9 | Kein Liebesroman

1.744 Worte

Wie wahrscheinlich jedes Mädchen hatte ich mir nach dem Lesen meiner ersten Liebesgeschichte in den buntesten Farben ausgemalt, wie mich ein Junge mit wunderschönen poetischen Worten umgarnen würde. Ich hatte mir vorgestellt, wie er mich an Orte führen würde, die er liebte, wie er mir sagen würde, dass er mich liebte. Ich träumte davon, wie er mir den Himmel zu Füßen legen würde und alles unternahm, damit ich glücklich wäre.

Stattdessen hatte ich dann in meiner ersten Beziehung diesen Part übernommen. Ich war diejenige gewesen, die versucht hat, Nik den Himmel auf Erden zu bieten. Die alles getan hat, damit er glücklich war, weil ich ihn liebte und es mir nicht gut ging, wenn ihn etwas bedrückt hat. Ich war diejenige, die zum Halbjahrestag ›Öffne-mich-wenn-Briefe‹ an ihn verfasst hatte und in poetischen Worten beschrieb, was ich alles an ihm liebte.

Ich kann nicht behaupten, dass nie etwas von ihm zurückgekommen wäre, denn das stimmt nicht. Zu Anfang habe ich geglaubt, dass er mich ebenso liebt wie ich ihn. Er hat zwar nicht versucht, mir Sterne vom Himmel zu pflücken, aber eine Woche nach unserem misslungenen Halbjahrestag schenkte er mir ein Herz aus Glas, in das unsere Namen eingraviert waren, und einen Brief, in dem er sagte, dass sein Herz bei mir wäre. Und ich glaubte ihm. Ich war so verzaubert von diesem Geschenk, dass ich die Katastrophe von Halbjahrestag vergaß. Schließlich konnte er ja auch nichts dafür, wenn seine Schwester sich ausgerechnet an dem Tag den Arm brach.

Und ich kann auch jetzt noch nicht behaupten, dass er sich vor unserem Halbjahrestag wenig Mühe gegeben hätte. Das hat er nicht. Jedes Mal, wenn wir zusammen waren, ließ er mich spüren, wie viel ich ihm bedeutete. Erst nach sechs Monaten wurden seine Zärtlichkeiten weniger und er fing an, sich immer mehr von mir zurückzuziehen. Zuerst schrieb er nur noch sporadisch zurück, dass er mich ebenso lieben würde. Meist bekam ich bloß ein ›Ich hab dich auch lieb‹, was sich wie ein Schlag in die Magengrube angefühlt hat, denn es klang wie ›Ich hab dich nur noch lieb, aber lieben tue ich dich nicht mehr‹. Aber noch schlimmer war, als er dann irgendwann schrieb ›Danke für die liebe Nachricht‹. Das war ein glatter Schuss durchs Herz.

Ich weiß nicht, warum ich die Zeichen nicht erkannt habe, warum ich trotzdem bei ihm geblieben bin. Warum ich weitergemacht und mich noch mehr reingekniet habe, statt aufzugeben.

Dann wurden auch seine Zärtlichkeiten weniger. Er hielt meine Hand nicht mehr, wenn wir zusammen Auto fuhren. Er umarmte mich nicht mehr so innig und gab mir auch keine Küsschen mehr. Weder auf den Mund, noch auf andere Stellen in meinem Gesicht. So gesehen bin ich nicht besser als meine Mutter gewesen: Ich blieb bei einem Typen, der mir mit jeder Faser seines Körpers zu verstehen gab, dass er mich nicht mehr liebte. Das Einzige, was ich bis heute nicht verstehe, ist, warum er nicht Schluss gemacht hat. Warum er wollte, dass Jas ihm dabei hilft, seine Affäre geheim zu halten.

Und jetzt sitze ich jemandem gegenüber, der quasi all das getan hat, was ich mir nach Lesen meines ersten Liebesromans von einem Jungen erhofft habe, indem er nicht aufgegeben hat, als ich ihn biestig zurückwies, sondern weiter kämpfte. Der auf meine Gefühle nach der Trennung Rücksicht genommen und mir soeben in den malerischsten Worten offenbart hat, dass ich für ihn, obwohl er mich gar nicht kennt, etwas Besonderes bin. Und alles, was ich hervorbringe, ist: »Wow, das ... « überfordert mich, beende ich den Satz in meinen Gedanken und streiche mir unbeholfen ein paar Haare aus der Stirn, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst haben.

