Wie vor einem halben Jahr ~ Teil 3
Das Wesen bewegte sich beinahe lautlos durch die dicht stehenden Büsche und Bäume. Es hielt an und stellte sie, weiterhin zitternd und gelähmt vor Angst, vor einen breiten Stamm. Seine Augen funkelten sie gierig an und sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Sie öffnete ihren Mund, doch es drang kein Ton heraus. Das Wesen hatte einen schmalen Mund und die blassen, bis gerade noch fest aufeinandergepressten Lippen verzogen sich zu einem hässlichen Grinsen. Scharfe Reißzähne blitzten auf und sie riss die Augen auf. Schon wieder hatte sie das Bedürfnis, zu schreien. Wollte es sie etwa verspeisen? Hatte dieses Wesen ihre Mutter gefressen? Sie beobachtete es, während es sich leise von ihr entfernte, um kurz darauf mit einem Seil in der Hand wieder zu ihr zurückzukehren. Erst jetzt fielen ihr die spitzen, gepunkteten Ohren auf dem orangenen, langen Haar und der stetig peitschende Schwanz des Wesens auf. Es gab ein freudiges und zugleich erschauderndes Schnaufen von sich. Mit einem weiteren, großen Schritt stand es direkt vor ihr und sie spürte den starken Atem des Wesens auf ihrer blassen Haut. Es bewegte seine Hand in einer zackigen Bewegung, die sie vor Schreck laut aufkeuchen ließ, auf sie zu und packte ihre beiden Hände, die sie hinter dem Rücken gehalten hatte. Die andere Hand band die zusammengehaltenen Hände an den Baum. Das Seil saß stramm und schnitt ihr in die Handgelenke. Der Schmerz trieb ihr das Wasser in die Augen und ein paar kleine Tränen tropften auf den Waldboden. Es blickte mit vor Freude großen Augen auf die Tropfen. Es hüpfte kurz, bevor es ein weiteres Mal in der Dunkelheit verschwand. Ihr Kopf war ein einziger Horrorfilm. Sie sah sich selbst, zerfetzt und zur Hälfte in Stücke geschnitten, schreiend vor Angst und Schmerz. Sie schloss ihre Augen und weinte. Sie schluchzte laut. Wie ein kleines Kind fühlte sie sich, das von ihrer Mutter getrennt worden und von jetzt an auf sich allein gestellt war, wo es doch gerade erst laufen gelernt hatte. Sie vermisste sie und sie wusste, dass es zu spät war, um zu kämpfen. Die Tränen verschleierten ihren Blick und das Schluchzen übertonte alle anderen Geräusche. Es kam zurück, bewaffnet mit einem kleinen, scharfen Messer, und begann beim Anblick des weinenden Mädchens zu rennen. Es lachte glücklich, aber gehässig und warf das Messer so, dass es in ihrem rechten Bein stecken blieb. Ruckartig hörte sie auf zu schluchzen. Durch die Tränen sah sie etwas Rotes aus ihrem Bein spritzen. Der Schmerz ließ sie endlich aufschreien. Sie schrie vor Schmerz, Verzweiflung und Angst. Es war ein schriller Schrei, der es noch lauter lachen ließ. Es kam zu ihr und zog das Messer aus der tiefen, blutenden Wunde. Er wartete einen Augenblick, bis er es voller Wucht noch einmal in ihr Bein rammte, diesmal oberhalb der anderen Wunde. Ein weiterer Schmerzensschrei ertönte. Sie konnte sich nicht mehr halten und sank auf die Knie, Die Wunden brannten und es fühlte sich an, als würde das Bein nicht mehr zu ihrem Körper gehören. Noch immer sah sie nicht klar, denn die Tränen schossen weiterhin aus ihren Augen. Der Anblick gefiel ihm. Es zog das Messer wieder heraus und richtete sich auf. Es lachte immer weiter und sie hörte, wie sein Schwanz immer heftiger auf den Boden peitschte. Langsam trat es noch näher an sie heran und wischte ihr mit seiner Hand über die nassen Augen. Sie sah ihr von Blut überströmtes Bein. Auch der Erdboden war blutgetränkt. Sie merkte, wie ihr schlecht wurde, doch sie konnte sich nicht übergeben. Das Gefühl jedoch war nichts gegen die Schmerzen in ihrem rechten Bein. Sie wandte ihren Blick ab von der roten Flüssigkeit und fokussierte sich auf das Wesen, welches sich bückte. Es hatte aufgehört zu lachen und grinste nun noch gieriger als zuvor. Das Messer legte es neben sich. Es hob die Hände. Sie erkannte fünf lange, scharfe Krallen, die blutverkrustet waren. Mit einem Fauchen grub sie drei davon in ihre linke Wade und zog sie hinunter. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie schrie lauter und verzweifelter als zuvor und zum ersten Mal an diesem Abend sprach sie. „Bitte...", keuchte sie kraftlos, nachdem der erste Schmerz nachgelassen hatte. Es lachte wieder, diesmal eher belustigt als gehässig, und bohrte seine Krallen noch einmal in ihr Bein. Wieder schrie sie, doch sie hörte nicht auf. Tränen rannen wieder über ihr Gesicht. Es richtete sich auf und lauschte den Schreien mit Genuss. Es liebte diese Verzweiflung, dieses Gefühl, überlegen zu sein. Noch immer schrie sie, doch sie wurde leiser, denn sie spürte, wie sie die Kraft verließ. Das Blut quoll weiter aus ihren Wunden und der Verlust schwächte sie enorm. Er hörte den Schreien noch etwa zu, bevor er an ihr vorbeilief und mit einer seiner Krallen das Seil von ihren Händen löste. War sie nun frei? Ohne darüber nachzudenken, hörte sie auf zu schreien und versuchte sich mit ihren dünnen Armen abzustützen um aufzustehen. Es beobachtete sie und kicherte. Selbst, sich aufrecht hinzusetzen, schaffte sie nicht. Zitternd gaben ihre Arme nach und mit einem dumpfen Laut schlug ihr Kopf gegen den Stamm hinter ihr. Ihr wurde schwindelig. Das Blut sickerte weiterhin aus ihren Wunden. Mit letzter Kraft hielt sie ihre Augen offen. Sie sah, wie es ihren Arm in beide Hände nahm. Es umschloss ihn fest und brach dann ihren Ellenbogen in einer schnellen Bewegung. Es knackte und knirschte. Es war das Knirschen, das Fingernägel an einer Tafel verursachten. Es lachte und trat einen Schritt zurück. Es wusste, es würde nur noch warten müssen. Ihr Arm hing schlaff herunter und auch sie wusste, dass es vorbei war. Es hatte es geschafft. Es hatte gewonnen.
„Mama...", flüsterte sie und eine einzelne letzte Träne lief ihre Wange herunter. Als diese sich auf dem Boden mit ihrem Blut vermischte, schloss sie die Augen. Für immer. Es stand da und grinste still. Es war der Stärkere gewesen. Es hatte sie besiegt wie es auch ihre Mutter besiegt hatte. Ja, ihre Mutter... Damals... Damals, vor einem halben Jahr.
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