Wie vor einem halben Jahr ~ Teil 1

Mit großen, schnellen Schritten entfernte sie sich von der sicheren Unterkunft, die sie soeben verlassen hatte. Der Kies knirschte aufgrund des vor ein paar Minuten gefallenen Regens unter ihren Füßen. Es war ein vertrautes Geräusch und sie wollte nicht, dass es stoppte. Der milde Wind wehte ihr ein paar vereinzelte Haarsträhnen ins Gesicht, das von der Kälte schon ganz gerötet war. Sie fror und beschleunigte ihre Schritte. Schon bald verstummten die Geräusche, die ihre Sneaker auf dem unebenen Boden verursacht hatten. Nun stand sie auf vom Wasser aufgeweichter Erde. Langsam hob sie den Kopf. Vor ihr lag ein scheinbar undurchdringbares Labyrinth aus hoch aufragenden Tannen- und Laubbäumen. Die langen Äste warfen Schatten, als wären sie Klauen eines riesigen Monsters, das nur darauf wartete, sie endlich verschlingen zu können. Ein Schauer durchzuckte sie und sie hatte das Gefühl, der Wind würde stärker werden und sie mit seinen eisigen Fingern umklammern wollen. Voller Unbehagen senkte sie den Blick und zog zitternd den Reißverschluss ihrer Jacke bis zu ihrem Kinn hoch. Das Ratschen ließ sie ruckartig zusammenfahren. Sie wagte es nicht, nach vorne zu schauen. Plötzlich erschien alles lauter: Der Wind dröhnte in ihren vor Kälte schmerzenden Ohren und das Geräusch, dass ihr Jackenärmel verursachte, als sie ihre Hand nach dem Schließen ihres Reißverschlusses sinken ließ, wirkte lauter als das Geschrei ihrer Mutter, damals, als sie die Fünf in Englisch mit nach Hause gebracht hatte. Doch der Gedanke an ihre Mutter schmerzte sie. Sie verfluchte sich selbst, dass sie sich ausgerechnet jetzt hatte daran erinnern müssen. Hastig trat sie zwei Schritte zurück und erschrak vor dem leichten Gefühl, am Boden festzukleben. Obwohl sie sich sicher war, dass sie niemand festhielt, schüttelte sie vorsichtig ihre Fußgelenke, erst das linke, anschließend das rechte. Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter hier gestanden haben musste, vielleicht genauso wie sie, vor Kälte und Angst zitternd, erschrocken über jedes kleinste Geräusch. Eine einzelne Träne tropfte aus dem Augenwinkel ihres rechten Auges und hinterließ eine feuchte Spur auf ihrer rosigen Wange. Doch sie wischte sie nicht weg, obwohl ihr nun noch kälter wurde. Langsam fiel der Tropfen von ihrem Kinn auf den glatten Stoff ihrer zu dünnen Jacke. Mit nassen Augen verfolgte sie den Weg dessen, was die Erinnerung an ihre Mutter hervorgerufen hatte. Für einen kurzen Moment schien es, als würde nur die Träne immer weiter Richtung Boden fließen, während alles andere mitten in der Bewegung gestoppt haben schien und sie fragte sich, ob es auch ihr Schicksal war, in diesem Wald zu verschwinden und nie wieder herauszufinden. Ihre Gedanken kreisten weiter um ihre Mutter, um die Zeit, in der sie sich so nah gestanden hatten und auch um die letzten sechs Monate, in denen sie morgens zur Schule gegangen war und danach Zuhause in ihrem Zimmer geweint hatte. Nun war sie zum ersten Mal wieder freiwillig außerhalb ihres Hauses, doch sie wünschte, sie könnte wieder weinend auf ihrem Bett sitzen. Sie verfolgte die Träne mit ihrem Blick, die sie in einem Bann zu halten schien. Sie fühlte sich leer, die Stille, die sich in ihren Ohren breitgemacht hatte, ließ sie taub werden. Sie sah, wie die Träne das untere Ende ihrer Jacke erreichte und langsam auf den matschigen Boden unter ihren Füßen fiel. Mit dem Augenblick, als der winzige Tropfen nicht mehr zu erkennen war, löste sich die Stille auf. Die Geräusche und die Kälte drangen auf sie ein und sie begann zu zittern. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie damit aufgehört hatte. Der Wind ließ sie deutlich spüren, wo die Träne ihr Gesicht berührt hatte, doch auch dieses Mal hob sie ihre Hand nicht, um die nasse Stelle trocken zu wischen. Sie wusste nicht, warum. Das Rauschen der schon leicht rot und gelb gefärbten Blätter an den Ästen vor ihr erinnerten sie daran, dass sie noch immer vor ihnen stand. Noch immer hatte sie sich nicht getraut, einen weiteren Schritt zu wagen. Sie hob den Kopf und starrte mit glasigen Augen geradeaus auf das Gewirr von Holz und Pflanzen. Sollte sie tatsächlich dort hineingehen? Ihr wurde klar, dass sie gezwungen war. Täte sie es nicht, würde sie erfrieren. Sie atmete schneller und spürte, wie sie trotz der Kälte zu schwitzen begann. Mit einem leisen Seufzen, welches