XXXIV Live your dream

Über den Beginn der Herbstferien habe ich mich nicht sehr gefreut, da Paul, mein lieber Freund, weggeht. Er wird für halbes Jahr eine Kunsthochschule in Paris besuchen. Es ist einerseits ein riesen Abenteuer, finde ich. Allein in Paris, der Stadt der Liebe und, nicht zu vergessen, der Mode. Man muss für sich selbst sorgen und es gibt keine Eltern, die dir beistehen. Das kann manchmal echt hart sein. Aber Paul kennt das ja schon, immerhin hatte er schon ein Austauschjahr hinter sich. Und das auf der anderen Seite des Kontinents. Außerdem wird man so oder so auf sich allein gestellt sein, wenn später die Schulzeit vorbei ist. Andererseits befolgt Paul seinem Traum, nämlich ein Modedesigner zu werden. Also sollte ich meine Traurigkeit schleunigst wegstecken und ihn stattdessen das Beste wünschen. Klar freue ich mich total, dass er diese einmalige Chance bekommen hat. Denn wie er mir berichtet hat, nimmt diese Schule nur die Besten der Besten an. Und wer dort seinen Abschluss macht, wird gute Aussichten auf seine zukünftige Karriere haben.

Ich bewundere Paul für seinen Mut und sein Talent. Er zeigt mir häufig seine Skizzen und sie sind alle einzigartig. Ich frage mich zwar, ob sich jemand tatsächlich traut, so etwas wie aus Kabel genähtem Schal zu tragen, aber Individualität beschreibt nun mal die Mode. Sonst gäbe es immer nur die gleichen Sachen und irgendwann wird das Ganze auch uninteressant. Dennoch ... Jedoch ... wird er das nächste halbe Jahr weg sein. Mit wem soll ich dann künftig herumalbern wie Gehirnamputierte?

Sanft drückt mich Paul an sich. „Jetzt guck doch nicht so traurig, süße. Im Frühling bin ich doch wieder da, hm?"

Unfähig irgendein Wort zu sagen, nicke ich leicht und schlinge meine Arme fest um seinen Hals. Ich kenne ihn erst seit zwei Monaten, doch mir ist bereits bei unserem ersten Treffen bewusst, dass er ein Freund fürs Leben ist. Er versteht mich in jeder Situation und weckt Hoffnungen in mir, wenn ich wiedermal „down" bin. Wir teilen unsere tiefsten Geheimnisse, lachen über die unlustigsten Witze und geben uns gegenseitig Stütze. Manchmal ist er mir sogar lieber als Lena, denn sie und ich ... Wir streiten uns ganz schon oft. Meistens wegen ihrer großen Klappe. Sie erzählt Sachen ohne zu überlegen. Ich bin natürlich nicht scharf drauf, dass mein Privatleben wie ein offenes Buch daliegt, wo jeder drin rumblättern kann.

Es ist nicht schlecht, eine große Klappe zu haben. Man wird von vielen gemocht und gilt häufig als der Entertainer. Aber sie schadet dir auch. Man labert unüberlegtes Zeug und verletzt dadurch vielleicht andere Leute. Zwar unabsichtlich, aber der Betroffene fühlt sich danach nicht unbedingt super.

„Langsam muss ich durch die Sicherheitskontrolle gehen", flüstert Paul, dessen Nase in meinen Haaren vergraben ist. Ein letztes Mal sauge ich seinen Geruch ein und lehne mich zurück.

„Du rufst regelmäßig an und erzählst mir alles, okay?", sage ich ernst.

Er zieht die Augenbrauen hoch. „Du klingst wie meine Mutter."

Heftig schlage ich ihn auf dem Arm. „Okay?!", wiederhole ich energisch.

„Aua!", ruft er und verdreht die Augen, „geht klar, Mama. Würdest du jedoch nächstes Mal weniger handgreiflich werden?? Wir stehen inmitten auf dem Flughafen!"

Meine Laune sinkt bei seinem Scherz nochmals um zehn Grad und ich drehe mich eingeschnappt zur Seite. Paul seufzt. „Ich werde dich vermissen", sagt er nun aufrichtig und küsst mich auf die Wange. Ich tue dies ebenfalls und wir verabschieden uns erneut mit einer Umarmung. Außenstehende würde wahrscheinlich schon denken, dass wir ein Paar wären. Das sind wir aber nicht. Meine Vermutung am Anfang bestätigte sich, als Paul mir bei unserem sechsten Treffen gebeichtet hat, dass er homosexuell ist. Ich fand das weder schockierend noch eklig. Vielmehr war ich gespannt, wie es auf unser Verhältnis auswirken wird. Immerhin war ich noch nie mit einem Homosexuellen befreundet.

Paul ist sehr einfühlsam, ganz anders als andere Jungs. Er versteht die typischen Mädchenprobleme, schaut gerne Liebesfilme und mag Kuchenbacken. Mit ihm kann man auch jede Menge Quatsch veranstalten. So haben wir vor kurzem die Hälfte der Toilettenwand mit alten Fashionmagazin Seiten vollbeklebt. Jetzt sieht sie viel bunter und fröhlicher aus. Die Lehrer haben die Verunstaltung entweder noch nicht bemerkt oder sie finden es selber so hübsch, dass sie es dabei belassen wollen.

Außerdem vertrauen wir uns seitdem blind. Paul hat mir eines seiner tiefsten Geheimnisse verraten. Im Gegenzug habe ich ihm meine schmerzhafteste Erinnerung, von denen meine Eltern und Lena null wissen, erzählt.

Paul stellt sich in die Schlange, um von Securities kontrolliert zu werden.

„Mach's gut", rufe ich ihm zu. Er hält seinen Daumen hoch und grinst breit. Anschließend zeigt er auf die Uhr und deutet mir mit einer Handbewegung zu gehen. Er weiß, dass ich von jemandem erwartet werde.

11.32 Uhr. Acht Minuten.


Wenn ich einen erneuten Streit mit meiner besten Freundin vermeiden will, sollte ich mich beeilen.

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