5 | Ferner Beobachter

1.825 Worte

Als ich morgens in die Küche komme, sitzt Mum bereits am Tisch. Da mein Vater schon früh aus dem Haus geht, um zur Arbeit zu fahren, sind wir beide allein. Der ideale Zeitpunkt um über gestern zu reden. Noch ein bisschen verschlafen setze ich mich neben sie und fülle meine bereitgestellte Müslischüssel mit Milch und Cornflakes.

Entgegen meiner Erwartung bringt meine Mutter von sich aus den gestrigen Abend zur Sprache, während sie mit beiden Händen ihre Kaffeetasse umschließt. »Ich weiß, dass du auf gestern Abend mit einem zwiegespaltenen Gefühl schaust. Einerseits bist du froh, dass es so glimpflich ausgegangen ist, andererseits denkst du wahrscheinlich, dass an der Sache irgendetwas faul ist.«

Ich nicke stumm und rühre mit dem Löffel in meiner Schüssel.

»Ich gebe dir recht, es war auch für mich komisch«, redet sie weiter. »Kurz nachdem er so aufbrausend geworden ist und du das Haus verlassen hast, hat er sich erstaunlicherweise wieder etwas beruhigt, ist dann duschen gegangen und kam danach zu mir und hat mich gefragt, ob wir einen Film schauen wollen. Du glaubst nicht, wie überrascht ich deinen Vater angeschaut habe. Aber er meinte das wirklich ernst. Und du hast ja gesehen, wie der Abend ausgegangen ist.«

Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen zusammen, weil ich befürchte, dass meine Mutter das Ganze zu rosarot sieht. »Und was willst du mir damit jetzt sagen?«

»Na vielleicht, dass es besser wird; dass er sich bessert.« Ihre Stimmlage verrät, dass sie weiß, wie wenig wahrscheinlich das ist. Dennoch möchte sie daran glauben.

»Mum, ich würde mir für dich wirklich wünschen, dass das so ist. Ganz ehrlich. Aber ich würde mir erst mal nicht so große Hoffnungen machen, wenn das Ganze nachher doch nur eine Ausnahme war«, versuche ich möglichst einfühlsam meine Bedenken zu erklären, trotzdem ertrage ich es nicht, zu sehen, wie die Hoffnung von ihrem Gesicht verschwindet, deshalb füge ich hinzu: »Natürlich sollst du es auch nicht ganz außer Acht lassen. Warte einfach die nächsten Male ab, dann ist die Enttäuschung nicht so groß, wenn er sich doch nicht ändert.«

Liebevoll lehne ich mich zur ihr hinüber und lege meine Arme um sie.

Trotzdem höre ich, wie sie leise seufzt. Traurig darüber, dass ich sie wieder zurück auf den Boden der Tatsachen geholt habe. »Okay.«

Lächelnd löse ich mich von ihr und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich hab dich lieb, Mum.«

»Ich dich auch mein, Schatz.«

☆☆☆

Das Gespräch mit Mum hat mich einiges an Zeit gekostet, weshalb ich mit dem ersten Klingeln der Glocke das Schulgebäude betrete. Ich laufe gerade den Flur zum Englischraum nach unten, als plötzlich mein Name gerufen wird.

»Jess.«

Das darf nicht wahr sein. Warum wollen manche Jungs einfach nicht verstehen, dass man absolut nicht interessiert ist?

Im ersten Moment will ich so tun, als hätte ich ihn nicht gehört, doch dann erinnere ich mich, dass die Konfrontation in der Bibliothek viel mehr Wirkung gezeigt hat als der Rückzug, also drehe ich mich mit einem Ruck zu ihm um. Schlitternd kommt André vor mir zum Stehen.

»Ich hatte also recht. Du kennst meinen Namen.« Überlegen hebe ich das Kinn und verschränke die Arme vor der Brust.

»Hör zu, du kannst dieses arrogante, unnahbare Getue direkt sein lassen. Ich weiß, das bist nicht du, so bist du nicht.«

Meine Arme werden lockerer und rutschen etwas von ihrer Position, während mein Gesichtsausdruck von Überheblichkeit zu Überraschung wechselt. Seine Worte bringen mich aus dem Konzept. Mit so etwas habe ich nicht gerechnet. So bin ich nicht? Er kennt mich doch gar nicht! Er lässt mir jedoch nicht die Gelegenheit, das zu sagen.

