher immer der erste gewesen war, der aus dem Klassenzimmer gestürmt war, um sich einen der Plätze zu schnappen.

»Schön«, sagte sie leise, den Blick wehmütig auf die Kinder gerichtet. »Meine Mutter hat einen neuen Freund.«

»Magst du ihn?«, fragte ich vorsichtig nach, ich wusste nicht, ob ich mich auf gefährliches Terrain begab und Mary sich vor mir verschloss. Mein Herz wurde warm, als mir klar wurde, dass sie mir diese Information vor einem halben Jahr nicht anvertraut hatte. Vertrauensprobleme waren bei ihrer Vorgeschichte kein Wunder.

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Ich habe ihn nur einmal getroffen. Beim ersten Mal sind sie alle nett, sie müssen einen guten Eindruck hinterlassen.«

Ich wusste nicht ganz, was ich darauf erwidern sollte, so nickte ich bloß und lehnte mich ein Stück vor. »Wenn deine Mutter glücklich mit ihm ist, dann ... wird er wohl gut sein.« Meine Antwort war plump, aber sie brachte Mary zum Lächeln.

»Ja, das wird wohl wahr sein. Solange sie ihm nicht überdrüssig wird, ist alles gut.« Sie strich sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares nach hinten. Dabei blitzte etwas im Licht der Sonne auf.

»Ist der Ring neu?«, fragte ich. An ihrem Zeigefinger steckte ein dünner silberner Ring mit einem glänzenden blauen Stein, der sich schön von ihrem dunkleren Teint abhob.

»Ja.« Ein Lächeln huschte über ihre sanften Züge. »Ich habe ihn in den Ferien gemacht. Gefällt er dir?«

Alle ihre Ringe waren selbstgemacht, aus dünnem silbernem Draht und schönen Steinen. Die meisten waren orange oder gelb, gerade deswegen war mir der neue Ring sofort aufgefallen.

»Alle deine Ringe sind schön, Mary. Alles, was du machst, ist schön.«

{☆}

Ich traf Alex und Malte nach Physik wieder im Aufenthaltsraum, wo sie beide an ihren Handys hingen, aber aufschauten, als ich mich zu ihnen gesellte.

»Davis hat sich dazu bereiterklärt, die Pizzen zu holen«, informierte Alex mich, während ich mich auf einen Stuhl setzte. Ich hatte noch nicht allzu großen Hunger, aber das würde sich ändern, sobald das Essen vor mir stand.

»Warst du vorhin bei Maria?«, fragte Malte. Seine Finger flogen über den Bildschirm seines Handys, er war immer damit beschäftigt, irgendjemandem zu schreiben, den außer ihm niemand von uns kannte.

»Ja ...« Ich war immer etwas zögerlich, wenn es um Mary ging, unsere Freundschaft war noch so jung.

»Bring sie doch mal zu uns«, schlug Alex vor, »dann seid ihr nicht immer allein.«

»Ich weiß nicht, ob sie das mag. Sie kennt euch alle nicht.« Es war nicht das erste Mal, dass der Vorschlag kam. Natürlich freute es mich, dass meine Freunde sie kennenlernen wollten, aber ich wusste nicht, ob es das Richtige für Mary war.

»Delian. Wenn du sie nie mitbringst, kann sie uns auch nicht kennenlernen. Einfache Mathematik.« Alex warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, woraufhin ich schmunzelnd den Kopf schüttelte.

»Läuft da was zwischen euch?« Malte hatte sich auf dem dunkelroten Sofa aufgesetzt, das Handy lag ausgeschaltet in seiner Hand.

»Nein.« Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis diese Frage kommen würde, ich hatte praktisch schon darauf gewartet. »Nein, glaub mir«, wiederholte ich.

»Da ist sich aber einer sicher«, kommentierte Alex, während Malte mich mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete. Dann zuckte er mit den Schultern und widmete sich wieder seinem Handy.

Ahnte er etwas?, fragte ich mich mit einem Mal. Hatte Malte eine Vermutung, warum zwischen mir und Mary „nichts lief"? Und wäre das schlimm?

Ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn im selben Moment zog Davis schwungvoll die Tür auf und kam mit fünf Pizzakartons und Carlotta im Schlepptau in den Aufenthaltsraum spaziert.

»Pizza, Baby!«, rief er laut und glücklich und machte sich daran, jedem die seine zu geben. Die Anspannung verließ meine Schultern, als die Aufmerksamkeit nicht mehr auf mir lag und sich alle ihrer Pizza widmeten.


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