6 | Ratschlag
1.839 Worte
Ich gebe einen Stoßseufzer der Erleichterung von mir, als die Schulklingel für heute zum letzten Mal ertönt. So schnell wie sonst nur selten packe ich meine Sachen zusammen, nehme meinen Rucksack und flitze aus dem Klassenzimmer. Weg von Nik und Avril, weg von Jas und auch weg von André. Ich will nur nach Hause. Zum Glück trennen mich nur sieben Minuten Fußweg davon.
Zu Hause empfängt mich der Duft von angebratenen Kartoffeln mit Speck und Zwiebeln. Die Nase in die Luft reckend ziehe ich meine Schuhe aus und merke, wie mein Magen zu grummeln anfängt.
»Das riecht herrlich«, sage ich genießerisch, als ich die Küche betrete und nehme einen tiefen Atemzug. Sofort grummelt mein Magen ein zweites Mal.
Lachend nimmt meine Mutter die Pfanne vom Herd, während ich Teller und Besteck hole und den Tisch decke. »Ich hör's schon. Wie gut, dass das Essen schon fertig ist.«
Gemeinsam setzen wir uns an den Tisch und Mum häuft uns je eine Portion Kartoffeln auf den Teller. Sofort beginne ich mich hungrig darüber herzumachen, was sie abermals zum Lachen bringt. »So einen anstrengenden Schultag gehabt?«
Auf der Stelle verschwindet die gute Laune wieder, die sich mit jedem Schritt, den ich mich vom Schulgebäude entfernt habe, in mir ausgebreitet hat. Jas, Nik, André – all das strömt wieder auf mich ein.
»Alles gut, Schatz?«, fragt Mum besorgt, der mein Stimmungswechsel nicht entgangen ist.
Ich schüttle den Kopf. »Warum muss alles nur so schrecklich kompliziert sein?« Verzweifelt vergrabe ich mein Gesicht in meinen Händen. Trotzdem spüre ich den fragenden Blick meiner Mutter.
»Was meinst du?«
Und da entschließe ich mich, ihr alles von André zu erzählen, nur den wahren Grund, weshalb ich in der Bibliothek war, verschweige ich. Sie soll sich keine Sorgen machen müssen, wo ich jetzt hingehen kann, wenn mein Vater mal wieder zornig ist. Für dieses Problem werde ich selbst eine Lösung finden. Außerdem steht es mir nicht zu über Renés Probleme mit ihr zu reden. Das muss er selbst tun.
Aber bis auf das lasse ich kein Detail aus. Auch nicht, wie gemein ich André gegenüber war und was heute mit Jasmina in der Schule vorgefallen ist.
»Ich will einfach nicht schon wieder verletzt werden. Von keinem der beiden. Verstehst du das?«, beende ich meine Erzählung und stütze meinen Kopf in die Hände, während ich meine Finger in den Haaren vergrabe.
»Mhh«, gibt sie nickend von sich und scheint nach den richtigen Worten zu suchen. »Das mit Jasmina musst du selbst wissen. Ich kann sehr gut verstehen, wenn du niemals wieder ein Wort mit ihr wechseln willst. Ich an deiner Stelle würde mir ihre Seite zumindest anhören. Das heißt ja nicht, dass du ihr verzeihst, aber vielleicht ändert es deine Sicht auf die Dinge. Du musst das entscheiden. Wenn du sagst, du kannst auch so gut leben, dann hör dir ihre Seite nicht an. Beides kann ich vollkommen verstehen.«
Erleichtert, dass sie diesen Punkt versteht, schaue ich wieder auf und nicke. Es bestärkt mich darin, nicht völlig unverständlich gehandelt zu haben. Ich muss mir ihren Standpunkt nicht anhören, wenn ich das nicht will. Daran ist nichts verkehrt.
»Was diesen André betrifft: Er scheint doch bis jetzt ein netter Kerl zu sein. Ich finde, du solltest ihm eine Chance geben. Es wäre ein Fehler, alle Jungs in einen Topf zu werfen, nur weil Domenik sich als Mistkerl entpuppt hat.«
Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte. »Aber was ist, wenn es mit ihm genauso laufen sollte? Domenik war am Anfang auch zuvorkommend und aufrichtig und liebevoll. Wer sagt mir, dass mir das nicht wieder passieren kann?« Frustriert stütze ich den Kopf wieder in meine Hände.
