8 | Der Schöne und die Biestige
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Unschlüssig und nervös stehe ich einige Meter vom Rathaus Café entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schaue durch die große Fensterfront. Ich entdecke André in einer der Nischen am Fenster sitzend. Dort sitze ich am liebsten, weil man durch die hohen Rückenlehnen der Bänke vom Rest des Cafés abgeschirmt wird und durch die Fenster gleichzeitig draußen die Menschen beobachten kann.
Ob er weiß, dass das eine der Nischen ist, in denen ich immer sitze, wenn ich hier bin, und sie deshalb ausgesucht hat?, flüstert der kleine Teil in mir, der mir weismachen möchte, dass André ein Stalker ist.
Ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass ich bereits zwei Minuten zu spät bin. Von draußen kann ich beobachten, wie er leicht nervös wird. Unsicher schaut er auf seine Armbanduhr, lässt seinen Blick zum Eingang schweifen und fährt sich mit der Hand durch die roten Haare. Viel länger kann ich hier nicht stehen bleiben, wenn ich nicht möchte, dass er denkt, ich hätte ihn versetzt.
Tief einatmend sehe ich einmal nach links und nach rechts, um zu prüfen, ob die Straße frei ist, ehe ich hinüber zum Café gehe. Andrés Blick fliegt sofort zum Eingang, als ich durch die Tür trete und dadurch das Glöckchen zum Läuten bringe. Erleichterung macht sich auf seinem Gesicht breit und seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln.
Ich hebe meine Hand zum Gruß, um zu signalisieren, dass ich ihn gesehen habe und er nicht zu mir kommen braucht. Das hindert ihn aber nicht daran, aufzustehen und am Tisch stehen zu bleiben, bis ich ihn erreicht habe. Wie ein Gentleman, der mich gleich mitsamt meines Stuhls an den Tisch schieben würde, wäre das hier nicht eine Nische mit unbeweglichen Bänken.
»Hey«, begrüße ich ihn zurückhaltend und lasse mir meinen Pferdeschwanz über die rechte Schulter fallen.
»Hey. Ich hatte schon Angst, du kommst nicht«, lächelt er und zeigt mir mit seiner Tonlage, dass er das keinesfalls vorwurfsvoll meint. Aus diesem Grund beschließe ich, heute, nach drei Monaten, wieder die normale Jess und nicht das Biest zu sein, und gehe auf seinen Spaß ein.
»Das habe ich wohl verdient. Dazu hattest du nach meinen ersten beiden Auftritten auch leider allen Grund.«
Als er darauf mit einem herzlichen Lachen antwortet, spüre ich erst, wie angespannt ich gewesen bin. Augenblicklich stelle ich mich etwas weniger kerzengerade hin, meine Schultern sinken auf ihre normale Position und ich fange an, mich in seiner Gegenwart wohlzufühlen, weil ich merke, dass er mir mein Verhalten nicht übel nimmt.
»Den hatte ich wohl, aber das spielt ja jetzt keine Rolle mehr. So, ich hab diese schöne Nische nicht extra freigehalten, damit wir dann davor stehen bleiben«, wechselt er unvermittelt das Thema und lässt sich elegant in die Bank gleiten. »Was möchtest du trinken? Kakao oder Kaffee?«, fragt er und winkt währenddessen einen Kellner herbei.
»Einen Cappuccino. Und ... «, füge ich hinzu, während ich ihm gegenüber Platz nehme, »einen Schokocookie.« Ich hätte erwartet, dass er mich frotzelnd mit hochgezogenen Augenbrauen anschaut und etwas dazu sagt, aber er gibt beides ohne ein Wort an den Kellner weiter und bestellt für sich einen Latte Macchiato. Dann wendet er sich mir zu und als hätte ich es geahnt, kann er sich einen Scherz nun doch nicht verkneifen.
»So so, du bist also ein Keks-in-den-Kaffee-Tunker.« Wie ein Psychologe, der gerade eine wichtige Erkenntnis über seinen Patienten gemacht hat, fasst er sich mit seiner rechten Hand ans Kinn und schaut mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an.
