Kapitel 11
»Hier, ich habe dir meinen Stundenplan abfotografiert. Dann siehst du, ob ich es bin, der nach Hause kommt, oder meine Eltern.« Ich hielt Amaliel mein altes Handy hin, das er dankend annahm.
»Jetzt fehlt noch ein Punkt«, bemerkte er, nachdem er das Gerät eingesteckt hatte. »Wie und wann komme ich an Essen?«
»Wir haben sicher noch eine Packung Knäckebrot, die du mitnehmen kannst. Das wird nicht so leicht schlecht. Du kannst auch noch zwei Flaschen Wasser haben.« Ich lief durch die Küche und öffnete einige Schränke, um nach weiteren Essensmöglichkeiten für Amaliel zu suchen. »Hier sind noch Müsliriegel und getrocknete Apfelringe. Das macht alles nicht wirklich satt, aber es ist besser als nichts.«
»Danke«, murmelte er und betrachtete die Plastikverpackungen in seinen Händen. Sicher hatte er es sich anders vorgestellt.
»Du kannst sicher auch öfters hier essen, es gibt oft noch Reste. Oder ich bringe dir etwas mit«, versuchte ich ihn aufzumuntern.
»Das ist es nicht.« Er hob den Kopf, helle braune Augen blickten mich hilfesuchend an. »Ich ... ich habe es bis jetzt selbst nicht ganz verstanden, dass ich ... einfach abgehauen bin wie ein Feigling. Aber du versuchst alles, damit es mir hier gut geht, und ... eigentlich solltest du das doch gar nicht. Du solltest mich dazu überreden, zurück nach Hause zu gehen.«
»Ich weiß nicht, wie sehr das gerade dein Zuhause ist, wenn es sich so toxisch anfühlt.« Ich widerstand dem Drang, ihn zu berühren. »Du bist nicht feige und ich kann dich nicht dorthin zurücklassen. Das macht dich kaputt, die Menschen, die Erwartungen an dich.«
Ich suchte seinen Blick, wollte wissen, ob ich weiterreden konnte, ohne dass es etwas in ihm kaputt machte. Er biss sich auf die Wange, die Hände verkrampft, aber die Augen unentwegt auf mich gerichtet. Das gab mir genug Bestätigung.
»Ich kenne dich, so wie du mich kennst. Vielleicht nicht alles an dir, aber das Echte. Und nicht die Seite, die du deinen Freunden zeigst.«
Ein trauriges Lächeln hatte sich auf seine Lippen gelegt. »Irgendwie ist alles, was du sagst, wahr. Du solltest deine Weisheiten veröffentlichen.«
Sein Scherz misslang, dennoch hoben sich meine Mundwinkel. »Ich bleibe bei meiner Poesie. Wieder etwas, von dem nur du weißt.«
Seine Miene hellte sich auf. »Die solltest du wirklich veröffentlichen. Ich hasse lesen, aber deine Poesie würde ich verschlingen.«
»Lieber nicht. Das ist zu persönlich.« Ich biss mir auf die Unterlippe und fixierte den hellen Boden zu unseren Füßen, um nicht in Amaliels strahlende Augen zu schauen.
So viele meiner Gedichte drehten sich um ihn, hatte er das bemerkt? All die Sehnsucht, die an ihnen haftete, Sehnsucht nach ihm, all die Gefühlen, die ich nicht haben sollte. Gestern hatte ich ein neues Gedicht geschrieben, als ich in meinem Bett lag, erschlagen von den Gefühlen, die nach dem Kuss in mir tobten.
Worte bedeuten mehr in der Nacht, so hatte ich es genannt. Ich hatte es nicht wie die anderen in das schöne dunkle Notizbuch geschrieben, das Amaliel mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, sondern auf einen Zettel, den ich in meinen Sachen gefunden hatte, etwas zerknittert und jetzt an manchen Stellen durch meine Tränen gewellt. Ich hatte ihn versteckt, zwischen zwei Büchern in meinem Regal, damit niemand ihn finden sollte. Vor allem nicht Amaliel.
Mitternacht steht im Raum
Nur du und ich
Und ein Kuss
Voller ungesagter Worte
Die uns alles bedeuten
Wenn der Morgen graut
Ist aus dir und mir
Ein wir geworden?
