7 | Über Bord gefegt

1.498 Worte

Als ich sehe, wie sich Andrés Gesicht, wenige Meter bevor ich bei ihm bin, freudig aufhellt, verpuffen all die sorgfältig zurechtgelegten Worte. Plötzlich klingen sie gar nicht mehr einfühlsam und schonend, sondern jede Hoffnung zunichtemachend.

Doch viel Zeit, um mir neue Worte zurechtzulegen, bleibt nicht, denn er löst sich aus der Fünfergruppe und kommt ein paar Schritte auf mich zugelaufen. Vom einen auf den anderen Moment packt mich die Panik, dass das alles ganz anders laufen wird, als ich es mir im Kopf ausgemalt habe.

Ohne das Herzrasen im Inneren meiner Brust zu bemerken, fängt er an zu sprechen. »Hey.« Ein Lächeln, das das gesamte Foyer erhellt, trifft mich. »Ich muss sagen, dass ich keinesfalls so schnell mit einer Antwort gerechnet habe.« Locker steckt er die Hände in die Hosentaschen und wartet gebannt darauf, was ich ihm sagen will.

Genau, also kannst du dir ja wohl auch denken, dass das nicht die Antwort sein wird, die du hören willst! Okay, nein, Stopp. Das sagst du nicht. Damit beweist du nur wieder, dass du doch das Biest bist, in das du dich seit der Trennung verwandelt hast. Tief einatmend, um meine Gedanken neu zu sammeln, schließe ich kurz die Augen.

Keine gute Idee, wie ich bei seiner nächsten Frage feststelle. »Alles gut?« Den Kopf leicht zur Seite geneigt schaut André mich abwartend an. Die Freude in seinem Blick ist der leichten Besorgnis gewichen, dass ich nicht gekommen bin, um ihm ein Ja mitzuteilen, sondern diesmal ein endgültiges, wohlüberlegtes Nein.

Warum will er mich so unbedingt kennenlernen? Der Grund dafür kann doch unmöglich nur aus reinem Interesse an mir bestehen?

Und plötzlich, ohne darüber nachzudenken, werfe ich alle meine Vorsätze und sorgfältig zurechtgelegten Worte über Bord und stelle diese Frage. »Warum möchtest du mich kennenlernen?«

Damit hat er nicht gerechnet, denn er zieht die Hände wieder aus den Hosentaschen hervor und verschränkt sie unbehaglich vor der Brust. Ein klares Zeichen für ›Darüber möchte ich eigentlich nicht reden‹. Aber so einfach mache ich es ihm nicht.

»Wenn du möchtest, dass ich dir eine Chance gebe, musst du ehrlich zu mir sein. Und momentan kann ich mir auf dein Verhalten absolut keinen Reim machen. Ich hab dich noch nie zuvor gesehen, aber du wartest seit drei Monaten auf einen Moment, um mich ansprechen zu können? In Büchern mag das vielleicht süß klingen, aber ich hege den Verdacht, dass ich Gegenstand einer dummen Wette werde, wenn ich jetzt zusage.«

Die Augen des Rotschopfes werden groß, als er merkt, wie dieser Satz damals bei mir angekommen ist. »Was? Nein! Nein, auf gar keinen Fall.« Jegliche Abwehrhaltung verschwindet augenblicklich und er beginnt, nervös seine Hände zu kneten und den Blick umherwandern zu lassen. »Verdammt, das ist echt nach hinten losgegangen«, murmelt er frustriert und streicht sich mit einer Hand übers Gesicht. In dem Moment klingelt es zur ersten Stunde. Eilig fliegen seine Augen wieder zu mir. »Mist, ich schreibe jetzt eine Klausur. Okay, pass auf, wir machen es so.«

Hektisch flitzt er die zwei Meter zurück zu seinem Rucksack, kramt einen Stift hervor und reißt eine Ecke Papier aus seinem Collegeblock, dann kommt er zurück. In Windeseile kritzelt er ein paar Zahlen auf das Papier und drückt es mir in die Hand. »Das ist meine Nummer. Schreib mich an, wenn du Zeit hast, dann können wir uns irgendwo treffen und ich erkläre dir meine Beweggründe. Ich schwöre dir, sie sind aufrichtig.« Mit den Worten schmeißt er den Stift achtlos in den Rucksack zurück, schultert diesen und verschwindet mit einem »Tschüss« in Richtung der Kursräume.

Von der ganzen Hektik, die auf einmal ausgebrochen ist, noch etwas überfordert schaue ich den Zettel in meiner Hand an. So viel zu meinem festen Entschluss, ihm zu sagen, dass ich Zeit brauche und er noch etwas warten muss.

Frustriert balle ich die Hand mit dem Zettel zur Faust. Warum läuft nie etwas so, wie ich es mir in meinen Gedanken ausmale? In meinen Gedanken sage ich meine wohlüberlegten Worte, er nickt verständnisvoll und erwidert, dass er sich noch gedulden kann. Nirgendwo taucht da auf, dass mein Kopf plötzlich wie leergefegt ist oder dass ich alles über den Haufen werfe und ihm Hoffnungen mache. Wenn ich jetzt zurückrudere, wird er niemals warten, sondern mich als jemanden abschreiben, der andere so behandelt, wie es ihm gerade passt.

Und was wäre so schlimm daran, wenn er mich abschreibt?, kommt mir ein anderer Gedanke. Das war doch eigentlich das, was ich wollte. Aber jetzt ... Ich weiß es nicht. Durch seine Beharrlichkeit und das Gespräch mit Mum hat er es geschafft, einen winzigen Funken Interesse in mir zu wecken. Ich will nicht, dass er mich abschreibt, ich will, dass er wartet.