»Wieso wusste ich bloß, dass das nicht unkommentiert bleiben wird?«, lache ich und fühle mich seit Langem wieder richtig unbeschwert. »Aber nein, ich esse nur gerne Kekse zu Kaffee, ich tunke sie nicht. Krümel im Kaffee mag ich nicht.«
Zufrieden darüber, dass er die Situation aufgelockert hat, lässt er seine Hand sinken, während sein schelmisches Grinsen zu einem warmen Lächeln wird, das tiefer in mich dringt, als ich vermutet hätte. »Lachen steht dir gut.«
Sofort wird mir wieder bewusst, weshalb ich hierhergekommen bin. Ich kenne den Jungen vor mir quasi gar nicht und noch vor zwei Tagen habe ich ihn wie eine Furie zur Schnecke gemacht. Doch dieses unbeschwerte Scherzen mit ihm tut so gut, dass ich den Moment nicht dadurch ruinieren möchte, indem ich mich wieder in mich zurückziehe. Ich möchte wieder die alte Jess sein. Die, die sich einfach hierauf einlassen und nicht nachdenken würde. Also versuche ich einen Schritt in diese Richtung zu gehen und sage halb ernst: »Okay, du wolltest mir ja was erklären. Hier bin ich. Erzähl mir deine Seite. Ich verspreche, dass ich nicht wieder zur biestigen Jess mutiere.«
»Das klingt, als hätten wir bei ›Die Schöne und das Biest‹ die Rollen getauscht«, scherzt er weiter, erkennt aber auch gleichzeitig, wie wichtig mir das ist. »Okay, wo soll ich anfangen? Welche Frage brennt dir am meisten auf der Zunge?« Er versucht gelassen zu wirken, indem er sich nach hinten lehnt, aber seine Hände, die zwischen uns auf dem Tisch liegen, verraten ihn. Nervös reibt er mit dem Daumen seiner rechten Hand an der Innenseite seines linken Zeigefingers auf und ab.
Ich muss nicht lange überlegen, welche Frage mich am meisten interessiert. »Was meintest du mit ›Ich warte seit drei Monaten auf einen Moment, um dich anzusprechen‹?«
Seine Körpersprache verrät mir, dass ich damit direkt in die Vollen gegangen bin. Unruhig verlagert er sein Gewicht wieder nach vorne und stützt sich auf seine Unterarme. »Puhh, du hältst auch nichts von sanften Einstiegsfragen, oder?« Er versucht, es als Scherz klingen zu lassen, aber ich merke, dass ihm eine Einstiegsfrage wesentlich lieber gewesen wäre.
»Sieh es positiv, so hast du es schneller hinter dir«, bemühe ich mich, ihm die Anspannung zu nehmen. Just in dem Moment bringt der Kellner unseren Kaffee und meinen Keks und verschafft André etwas mehr Zeit zum Denken. Obwohl ich darauf brenne, die Antwort zu erfahren, versuche ich, seine Bedenkzeit zu verlängern, indem ich die Tasse mit beiden Händen umschließe, sie unter meine Nase halte und genießerisch den Duft einatme. »Mhh.«
Dann scheint André bereit. »Okay, erinnerst du dich an den Tag vor sieben Monaten, als der neue Schulsprecher gewählt wurde und jeder Kandidat zuerst seine Rede halten durfte?«
Natürlich erinnere ich mich an diesen Tag. Immerhin zählte ich damals mit zu den Kandidaten und hatte mir sehr viel Mühe mit meiner Rede gegeben, war aber trotzdem nicht gewählt worden.