Ich bekam nicht mit, was Amaliel mir noch antwortete, aber es schien nicht von allzu großer Bedeutung zu sein, weil er schon wieder das Essen in seinen Händen betrachtete.
»Wollen wir das alles ins Gartenhaus bringen?«, fragte ich, um von dem alten Thema wegzukommen.
»Wenn du noch das Knäckebrot holst, gern.«
»Stimmt.« Ich hörte, wie Amaliel sich entfernte, hatte mich aber schon zu den Schränken umgedreht. Er kam nicht zurück und als ich auch das Wasser besorgt hatte, machte ich mich auf den Weg ins Gartenhaus.
Bei meinem Eintreten hob er den Kopf und strich sich einige blonde Strähnen aus der Stirn. Er saß hinter dem großen Regal, so, dass ich ihn gerade noch sehen konnte, die Beine angewinkelt und die Arme darum geschlungen.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stellte ich die Sachen auf dem Boden ab und nahm neben ihm Platz. Ich musste im Schneidersitz sitzen, weil ich in der Lücke zwischen Regal und Außenwand Platz genommen hatte.
Amaliel starrte einige Zeit auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne, bevor er seinen Kopf in meine Richtung drehte. Sein Kehlkopf bewegte sich, als er schluckte.
»Ich habe Angst.«
Nur ein einfacher Satz, aber er brach mir das Herz. Egal, was gestern alles passiert war, ich konnte dem Drang nicht mehr widerstehen, mich ihm zu nähern und meinen Arm um seine Schultern zu legen. Seine Muskeln waren angespannt und ich wartete, bis er sich langsam aus seiner Starre gelöst hatte.
Dann begann er zu sprechen.
»Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. O Gott, ich hätte das ganz bestimmt nicht tun sollen. Cara macht sich Sorgen um mich, sie ganz besonders. Fuck. Ich ...« Er befeuchtete seine Unterlippe. »Ich bin manchmal abgehauen, aber meistens war ich nur eine Nacht weg, einfach nur unterwegs. Einmal waren es drei – Anfang des Jahres –, aber nie mehr. Und es hat mir nie dieses Gefühl der Losgelöstheit gegeben, das ich hatte, sobald ich dich gesehen habe.«
Obwohl es um ihn ging und nicht um uns, konnte ich nicht verhindern, dass mein Herz schneller schlug bei seinen Worten.
»Aber ich will einfach nicht, dass sie mich finden. Ich will diesen Abstand, von meinen Freunden, meiner Familie, einfach von allen. Auch Cara. Und wenn ich ihnen etwas gesagt hätte, dann ... dann hätten sie von dir erfahren. Und sie wüssten, dass ich hier bin. Ich will das alles nicht.«
»Was willst du dann?«, fragte ich ohne nachzudenken.
Seine Augen fanden meine und ich musste schlucken. Plötzlich spürte ich jede Stelle, an der wir uns berührten, überdeutlich. Unsere Knie, die nur durch zwei Lagen Stoff getrennt wurden, mein Arm um seine Schultern, seine warme Haut unter meinen Fingerspitzen. Wenn Amaliel mir so nah war, konnte ich das Grün in seinen Augen sehen und seinen Atem an meinem Kinn spüren.
»Manchmal weiß ich es nicht genau«, erwiderte er leise. Seine Stimme schien eine Nuance tiefer geworden zu sein, vielleicht kam es mir nur so vor.
Als er den Blickkontakt abbrach, hätte ich am liebsten erleichtert ausgeatmet.
Gerade wollte ich zu einer Antwort ansetzen, als Amaliel seinen Kopf langsam neigte, bis er auf meiner Schulter lag. Scheiße. Scheiße! Sein Kopf lag auf meiner Schulter.
Ich wusste, ich hatte es auch schon bei ihm gemacht, aber ich hätte nie geahnt, wie es sich anfühlen würde, wenn er sich so an mich lehnte. Ich konnte nicht anders, als still dazusitzen und Amaliels angenehme Wärme an meinem Körper zu genießen.
Ein Seufzen verließ seinen Mund und ein Blick auf ihn zeigte mir, dass er die Augen geschlossen hatte. Wie konnte er sich so entspannt an mich lehnen, wenn mein Atem schon stockte, wenn er mich nur ansah?