sie abermals zusammenschrecken ließ, schloss sie die Augen und bewegte ihre Füße langsam, Schritt für Schritt, nach vorne. Sie hielt ihren Kopf gesenkt. Schon nach ein paar Sekunden öffnete sie die Augen wieder und konnte ihre eigenen Fußspuren, die sie vor ein paar Minuten hier hinterlassen hatte, noch deutlich in der Erde erkennen. Sie hörte nicht auf, ihre Füße vorsichtig und in kleinen Abständen jeweils vor den anderen zu setzen. Sie wusste, sie könnte nicht weiterlaufen, würde sie einmal aufhören. Als bekäme sie nicht mit, was sie tat, näherte sie sich stetig der undurchschaubaren Dunkelheit, die nichts schien durchdringen zu können. Ihr Herz schlug gegen ihren Brustkorb und ihre Hände zitterten mehr als der Rest ihres Körpers, doch sie nahm dies alles genauso wenig wahr wie den stetig stärker werdenden Wind und die leisen Geräusche von Krallen an morscher Baumrinde. Ihre Schritte wurden immer größer. Ohne es zu merken, fing sie an zu rennen. Die Wurzeln auf dem Boden brachten sie manchmal ins Straucheln, doch sie fing sich immer wieder, ohne wirklich Notiz davon zu nehmen. Sie hob den rechten Arm auf Höhe der Stirn, um ihre Augen vor herabhängenden Zweigen zu schützen. Sehen konnte sie nun fast nichts mehr. Immer tiefer rannte sie in den Wald hinein. Sie drehte sich nicht um und stoppte auch nicht. Der Wind rauschte in ihren Ohren und ließ sie keine anderen Geräusche mehr vernehmen. Sie beschleunigte ihr Tempo nochmals. Mit dem linken Hosenbein ihrer Jeans, die schon etwas grün und braun geworden war, verhedderte sie sich in einem mit Dornen besetzten Gestrüpp. Angetrieben durch die Angst riss sie das Bein los. Sie schaute nach unten. Die Dornen hatten Löcher in die Hose gerissen und sie sah dunkelrotes Blut durch den blauen Stoff sickern. Den Schmerz spürte sie nicht, sie rannte einfach weiter. Ihre Augen tränten von der eisigen Luft und ihr Hals war trocken, doch sie fühlte es nicht. Sie wollte hier heraus und es war das einzige, das sie in diesen Augenblicken interessierte. Sie wollte ihre Mutter rächen, indem sie es schaffte, den Wald zu durchqueren, sie wollte kämpfen. Plötzlich bohrte sich etwas Spitzes in das Fleisch ihrer Schultern und zwang sie dazu, stehen zu bleiben. Keuchend und nach Luft ringend versuchte sie, sich auf ihren wackligen Beinen zu halten, doch diese versagten. Sie knickte ein und landete hart mit den Knien auf der Wurzel einer Buche. Nun, wo sie dort am Boden kniete, drangen die Geräusche und Schmerzen auf sie ein, wie sie es auch schon am Waldrand getan hatten. Doch es war schrecklicher. Die Angst übermannte sie, bevor sie realisieren konnte, weshalb sie aufgehört hatte zu rennen. Große Tränen sickerten aus beiden Augen. Es waren Tränen der Verzweiflung. Alles begann sich um sie zu drehen, doch ihr wurde nicht es nicht schwarz vor Augen. Sie wusste nicht mehr, wo sie sich befand, aus welcher Richtung sie gekommen war oder wohin sie hätte laufen müssen. Sie schluchzte laut und hielt sich die Ohren zu, weil das Geräusch unangenehm in ihren Ohren widerhallte. Sie hatte Gänsehaut. Selbst im Gesicht spürte sie das Prickeln. Zitternd und wissend, dass sie es nicht schaffen würde, aufzustehen, stützte sie sich mit aller noch verbliebener Kraft mit ihren Händen, die sie wieder von ihren Ohren genommen hatte, auf dem durchtränkten Boden hinter der Wurzel ab. Schmerzhaft fiel sie auf ihr Gesäß und keuchte heftiger als davor. Sie riss ihre Augen und auch ihren Mund weit auf, als sie nun auch der Schmerz ihres Schienbeins und ihrer Schultern erreichte. Das Gefühl, sie wäre in zwei Hälften geteilt worden, nahm ihr die Sprache, sodass sie keinen Laut von sich geben konnte. Sie verließ ihre letzte Kraft und sie wehrte sich nicht mehr gegen das Verlangen, sich einfach auf die weiche Erde zu legen und einzuschlafen. Sie ließ sich fallen, doch sie konnte nicht. Ihr Kopf schlug an etwas Hartes, das hinter ihr stand. Zu schwach, um darüber nachzudenken, was es sein könnte, lehnte sie sich daran und schloss die Augen. Ihr Kopf lag in ihrem Nacken. Immer noch schwer atmend versuchte sie sich zu beruhigen. Langsam kehrte ihr Verstand zurück und sie erinnerte sich daran, dass sich etwas in ihre Schulter gegraben hatte. Der Schmerz hielt sie immer noch in Schach und sie spürte, wie viel Blut aus der Wunde quoll. Um nachzusehen, öffnete sie ihre Augen wieder.

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