»Da habe ich dich zum ersten Mal wahrgenommen. Zugegeben, ich habe nicht mitbekommen, wie du auf die Bühne und zum Pult gegangen bist und auch den Anfang deiner Rede nicht, aber als meine Aufmerksamkeit dann irgendwann wieder nach vorne gewandert ist, bist du mir aufgefallen. Ich mochte das Lächeln, das du an dem Tag im Gesicht hattest. Aber auch deine witzelnde Stimme, deine Haare und die Art, wie es dir völlig egal war, dass links und rechts Strähnen aus deinem Pferdeschwanz lugten. Da hab ich beschlossen, dich anzusprechen, sobald die Veranstaltung vorbei wäre. Aber dann bist du von der Bühne runter zu deinem Platz gegangen und dieser Junge, der neben dir saß, gab dir einen Kuss.«
Allein durch seine jetzige Tonlage kann ich mir vorstellen, wie frustrierend diese Situation für ihn gewesen sein muss.
»Naja und dann erfuhr ich vor drei Monaten von eurer Trennung und ich kann nicht leugnen, dass mich das nicht ein bisschen gefreut hat. Der einzige Grund, warum es mich nicht übermäßig gefreut hat, war der, dass ich gesehen habe, wie miserabel es dir ging. Am liebsten hätte ich den Typen verkloppt. Deshalb wusste ich, dass du Zeit brauchst, um über ihn hinwegzukommen und die wollte ich dir geben. Ich hatte auch nicht geplant, dich in der Bibliothek anzusprechen, aber dann saßt du da in diesem Sitzsack, das Gesicht hinter dem Buch versteckt und plötzlich hat es mich gepackt. Ich dachte mir, drei Monate könnten vielleicht reichen, damit ich endlich den ersten Schritt wagen und dich ansprechen kann. Tja, was soll ich sagen? Da lag ich wohl falsch, aber wie du siehst, so einfach gebe ich nicht auf und jetzt sitze ich hier und hoffe, dass ich dich mit dieser Erklärung nicht in die Flucht schlage.« Verlegen lächelnd zuckt er mit den Schultern und schaut mich mit leicht schiefem Blick an, was ihm noch mehr Ähnlichkeit mit Ed Sheeran verleiht als ohnehin schon. Man sieht ihm an, dass er absolut nicht weiß, wie ich darauf reagieren werde.
Auch ich weiß es nicht. Wie reagiert man auf so ein Geständnis? Ich habe mit allem gerechnet, aber nicht mit so etwas. Also sage ich das Einzige, was mir in den Sinn kommt. »Und obwohl du mich nur diese paar Minuten auf der Bühne gesehen hast, glaubst du, ich bin diesen Aufwand wert?«
Unsicher rutscht er auf der Bank hin und her und sucht nach Worten, um mir eine plausible Antwort geben zu können. »Weißt du, also, ach man, das klingt wirklich nach irgendeiner besonders romantisch klingenden Geschichte, die ich mir ausgedacht habe, um dich um den Finger zu wickeln. Ich kann verstehen, wenn du mir nicht glaubst.« Frustriert stützt er die Ellenbogen auf den Tisch und fährt sich mit beiden Händen durch die Haare.
Sofort rudere ich zurück, weil ich ihn nicht schon wieder verletzen möchte. »Nein, das verstehst du falsch. So meinte ich das nicht. Ich glaube dir und ich fühle mich wirklich geschmeichelt, ich habe nur gerade Probleme, das zu verarbeiten, weil ich nicht verstehen kann, wie ich unbewusst so einen Eindruck auf dich machen konnte.«
Darauf scheint er eine klare Antwort zu haben. »Meine Tante hat mir mal gesagt: Menschen sind wie die Sterne im Universum. Aus der Ferne sehen sie alle gleich aus, aber betrachtet man sie näher, erkennt man, dass jeder anders ist.« Nervös schluckt er und heftet seinen Blick auf seine Hände, mit denen er den Latte Macchiato umschlossen hält. »Aber als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, du warst ... « Er stockt und bricht den Satz ab, unsicher, ob er die nächsten Worte wirklich aussprechen soll. Schließlich hebt er seinen Kopf und schaut mich an, um jede kleinste Regung in meinem Gesicht mitzubekommen.
»Du warst wie ein kleiner Kometenregen – schon von Weitem einzigartig.«
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