Die Regung in meinem Gesicht – ich weiß selbst nicht, wie ich sie beschreiben soll – entspricht wohl gar nicht dem, was André sich erhofft hat, als er seinen Kopf gehoben hat. Verzweifelt ballt er die rechte Hand zusammen, stößt einen Fluch aus und schlägt mit der Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr klappert. »Verdammt!« Fahrig fährt er sich durch die Haare und schaut überall hin, nur nicht zu mir. »Ich wusste, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Das hier ist kein Buch. Du hast gerade ne Trennung hinter dir und kennst mich gar nicht. Natürlich findest du diesen Satz nicht romantisch, sondern einfach nur super gruselig. Es tut mir leid. Vergiss das einfach. Du hast ja recht, ich sollte dich in Ruhe lassen.« Hektisch kramt er sein Portemonnaie aus der Hosentasche und will damit in Richtung Kasse verschwinden, um zu bezahlen. Er hat sich schon halb aus der Bank erhoben, da schaltet mein Kopf endlich.

»Stopp. Warte!«

Irritiert hält er in seiner Bewegung inne.

»Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte«, lächle ich ihn an, damit er sich nicht mehr so dämlich vorkommt, denn dazu hat er keinen Grund.

Langsam lässt er sich zurück in die Bank sinken, in der Hoffnung, dass das Gespräch nun doch noch eine positive Wendung nimmt.

»Du hast recht, das hier ist kein Buch und ja, ich kenne dich gar nicht«, beginne ich. Resigniert lässt er den Kopf hängen. »Aber«, ich lege eine Pause ein und hebe meinen Zeigefinger, um die Wichtigkeit dieses Wortes zu betonen, »super gruselig finde ich den Satz nicht, denn er ist tatsächlich ein kleines bisschen romantisch und hättest du ihn fallen gelassen, wenn wir uns schon besser kennen würden, wäre ich wahrscheinlich geschmolzen.«

Meine Worte erzielen die gewünschte Wirkung, denn das Lächeln, das sein grauen Augen zum Strahlen bringt, schleicht sich auf seine Lippen zurück. Vorerst allerdings zögerlich, immer in Erwartung, dass noch irgendwo ein Haken folgt.

Nachdenklich schaue ich ihn an und überlege, wie ich meine nächsten Worte formulieren soll. Einerseits möchte ich ihn nicht abweisen, andererseits muss er wissen, dass ich immer noch etwas Zeit brauche. Was aber nicht heißt, dass wir uns nicht nebenbei kennenlernen können.

Abwartend, weil er weiß, dass ich noch nicht fertig bin, fixiert er mich mit seinem Blick und rollt sein Glas zwischen den Händen hin und her.

Dann beschließe ich, dass es am besten ist, wenn ich ganz offen bin. Entgegenkommend stütze ich meine miteinander verschränkten Unterarme auf den Tisch und lehne mich dadurch ein winziges Stück zu ihm hinüber. »Ich will dich nicht wieder abweisen, deshalb werde ich das auch nicht tun. Doch dir muss klar sein, dass ich trotz allem noch Zeit benötige. Drei Monate sind für mich definitiv noch nicht genug. Aber ich habe nichts dagegen, wenn wir uns nebenbei weiter kennenlernen.«

Diese Worte scheinen für ihn Sieg genug zu sein, denn nun ist sein Lächeln nicht mehr zögerlich, sondern reicht bald von einem Ohr bis zum anderen. »Das ist vollkommen okay. Es ist viel mehr, als ich mir jetzt noch erhofft hätte.«

»Na dann: Hi, ich bin Jess.« Grinsend strecke ich ihm meine Hand entgegen. Verwirrt richtet er kurz seinen Blick darauf, ehe er mir wieder in die Augen schaut.

»Ist das so ne Art Schwamm-drüber-Neuanfang-Geschichte?«

Ich lache. »Zumindest soll es eine sein. Schließlich habe ich dir bisher nicht einmal gesagt, wie ich heiße.«

»Stimmt. Schön dich kennenzulernen, Jess.« Schmunzelnd ergreift er meine Hand, die schon anfing schwer zu werden.