»Niemand, aber wenn du ihn nicht mal kennenlernen möchtest, wirst du es nicht herausfinden. Bloß weil du ihm eine Chance gibst, heißt das ja nicht, dass ihr direkt zusammen kommt.«
»Ja, schon möglich.«
»Okay, gibt es Dinge, die du im Nachhinein gerne anders machen würdest, wenn du an deine Beziehung mit Domenik zurückdenkst?«, wechselt sie die Taktik.
»Überhaupt eine Beziehung mit ihm einzugehen«, brumme ich.
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Abgesehen davon. Hättest du zum Beispiel gerne mehr über ihn und seinen Charakter gewusst? Wie viel wusstest du? Weißt du, wie seine vorigen Beziehungen abgelaufen sind?«
Mit den Fragen trifft Mum genau meinen wunden Punkt. Denn besonders bei der letzten Frage habe ich keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob und wie viele Beziehungen Nik geführt hat. Und wie lange diese jeweils gehalten haben. Ich wusste, Domenik liebt mich und das hat mir vollkommen gereicht. Was davor war, war Vergangenheit, die mich nicht interessiert hat und die aus meiner damaligen Sicht keine Bedeutung für die Gegenwart hatte. Jetzt sehe ich das anders.
Und plötzlich, völlig geräuschlos und ohne dass ich etwas dagegen tun kann, fließt eine Träne meine Wange hinab. Warum war ich so naiv und habe nie danach gefragt?
»Nein«, murmle ich und wische die Träne von meiner Wange, dann versuche ich meiner Stimme mehr Festigkeit zu geben. »Nein, ich habe nie nach seinen Beziehungen gefragt.«
»Ach Schatz«, tröstend nimmt sie mich in den Arm. »Es tut mir leid, dass Domenik so ein Vollidiot war. Ich habe dir ehrlich gewünscht, dass er der Richtige ist. Aber siehst du, jetzt weißt du, was du bei deinem nächsten Freund anders machen kannst. Natürlich ist das keine Garantie dafür, dass er sich nicht auch als Idiot entpuppen kann, aber je besser du ihn kennst, bevor du eine Beziehung eingehst, desto wahrscheinlicher ist es, nicht irgendwann auf unschöne Charakterzüge zu stoßen.« Aufmunternd streicht sie mir über den Rücken.
Die Frage, warum sie sich dann für meinen Vater entschieden hat, schiebe ich beiseite.
Ich nicke. »Okay. Ich will ja auch gar nicht für immer alleine bleiben, aber ich habe Angst wieder so verletzt zu werden.«
»Was weißt du denn schon so über ihn?«
»Naja, nicht viel. Er ist ziemlich hartnäckig und gibt einfach nicht auf, egal, wie forsch und gemein ich zu ihm bin. Er behauptet, dass sei nicht mein Charakter. Aber er kennt mich gar nicht. Außerdem ist er ein Stalker, wenn er mich wirklich schon seit drei Monaten beobachtet. Und weil er das jetzt schon so lange tut, will er auch nicht kampflos aufgeben.« Verzweifelt, weil ich immer noch nicht weiß, was ich tun soll, ziehe ich meine Knie hoch an meine Brust und stütze die Fersen auf die Kante der Sitzfläche.
»Also wenn du mich fragst, klingt das nach jemandem, der sich echt Mühe gibt. Von so einem Jungen können die meisten Mädchen eigentlich nur träumen. Du scheinst ihm etwas zu bedeuten, wenn er so hart um dich kämpft.«
Das habe ich auch schon bemerkt, aber ich kann und will ihm nicht vertrauen, wenn mir sein Motiv vollkommen schleierhaft bleibt. »Ja, ich weiß. Aber ich weiß nicht, wieso er glaubt, dass ich es wert bin. Er kennt mich ja gar nicht.«
»Vielleicht ist das der Anfang. Herauszufinden, warum er so beharrlich ist.«
Ja, vielleicht. Vielleicht könnte ich ihn kennenlernen ohne wieder den Fehler zu machen, gleich mein ganzes Herz in seine Hände zu legen, wie ich es bei Domenik getan habe.
Er war mein erster Freund. Alles war neu und aufregend. Ich war so glücklich, dass ich mich Hals über Kopf in eine Beziehung mit ihm gestürzt habe, ohne darauf zu achten, dass es neben den vielen tollen Eigenschaften auch einige große dunkle Schatten gab. Ich war wohl das Paradebeispiel für die rosarote Brille.