Die Hände diesmal lässig in den Hosentaschen vergraben, sagt er: »Mir ist gestern Abend noch etwas klar geworden. Domenik hat dein Vertrauen auf's Tiefste erschüttert und wahrscheinlich bist du auch nach zwölf Wochen immer noch nicht über ihn hinweg, weshalb du mir nicht mal den Ansatz einer Chance gibst. Und das verstehe ich. Aber eins möchte ich sagen: Nicht alle Jungs sind so wie Domenik. Also wenn du so weit bist, mir eine Chance zu geben, dann lass es mich wissen. Ich denke, ich bin es wert, eine zu bekommen.« Kaum hat er das letzte Wort ausgesprochen, dreht er sich um und verschwindet und lässt mich vollkommen verdutzt zurück.

Meine Gedanken überschlagen sich, während ich ihm hinterherschaue und nichts als seinen, für einen Jungen relativ schmalen, Rücken zu sehen bekomme, bis er um die nächste Ecke verschwindet.

Fassungslos schüttle ich den Kopf. Wie kann er glauben, sich ein Urteil darüber bilden zu können, wie ich bin und wie ich nicht bin? Und überhaupt: Natürlich sind nicht alle Jungs wie Domenik, aber wer garantiert mir, dass er nicht so ist? Ich habe momentan einfach keine Lust erneut verletzt zu werden. Wenn er nur halb so verständnisvoll ist, wie er tut, dann würde er das verstehen.

Erbost drehe ich mich um und stapfe Richtung Kursraum. Warum hat er eigentlich das Talent die miesesten Tage noch mieser werden zu lassen? Gestern hat es nicht gereicht, dass ich Stress mit meinen Eltern und mit René hatte und heute reicht es nicht, dass ich jetzt eine Horror-Doppelstunde mit Jas, Nik und Avril habe. Nein, vorher muss er mich vollkommen durcheinander bringen.

Aufgebracht nehme ich meinen Rucksack von meinen Schultern und lehne mich wutschnaubend mit verschränkten Armen gegen die Wand neben der Tür zum Kursraum. Zum Glück ist keiner von den dreien hier. Doch wenn man vom Teufel spricht ... kaum gedacht, sehe ich Nik turtelnd mit Avril um die Ecke biegen und den Flur entlangkommen. Dicht gefolgt von Jasmina, die die beiden von hinten mit Blicken erdolcht.

Jetzt ist es zu spät für ihre Loyalität. Bitte, lass mich diese Doppelstunde einfach überstehen, flehe ich stumm und hefte meinen Blick auf den Boden. Ich ertrage es nicht, Nik mit ihr zu sehen. Jede Zärtlichkeit, die sie miteinander austauschen, fährt wie ein Stich durch mein Herz und schießt Löcher in die Stahltür, die den Weg zu meinen Gefühlen versperrt.

Doch auch wenn ich sie nicht sehe, kann ich mich nicht vor den Geräuschen schützen. Vor ihrem Kichern und Lachen, wenn er sie in die Seite piekst oder wenn er etwas Lustiges erzählt oder wenn er über die Stelle an ihrem Bauch fährt, an der sie scheinbar besonders kitzelig ist. Und die Geräusche sind fast noch schlimmer als die Bilder, denn sie geben mir das Gefühl, dass er mich kein Stück vermisst und viel glücklicher mit ihr ist als er es mit mir jemals war.

»Jess?« Zögerlich, fast flüsternd erreicht mich Jasminas Stimme.

Nein ......... Nein! Nicht jetzt, nicht hier!

»Jess, ich wollte nur fragen, ob du den Brief gelesen - «

»Nein!«, bricht es wütend aus mir heraus und ich schaue sie aus zornigen Augen an. Mein Blick lässt sie sofort verstummen. Auch Nik und Avril sind plötzlich ganz still. Ein paar Nachzügler, die gerade noch rechtzeitig eintrudeln oder an uns vorbei zu anderen Räumen laufen, werfen mir komische Blicke zu. Ich ignoriere sie.

Einige Momente schaue ich Jas stumm an und lege jedes ›Nein‹ in jeder erdenklichen Tonlage in meine Augen.

Resigniert wendet sie den Blick gen Boden und flüstert ein »Okay«. Es ist mir egal, wie sie das Nein deutet. Ob als ›Nein, ich habe deinen Brief nicht gelesen‹ oder als ›Nein, ich will jetzt nicht reden‹. Beides trifft voll und ganz zu.