In Gedanken versunken falte ich den Zettel wieder auseinander und schaue die Zahlen an. 1577 6490582. Dann fasse ich einen Entschluss. Ich werde mir seine Seite anhören. Danach kann ich immer noch entscheiden, ob ich ihm eine Chance geben möchte oder nicht.

Also falte ich den Zettel zusammen, diesmal sorgfältig, ziehe mein Handy aus meiner Hosentasche und klemme ihn hinter die Hülle. Das Foyer ist inzwischen komplett leer, nur vereinzelt sitzen Schüler an den Tischen für die Oberstufe, weil wahrscheinlich bei irgendeinem Lehrer mal wieder kurzfristig der Unterricht entfällt. Einen Moment muss ich überlegen, welches Fach ich denn jetzt habe, ehe ich stöhnend meinen Rucksack nachschultere und mich auf zu den Physikräumen mache.

Wenigstens habe ich hier vor allen drei Parteien Ruhe - Nik, Jas und Avril. Früher habe ich es bedauert, dass ich mich ohne meine besten Freunde durch Physik schlagen muss, mittlerweile ist dieser bittere Nachgeschmack aber gar nicht mehr so bitter.

Trotzdem bin ich froh, als die Doppelstunde endlich vorbei ist und ich auch den Rest des Schultages hinter mich gebracht habe. Ich bin so unsicher, ob das, was ich gesagt habe, wirklich gut war, dass ich nur noch nach Hause will, um Mum davon zu erzählen und sie nach Rat zu fragen.

☆☆☆

Zu Hause empfängt mich wieder ein köstlicher Essensduft, dem mein Magen nicht widerstehen kann. Das ist einer der wenigen Gründe, warum ich es liebe, nach Hause zu kommen - weil Mum immer irgendetwas Leckeres zubereitet hat.

Da sie gehört hat, wie die Tür ins Schloss gefallen ist, fragt sie fröhlich trällernd aus der Küche: »Und wie ist dein Gespräch mit André gelaufen?«

Ohne mich zu hetzen stelle ich den Rucksack ab, streife mir die Schuhe von den Füßen und hänge meine Jacke an der Garderobe auf. Als ich in die Küche komme, steht Mum gerade über einen Bräter mit Sahnelinsensoße gebeugt und probiert mit der Spitze des Kochlöffels etwas davon. Ihre braunen Haare sind, wie immer wenn sie kocht, zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Perfekt«, stellt sie zufrieden fest, dann wendet sie sich mir zu. »Hallo Schatz. Und wie war's?«

Da ich ihr nicht nebenbei davon erzählen möchte, antworte ich lächelnd: »Lass uns erst mal den Tisch decken.«

Sie versteht, was ich damit zwischen den Zeilen sagen will. »Okay, holst du Untersetzer aus der Schublade? Ich trage Nudeln und Soße zum Tisch.«

Ich nicke.

»Dann erzähl mal«, fordert sie mich auf, als wir uns hingesetzt haben und sie mir Nudeln und Soße auf den Teller häuft.

Also erzähle ich, während sie mir aufmerksam zuhört.

Am Ende muss sie einen kurzen Augenblick überlegen, doch als sie schließlich spricht, weiß ich, dass sie recht hat. »Ich denke, es ist gar nicht so schlecht, dass es gelaufen ist, wie es gelaufen ist. Manchmal ist Intuition viel besser als jeder präzise zurechtgelegte Plan. Du hättest nicht so gehandelt, wenn du nicht doch ein Stück weit an seine Aufrichtigkeit glaubst. Also war es auch kein Fehler ihm diese Chance zu geben.«

Wie schafft sie es, einfach immer das Richtige zu sagen?

»Und bloß weil du ihm eine Chance gibst, heißt das ja nicht, dass ihr automatisch und unmittelbar sofort ein Paar seid. Ganz im Gegenteil. Du lernst ihn nur kennen.«

Das gibt mir den entscheidenden Stoß. »Du hast recht. Ich sollte es zumindest versuchen.« Entschlossen greife ich nach meiner Gabel und stecke mir einen Haufen Nudeln in den Mund. Diese Geste entlockt meiner Mutter ein Lachen.

»Ich sehe schon, du wappnest dich wohl für eine Schlacht. Der arme Kerl.«

☆☆☆

Mit leicht schwitzigen Hände löse ich die Hülle vom Handy, nehme den Zettel, falte ihn auseinander und lege ihn neben mich aufs Bett. Elf Ziffern, die ich nacheinander ins Handy eingebe, lächeln mich an - ob aufmunternd oder spöttisch kann ich nicht sagen. Danach tippe ich Andrés Namen. Kontakt speichern.

Als nächstes öffne ich WhatsApp und suche dort nach seinem Namen. Für das alles brauche ich gefühlte Ewigkeiten, als würde ich mich nur in Zeitlupe bewegen. Doch schließlich beginne ich damit, eine Nachricht an ihn zu tippen.

Ich: Treffen im Rathaus Café um 18 Uhr?

Abschicken. Ein Häkchen erscheint, dann das zweite. Gebannt schaue ich auf das Display, eine Minute, zwei. Nach drei Minuten verfärben sich die zwei Häkchen blau und ein ›online‹ erscheint unter seinem Namen. Schnell gehe ich offline. Wenige Sekunden später erhalte ich die Antwort.

André: Gerne. Freue mich. Bis nachher.

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