Fast kam es mir so vor, als hätte er unseren Kuss und all das andere zwischen uns schon wieder vergessen. Oder verdrängt. Vielleicht sollte ich das auch machen, nicht mehr an den Ereignissen festhängen, die sich in mein Gehirn gebrannt hatten. Wenn man die Schmetterlinge im Bauch doch nur abstellen könnte.
Ich wollte die letzten Momente, die ich in Ruhe mit Amaliel hatte, genießen können. Aber so sehr ich es auch versuchte, ich konnte nicht ignorieren, dass ich mich in meinen Brieffreund verliebt hatte. Und das schlimmste war, dass ich keine Ahnung hatte, was er fühlte.
»Es gibt zwei Szenarien«, nahm er den Faden wieder auf, die Stimme gesenkt. »Entweder das alles hier fliegt in den ersten zwei Tagen auf oder wir können es bis zum Ende durchziehen.«
»Ich hoffe auf zweiteres.« Meine Stimme versagte beinahe und ich musste mich räuspern.
Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Ich auch, sonst sind wir ganz schön am Arsch.«
Mein Arm rutschte von Amaliels Schulter, als der sich bewegte und wieder aufrecht hinsetzte. Mit einer Hand strich er sich das blonde Haar nach hinten, dann seufzte er erneut.
Ich beschloss, dass es Zeit war, das nächste Vorgehen zu besprechen. »Meine Mutter arbeitet morgen noch nicht, mein Vater schon. Wenn sie das Haus verlassen sollte, sage ich dir Bescheid. Ich kann dir die Reste von unserem Essen mitgeben und vielleicht noch etwas anderes besorgen.« Mit einem Blick durch das Gartenhaus fiel mir auf, dass ein Tag hier drin verdammt langweilig werden konnte. »Wenn du magst, kann ich dir ein Buch leihen.«
»Lieber nicht.« Sein Lachen sandte warme Schauer meinen Rücken herunter. »Da mach ich lieber den ganzen Tag Liegestütz und Sit-Ups, als ein Buch zu lesen, sorry.«
Ich zog abschätzend die Augenbrauen hoch. »Ich kann also erwarten, dass hier in zwei Monaten ein Muskelprotz sitzen wird?«
»Wenn es das ist, worauf du stehst.«
Er sagte das so beiläufig, dass ich mich an meiner Spucke verschluckte und husten musste. War ihm klar, was er mit solchen Aussagen bei mir auslöste? Er flirtete mit mir. Und vorgestern war er geflohen, nachdem er mich geküsst hatte.
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte in seinen Kopf schauen, um zu wissen, warum er sich so widersprüchlich verhielt.
Wenn ich doch nur wüsste, ob er das mit uns insgeheim auch wollte und es mir nur nicht sagen konnte ...
»Sorry«, murmelte er, immer noch mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass es schon halb zwölf war. Meine Eltern kamen am Nachmittag, aber wann genau hatten sie nicht gesagt.
»Okay, fällt dir noch irgendwas ein, das du brauchst? Sonst würde ich jetzt schnell Nudeln kochen, die du heute Abend und morgen essen kannst.«
Einige Momente schaute Amaliel geradeaus, ganz still. Ich versuchte, sein Seitenprofil nicht zu offensichtlich anzustarren, aber schon nach wenigen Momenten hoben sich seine Mundwinkel und er drehte das Gesicht in meine Richtung. Er hatte es bemerkt, ich wusste es.
»Nein, mir fällt nichts mehr ein.« Dann hellte sich seine Miene auf. »Obwohl ... wenn ihr zufällig noch Sudokus oder Ähnliches zuhause rumliegen habt. Mit irgendwas muss ich mir ja die Zeit vertreiben.«
»Ich habe noch mindestens zwei Rätselhefte, die ich nie gemacht habe. Die sind im Wohnzimmer in einem der Schränke. Du kannst sie suchen, während ich die Nudeln koche.«
»Das ist eine gute Idee.« Amaliel stützte sich mit einer Hand am Boden ab, einer seiner Finger berührte meine, bevor er sich erhob.
Wir machten uns auf den Weg ins Haus und im Wohnzimmer zeigte ich auf die Schränke neben dem Fernseher. »Wahrscheinlich sind die Hefte auf der linken Seite, du musst einfach mal schauen. Und Kugelschreiber legen hier auch genug herum, nimm dir ein oder zwei mit, das merkt niemand.«
Ich wartete sein Nicken ab, dann begab ich mich in die Küche.