Doch obwohl ich das jetzt weiß und es anders machen könnte, hält mich etwas davon ab.
»Was hast du denn zu verlieren?«, fragt Mum, die mein Zögern bemerkt. »Du empfindest nichts für ihn, er aber ganz offensichtlich für dich. Oder zumindest glaubt er, dass aus euch was werden könnte. Wenn du also sagst, es funktioniert nicht, verliert er sehr viel mehr. Gib dir einen Ruck.« Liebevoll stupst sie mich mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Ich weiß es nicht. Was ist, wenn ich doch denke, dass es funktionieren könnte? Meine Trennung von Nik ist noch frisch. Zumindest für mich. Da sind noch so viele Gefühle, ich glaube nicht, dass ich mich jetzt schon auf jemand anderen einlassen könnte«, gebe ich ehrlich zu und spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet. »Mum, er hat so viele meiner ersten Male von mir bekommen, nicht das schönste und wichtigste, aber so ziemlich alle anderen. Ich bin so sauer auf ihn, weil ich mich so schrecklich ausgenutzt fühle, und gleichzeitig will ich ihn einfach nur zurück. Ich will, dass er mich wieder in seine Arme schließt und mir einen Kuss auf die Stirn gibt. Ich vermisse ihn so unheimlich doll.« Damit bricht der Damm, der seit dem Tag, an dem ich ihn in flagranti erwischt habe, gehalten hat. In Strömen rinnen die Tränen meine Wangen hinab.
Sofort steht meine Mutter auf, zieht mich von meinem Stuhl hoch, schließt mich fest in ihre Arme und lässt mich weinen. »Der erste Liebeskummer ist immer der Schlimmste. Zumindest habe ich das mal irgendwo gehört. Aber glaub mir, auch wenn es momentan nicht so scheinen mag, er geht vorüber. Irgendwann ist in deinem Herzen wieder für jemand Neuen Platz. Und bis dem so ist, kannst du diesem André sagen, dass du noch Zeit brauchst. Ich denke, wenn ihm wirklich etwas an dir liegt, wird er das verstehen und ist bereit zu warten.«
Das Gesicht im Shirt meiner Mutter vergraben nicke ich. Das klingt nach einem guten Plan.
»Ich finde, das ist der ideale Zeitpunkt für ein paar Kugeln Schokoeis. Was meinst du?« Obwohl immer noch Tränen fließen, schiebt sie mich auf Armeslänge von sich weg, holt ein unbenutztes Taschentuch aus ihrer Hosentasche und reicht es mir.
»Das klingt gut«, stimme ich ihr mit schluchzender Stimme zu und putze mir die Nase.
»Gut, ich schaue mal gerade, ob wir noch welches im Keller haben. Wenn nicht, flitze ich schnell zum Aldi und hole welches, okay?«
»Okay.«
Während Mum im Keller Eis holen geht, schmeiße ich das Taschentuch in den Müll, hole zwei Schälchen aus dem Schrank und suche in den Schubladen nach dem Eisportionierer. Ich habe ihn gerade gefunden, da erscheint sie wieder in der Tür und hält mir grinsend eine Dose Schokoladeneis hin. »Wir haben Glück. Sollen wir es uns im Garten damit unterm Kirschbaum gemütlich machen und ein bisschen in der Frühsommersonne baden?«
Grinsend nicke ich. »Auf jeden Fall.« Und so hilft mir Mum mit ganz viel Schokoeis und ein bisschen Sonne meinen Liebeskummer für kurze Zeit zu vergessen. So lange, bis wir irgendwann aufstehen müssen, um im Haus das Geschirr von heute Mittag zu spülen, damit Dad keinen Grund hat, sich aufzuregen, wenn er nach Hause kommt.
☆☆☆
›Okay, ich weiß, du hast gesagt, ich soll erst zu dir kommen, wenn ich dir eine Chance geben kann, aber es wäre unfair, dich im Ungewissen zu lassen. Ich bin noch nicht über Nik hinweg und weiß auch nicht, wie lange ich dafür noch brauchen werde, aber wenn du warten kannst, dann werde ich dir eine aufrichtige Chance geben.‹
Tief durchatmend betrete ich das Schulgebäude, fest entschlossen, André genau das zu sagen. Doch dann kommt alles anders.
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