Im nächsten Moment kommt unser Lehrer, schließt den Raum auf und lässt uns rein. Nik und Avril können froh sein, dass sie sich einen Kommentar verkneifen. Andernfalls hätte ich heute nicht garantiert, dass ich davon absehe, ihnen eine zu knallen. Oder zumindest Avril. So viel Schneid muss ich Domenik leider zugestehen: Dumme Sprüche hat er bisher keine gemacht. Die kamen immer nur von ihr.

Beide gehen kommentarlos an mir vorbei in den Raum und setzen sich auf ihren Platz. Ich folge als Letzte und lasse mich auf meinen neuen Platz in der hintersten Reihe plumpsen. Meine Motivation ist am Nullpunkt angekommen, weshalb diese Doppelstunde und die darauffolgende Einzelstunde, die ich nur mit Jasmina zusammen habe, einfach an mir vorbeiziehen. Meine Gedanken wirbeln irgendwo im Nichts umher ohne klar und greifbar zu werden.

Doch als es zur Pause klingelt, bin ich plötzlich wieder voll da. Aus dem Grund bekomme ich auch ganz genau mit, als Jasmina sich auf dem Hof vor mich drängt und mich daran hindert, zum Rest unserer Stufe zu gehen.

»Jess, bitte lies den Brief.« Sie schaut mich so flehentlich an, dass ich den Blick an ihr vorbeirichte, weil ich weiß, dass ich ihr sonst auf der Stelle jede Möglichkeit zur Erklärung geben und alles verzeihen würde, weil ich sie so vermisse. Aber das will ich nicht.

»Nein«, sage ich daher entschlossen und versuche mich an ihr vorbeizuschieben, um zu zeigen, dass das Gespräch hiermit beendet ist. Doch anscheinend nur für mich, nicht für sie.

Energisch packt sie mich am Arm und hält mich fest. »Nein, ich lasse mich nicht schon wieder von dir abspeisen. Ich verstehe, dass du wahnsinnig verletzt bist ... «, ihre Stimme bricht kurz, was auch meine Unterlippe zum Zittern bringt, » ... du hast auch jedes Recht dazu, aber bitte, bitte lies den Brief. Vielleicht verstehst du mich dann besser und das Ganze wäre etwas weniger schmerzhaft. Bitte, Jess.« Sie lässt meinen Arm nicht los.

Mit meinen Augen den Boden nach Krümeln und Schmutz absuchend antworte ich flüsternd, weil meine Stimme sonst versage würde: »Ich kann nicht.«

»Warum nicht?!«, fragt sie wütend. »Bist du zu stol-«

»Ich hab ihn geschreddert.«

Als hätte ich damit jegliche Hoffnung, dass wir uns jemals wieder in die Augen sehen können, zerschlagen, lässt sie meinen Arm los. »Okay«, resigniert sie und fügt dann schroff und enttäuscht hinzu: »Aber sag nicht, ich hätte nicht alles versucht, um das in Ordnung zu bringen.« Ohne auf eine Antwort zu warten geht sie.

Am liebsten würde ich sie anschreien und ihr sagen, dass sie nichts wieder in Ordnung bringen kann, dass ihr Verrat irreversibel war, aber ich kann nicht. Ich habe jegliche Hoffnung auf eine Versöhnung zerstört. Damit heute bereits zum zweiten Mal. Sie hat alles versucht. Vielleicht hätten wir eine Chance gehabt, wenn ich weniger stur gewesen wäre. Aber jetzt ist es vorbei. Sie hat aufgegeben. Nein, ich habe sie zum Aufgeben gebracht. Das ist viel schlimmer.

Als ich meinen Blick wieder hebe, um zu sehen, wie Jasmina davonläuft, entdecke ich einige Meter neben ihr André, der mit ein paar Jungs in einer Gruppe steht und mich gebannt beobachtet. Selbst als er sieht, dass ich ihn dabei erwische, wendet er den Blick nicht ab, sondern setzt einen nicht zu deutenden Ausdruck auf – Augenbrauen zusammengezogen, um den Mund keine einzige Regung.

Sofort fahren alle meine Schutzmechanismen, die ich gerade aufgrund von Jasminas Niederlage heruntergefahren habe, wieder hoch. Entschieden mache ich auf dem Absatz kehrt und signalisiere damit, dass ich absolut keinen Gefallen daran habe, von einem geheimnisvollen Jungen aus der Ferne beobachtet zu werden.

Warum kapiert er nicht, dass ich nichts von ihm will? Auch nicht nach seinem kleinen Monolog heute Morgen.

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