{☆}
Es war später Nachmittag, ich saß auf dem Sofa. Bis vor einer Stunde hatte Amaliel noch bei mir gesessen, bis er aufgestanden war und mit einem verlorenen Ausdruck in den Augen das Haus verlassen hatte.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und ich richtete mich kerzengerade auf. Meine Eltern waren da. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Delian?«, ertönte die Stimme meiner Mutter.
Schwerfällig erhob ich mich und tapste in den Durchgang zum Flur, damit sie mich sehen konnte. »Hi. Wie war der Urlaub?«
»Lass mich doch erstmal ankommen.« Sie schenkte mir ein erschöpftes Lächeln und fuhr sich durch die dunkelbraunen Haare, die ihr bis zur Brust reichten. »Kannst du den Koffer ins Wohnzimmer stellen? Der ist zu groß für unseren Flur.«
»Klar.« Als ich den großen dunkelroten Koffer verräumt hatte, war auch mein Vater mit dem restlichen Gepäck im Haus angekommen.
»Hallo, Delian. Wie waren die zwei Wochen sturmfreie Bude? Ich hoffe doch, hier haben keine wilden Partys stattgefunden.« Ich wusste, dass er es nicht ernst meinte, und doch schwang immer ein leiser Vorwurf in seiner Stimme mit.
»Keine, von denen du jetzt noch Spuren finden solltest«, antwortete ich scheinheilig. »Du weißt doch, wie brav ich bin.«
Darüber schüttelte mein Vater amüsiert den Kopf. Er wusste, dass ich anständiger war als die meisten in meinem Alter und er sich eigentlich nur so ein Kind gewünscht hatte. Wenn man davon absah, dass ich schwul war. Und Vegetarier sein wollte.
Ich war nicht geplant gewesen, meine Eltern hatten eine lockere Beziehung gehabt, als meine Mutter schwanger geworden war. Mit gerade mal zwanzig hatte sie mich auf die Welt gebracht, mein Vater war fünf Jahre älter. Meine Eltern hatten nie geheiratet, deswegen trug ich den Nachnamen meiner Mutter. Aber sie lebten immer noch zusammen, auch wenn ich nicht wusste, inwiefern dabei romantische Gefühle eine Rolle spielten oder gespielt hatten.
Dieser Urlaub war, so schätzte ich, der Versuch herauszufinden, ob da noch etwas zwischen ihnen war. Aber dem ersten Eindruck nach hatte sich nichts in ihrer Beziehung geändert.
Als meine Eltern sich an die Arbeit machten, ihre Sachen aufzuräumen, saß ich unbeteiligt auf dem Sofa und tat so, als wäre ich mit meinem Handy beschäftigt. In Wahrheit fühlten sich meine Finger so zittrig an und meine Gedanken flogen immer wieder zu Amaliel, der sich gerade im Gartenhaus versteckte, dass ich mich unmöglich auf etwas anderes konzentrieren konnte. Ich hoffte, dass meine Eltern nichts von meiner Unruhe mitbekamen.
Irgendwann erhob ich mich von der Couch und setzte mich an den Tisch. Eine halb volle Tasse vergessener Tee von heute Morgen begrüßte mich. Wenigstens hatte ich daran gedacht, das ganze Geschirr, das Amaliel und ich benutzt hatten, in die Spülmaschine zu räumen und diese anzuschalten.
»Wie fandest du die zwei Wochen allein hier?« Meine Mutter setzte sich mir gegenüber an den runden Tisch und strich sich eine Strähne zurück.
Ich zuckte mit den Schultern und starrte in den erkalteten Tee, damit sie nicht bemerkte, wie ich ein Lächeln unterdrücken musste. »Ach, wie soll es schon gewesen sein? Nur weil ihr zwei Wochen nicht hier seid, heißt das nicht, dass ich viel unternehme und aufregende Dinge erlebe.«
Sie lachte ihr glockenhelles Lachen. »Oh, man kann nie wissen. Solange du nicht so eine Partymaus wirst wie ich.«
»Wie war es bei euch?« Meine Eltern waren die letzten beiden Wochen in Hamburg gewesen und damit Amaliels Zuhause in Schwerin näher als er selbst.