Wir unterhalten uns noch eine Weile über alle möglichen Dinge und merken gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Dabei umgehen wir großflächig jedes Thema, das irgendwie mit Nik, Jas oder uns beiden zu tun hat. Doch irgendwann wird es Zeit zu gehen, es ist bereits halb acht. Wir sitzen seit anderthalb Stunden hier und langsam sollte ich nach Hause gehen.

Als André einen Kellner heranwinkt, um zu bezahlen, widerstehe ich dem Impuls, meinen Cappuccino und den Schokocookie selbst zu zahlen und nehme mir vor, mich zu bedanken und beim nächsten Mal zu revanchieren. Denn auch wenn ich Liebesromane liebe - die Mädchen, die immer darauf bestehen, ihre Bestellung selbst zu zahlen, um dann am Ende doch einzuknicken, nerven mich. So will ich nicht sein.

Als der Kellner weg ist, stehen wir auf und gehen nebeneinander zum Ausgang. »Danke«, sage ich aufrichtig, während ich die Tür aufstoße.

»Wofür?«

»Für die Einladung.«

»Du hast doch mich eingeladen, hierher zu kommen«, erwidert er lächelnd, bleibt stehen und wendet sich mir zu. Ich tue es ihm gleich.

Dennoch richte ich kurz verlegen meinen Blick gen Boden und knete meine Finger, ehe ich ihn wieder anschaue. »Du weißt, was ich meine.«

Er nickt. »Ja. Danke, dass du keines der Mädchen bist, die sich nicht von einem Jungen einladen lassen.«

»Okay, dann sehen wir uns morgen in der Schule?«, frage ich, weil ich nicht weiß, wie ich mich sonst verabschieden soll.

»In welche Richtung musst du denn?«

Will er mich nach Hause begleiten? Ich muss gestehen, dass ich mich geschmeichelt fühle. Nik hat das nie angeboten. Und wenn er mich mit dem Auto heimgebracht hat, ist er nicht mal ausgestiegen, um Tschüss zu sagen, sondern ist sitzen geblieben. André scheint ganz anders als Nik zu sein.

»Ich muss da hoch in Richtung Raiffeisen Markt. Sind nur sieben Minuten Fußweg.« Ich deute Richtung des Bergs hinter den Bahnschranken am Krankenhaus vorbei.

»Das trifft sich doch gut«, lächelt er. »Ich wohne in BaM Nord, muss also auch den Berg da hoch. Dann können wir noch ein Stückchen zusammen gehen.«

Ich nicke. Neben ihm herzulaufen fühlt sich ganz anders an, als ihm gegenüber zu sitzen. Der Tisch hat eine gewisse unüberbrückbare Distanz vorgegeben, aber nun ist er weg. Zum Glück findet André schnell ein weiteres Thema über das wir während des Wegs reden können, sodass ich keine Gelegenheit habe, mir weitere Gedanken zu machen.

Wir laufen den Berg am Krankenhaus hoch, vorbei an der Rettungswagenausfahrt und als schließlich links der Johannesweg abzweigt, bleibe ich stehen. »Hier muss ich rein. Ich schätze, du musst geradeaus.« Es ist mehr Feststellung als Frage. Trotzdem bin ich traurig, dass dieses Treffen jetzt endgültig vorbei ist. Nicht weil ich mich Hals über Kopf in André verliebt habe, sondern weil zu Hause wieder der Alltag auf mich wartet. Es war schön, kurzzeitig das Gefühl zu haben, in einer anderen Realität ganz weit weg zu sein.

»Ja, muss ich«, bedauert er und neigt den Kopf ein wenig nach rechts. Dabei fallen ihm ein paar Strähnen seines roten Haares in die Stirn.

Unsicher wippe ich auf meine Zehenspitzen und winke ihm dann schüchtern, weil ich nicht weiß, wie ich mich sonst verabschieden soll. Eine Hand ist mir zu förmlich und eine Umarmung zu innig. »Dann, bis morgen.«

Er tut es mir gleich, winkt und wirft mir noch eines seiner strahlenden Lächeln zu. »Bis morgen, Jess.«

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