»Ich kenne ja Hamburg schon.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber es war schön, mal länger da zu sein und die Zeit zu genießen, anstatt immer nur bis zum nächsten Flug zurück nach Hause. So kann man die Stadt viel besser kennenlernen. Und wir konnten auch Ben endlich wieder treffen.«
Ben war ein alter Freund meiner Eltern, der vor Jahren von hier weggezogen war und den ich seit meiner Grundschulzeit nicht mehr gesehen hatte. In meiner Erinnerung war er ein drahtiger blonder Mann mit einer riesigen Brille auf der Nase.
»Das ist schön«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel.
Wir redeten weiter über den Urlaub, meine Mutter zeigte mir die Bilder, die sie in der Zeit gemacht hatte. Einige hatten enge Gassen etwas außerhalb der Innenstadt eingefangen, ein von Pflanzen überwucherter Riss in einer alten Betonmauer, die Spiegelung einer der vielen Brücken auf dem Wasser.
Ihre Bilder fingen immer die Geschichten der kleinen Dinge ein und nicht die Touristenattraktionen, die alle anderen ansteuerten.
Als sie schließlich aufstand, um das Abendessen vorzubereiten, war schon beinahe wieder Normalität eingekehrt. Bis mein Kopf sich wieder einschaltete und den Gedanken an Amaliel zurück auf seinen präsenten Platz schob. Ich seufzte und begab mich in die Küche, um meiner Mutter zu helfen und mich ein Stück weit auf andere Gedanken zu bringen.
Mein Vater gesellte sich zum Essen zu uns und brachte mich und meine Mutter mit einer schlechten Imitation eines norddeutschen Dialekts zum Lachen.
Meine angespannten Schultern lösten sich, als in mir die leise Hoffnung aufkeimte, dass meine Eltern sich auf der Reise wieder nähergekommen waren. Sie waren schon lange nicht mehr ineinander verliebt, das war mir schon vor Jahren klar geworden. Ich war einer der wenigen Gründe, die sie noch verband, von ihrer freundschaftlichen Verbundenheit abgesehen.
Ich wollte nicht, fass sie sich irgendwann trennten, schließlich kannte ich nur meine Eltern zusammen. Aber wenn es so weit käme, würde ich es akzeptieren. Sie wussten, was am besten für sie war.
{☆}
Nach dem Essen verschwand ich schnell nach oben in mein Zimmer. Mit einem leisen Klacken fiel die Tür ins Schloss, ich ließ mich daran heruntergleiten und schloss einen Moment die Augen.
Morgen fing die Schule wieder an, dann konnte ich seltener nach Amaliel sehen. Hoffentlich würde er allein klarkommen und nicht geradeaus in die Hände meiner Eltern laufen.
Vielleicht machte ich mir auch zu viele Sorgen, vielleicht würde alles gut werden. Ich sollte einfach für einen Moment aufhören zu denken.
Als ich meine Augen wieder öffnete, fiel mein Blick auf meine Schulsachen, die seit Beginn der Ferien unberührt in einer Ecke standen. Meine Augen weiteten sich, als mir siedend heiß einfiel, dass ich morgen eine Klausur in Religion schrieb.
»Scheiße«, fluchte ich unterdrückt, damit meine Eltern mich nicht hörten, und sprang vom Boden auf. Ich hatte diese Arbeit so verdrängt bei allem, was in den letzten Wochen passiert war, dass ich nicht einmal mehr wusste, was abgefragt werden würde. Scheiße.
Eine halbe Stunde später ließ ich mich stöhnend auf mein Bett fallen und entschied, dass Religion mir gestohlen bleiben konnte. Es war doch nur ein Nebenfach, das war nicht so wichtig, richtig?
Eine weitere halbe Stunde später saß ich wieder vor meinen Aufschrieben und versuchte sie zu verstehen und mir zu merken. Es dauerte lange, bis ich meine Sachen einmal durchgeschaut hatte, die meisten Texte musste ich doppelt lesen, weil ich mich kaum konzentrieren konnte. Heute war kein guter Tag zum Lernen.
Es war nach dreiundzwanzig Uhr, als ich meine Eltern zu Bett gehen hörte. Ich lauschte auf ihre Schritte, die Stimmen im Bad und schließlich das Schließen der Schlafzimmertür.
Mehr als zehn Minuten hielt ich es nicht aus, bis ich auf leisen Sohlen aus meinem Zimmer und nach unten ins Wohnzimmer schlich. Mir war noch etwas eingefallen, das ich Amaliel geben musste, und das nahm ich jetzt als Vorwand, um zu ihm zu gehen.
In Wirklichkeit konnte ich dem Drang nicht widerstehen, nach ihm zu schauen. Wenn ich nicht wusste, wie es ging, verstärkte es meine innere Unruhe.
So kam es, dass ich um halb zwölf über den schwach von Laternen erleuchteten Rasen zur Holzhütte schlich, in der Amaliel jetzt lebte. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, auch wenn mich niemand sehen sollte. Erst als ich an der Tür klopfte, wagte ich auszuatmen. Nach wenigen Herzschlägen erklangen Schritte im Inneren und der Schüssel wurde herumgedreht.
»Eli. Was machst du hier?« Amaliel stand mit verwuschelten Haaren in der Dunkelheit des Gartenhauses und schaute auf mich herunter. Er trat zur Seite und ließ mich ein. »Hast du mich schon vermisst?«
Ein kleiner Teil in mir wollte Ja antworten. Ja, ich hatte ihn beim Abendessen und auch danach vermisst, schon so sehr hatte ich mich an ihn gewöhnt. Ich vermisste seine Nähe.
Ich antwortete nichts davon, setzte mich nur neben seinen Schlafplatz, auf dem er sich jetzt wieder niederließ, und gab ihm einen Zettel. »Das ist der Code für die Terrassentür. Du hast Glück, dass man unsere von außen öffnen kann, sonst könntest du überhaupt nicht ins Haus.«
Ein paar Sekunden betrachtete er die sechs Zahlen auf dem Zettel, die in dem schwachen Lichteinfall der Laternen kaum erkennbar waren, dann nickte er. »Hab mich schon gefragt, warum ihr da so 'nen Gerät rumhängen habt.«
»Das soll gegen Einbrecher sein. Wenn sich jemand an der Tür zu schaffen macht, geht ein Alarm los. Deswegen der Code zum Öffnen.«
Amaliel schnaubte. »Und deswegen ist das auch dein Geburtstag. Damit Einbrecher kein so leichtes Spiel haben.«
Ich öffnete und schloss den Mund wieder dann schüttelte ich den Kopf. »Den Code hat mein Vater ausgesucht. Sein Problem.«
»2-5-0-5-0-2«, murmelte Amaliel. »Das sind auch nur drei Zahlen, das macht es nochmal einfacher.«
»Meine Güte, Mali. Ich bin nicht hierhergekommen, um mit dir über unseren Diebstahlschutz zu reden. Bis jetzt hat es noch niemand versucht, also ist alles gut.«
Er schmunzelte und nickte. »Dann bedanke ich mich herzlich für den Code, ohne den ich nicht bei euch einbrechen könnte.«
Mit verschränkten Armen lehnte ich mich an die Holzwand hinter mir. »Du bist ein Arsch«, stellte ich fest.
»Aber, aber«, rief er aus. »Ich wusste gar nicht, dass du solche bösen Wörter überhaupt kennst.«
»Ach, lass mich doch in Ruhe«, stöhnte ich und musste lachen. »Brauchst du sonst noch etwas? Ich müsste nämlich ins Bett, weil ich morgen Religion schreibe.«
»Dann lass dich nicht aufhalten. Viel Erfolg bei der Arbeit.« Amaliel machte Anstalten aufzustehen, also folgte ich seinem Beispiel und ging die wenigen Schritte bis zur Tür.
Dort angekommen drehte ich mich um und betrachtete sein Gesicht, das unendlich sanft in der fast vollkommenen Dunkelheit wirkte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, um sie nicht einfach an seine Haut zu legen und ihn zu küssen, als gäbe es kein Morgen.
»Wir sehen uns morgen«, sagte ich stattdessen und trat einen Schritt nach draußen auf das kühle Gras. »Gute Nacht.«
»Dir auch. Schlaf gut, Bärchen.« Die Wärme in seiner Stimme ließ einen Schauer über meinen Rücken wandern. »Und danke.«
Bevor ich noch etwas erwidern konnte, hatte er die Tür hinter mir geschlossen. Für einige Sekunden betrachtete ich die Schemen der Hütte vor mir, dann drehte ich mich um und lief auf unser Haus zu.
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