4 | Ehrlich und verwundbar

1.842 Worte

Vor drei Monaten. Nur drei Worte. Mehr brauchte der fremde Junge vor mir nicht, um mich wieder daran zu erinnern. Um all den Schmerz wieder aufkommen zu lassen, den ich seit zwölf Wochen hinter einer eisernen Türe verschließe, verborgen unter einer Kuppel aus Wut.

Wut auf alles und auf jeden, damit ich den Schmerz und den Verlust nicht spüre, den die beiden in mir hinterlassen haben. Jeder Winkel in meinem Körper, in dem sonst Erinnerungen und Erlebnisse mit Nik oder Jas gewohnt haben, ist jetzt erfüllt von Zorn. Denn Zorn ist besser als Leere.

»Woher weißt du das?«, frage ich forsch, um zu verhindern, dass meine Stimme wie an jenem Abend wieder anfängt zu beben. Die aufkeimende Erinnerung an die Trennung von meinem Freund macht diesen beschissenen Tag noch beschissener.

Der Fremde zuckt bloß mit den Schultern und verrät mir mit seiner Antwort, dass er auf meine Schule gehen muss. »Hab's aufgeschnappt. Wenn ein Mädel zeitgleich mit seinem Freund und der besten Freundin Schluss macht, dann schürt das die Gerüchteküche.«

Das weiß ich leider nur zu gut. Überall vermutet man, dass die beiden miteinander geschlafen hätten und ich deshalb den Kontakt abgebrochen habe. Wäre es so, könnte ich wesentlich leichter damit umgehen. Das ist etwas, was andauernd vorkommt. In Büchern, in Filmen, im echten Leben. Ich wüsste, wie man sich in so einer Situation verhält. Aber nein, Jasmina hat nicht mit meinem Freund geschlafen, sie hat etwas viel Schlimmeres getan. Sie hat ihm geholfen, mit einer anderen zu schlafen. Und als ob das nicht Verrat genug wäre, hat sie mich Niks Untreue auf die denkbar grausamste Art herausfinden lassen. Deshalb kann und werde ich ihr nicht verzeihen und will mir auch keine Erklärungen von ihr anhören.

Genauso wenig, wie ich jemandem erzählen möchte, was wirklich vorgefallen ist. Das geht niemanden etwas an. Und wer Augen im Kopf hat und kombinieren kann, sieht, dass Jasmina und Domenik nicht heimlich miteinander geschlafen haben. Dann wären sie jetzt nämlich zusammen. Aber das sind sie nicht. Sie sprechen ja nicht mal mehr miteinander. Stattdessen datet Nik jetzt ganz offiziell Avril, diese fette, hässliche Kuh.

»Und du willst jetzt wissen, ob was an den Gerüchten dran ist, habe ich recht?«, frage ich mein Gegenüber kalt und ziehe abwertend eine Augenbraue hoch, lasse ihn aber gar nicht erst antworten, sondern schiebe sofort hinterher: »Ach, du kannst mich mal. Hau ab.«

»Nein! Das stimmt nicht«, protestiert er hastig und reißt die Augen auf, während ich mich schon von ihm abwende, um das Buch zurückzubringen, und mir gleichzeitig ein paar einzelne Strähnen aus dem Gesicht streiche. »Das hast du vollkommen falsch aufgefasst. Ich wollte damit nur sagen, dass ich weiß, dass du mich anlügst«, spricht er weiter und eilt mir hinterher.

Ich ignoriere ihn. Egal, weshalb er mich angesprochen hat, ich habe keine Lust auf ein Gespräch und langsam sollte er das wirklich mal kapiert haben.

Doch auch auf meinem Weg zum Regal lässt sich der Ed-Sheeran-Verschnitt nicht abwimmeln. Ich will gerade das Buch ins Regal zurückschieben, da nimmt unser Gespräch eine überraschende Wendung.

»Okay, mein Plan dich im richtigen Moment anzusprechen ist wohl grandios danebengegangen – ich hätte wahrscheinlich keinen schlechteren Moment abpassen können. Aber ich habe jetzt drei Monate gewartet und endlich den Mut aufgebracht, dich anzusprechen, jetzt gebe ich sicherlich nicht kampflos auf«, schlägt er eine andere Taktik an und scheint endlich einzusehen, dass er durch das Ignorieren meiner nonverbalen Zeichen nicht weiterkommt.

Das Gesagte braucht einige Zeit, um bei mir anzukommen. Und als es das endlich tut, weiß ich nicht, wie ich die neuen Informationen auffassen soll. Langsam lasse ich das Buch zwischen seine Artgenossen rutschen, während er neben mir steht und nervös darauf wartet, was ich auf sein Geständnis erwidere.

Schrittweise wende ich mich ihm zu und wiederhole einen Teil seiner Worte als Frage: »Du wartest seit drei Monaten?« Mein Ton gibt absolut keinen Aufschluss darüber, ob ich seine Worte gut oder schlecht finde.

»Ich – Ich – Ja, weil ich mir dachte, also du brauchtest oder brauchst, keine Ahnung, sicher Zeit, um das mit deinem Freund, Ex-Freund, zu überwinden.« Unsicher blickt er mich an und schiebt die Hände in die Hosentaschen, aus Angst sich selbst sabotiert und damit eigenhändig den letzten Funken Hoffnung, dass er eine Chance haben könnte, ausgelöscht zu haben.

Doch seine Ehrlichkeit überrascht mich, denn sie macht ihn verwundbar. Genauso verwundbar wie ich es bei Domenik immer war, er aber nie bei mir. Und für einen kurzen Moment rutscht der Brustpanzer, der mich zukünftig unverwundbar machen soll, von seiner Stelle und ich denke, dass er Grund zum Hoffen hat.

Besänftigt betrachte ich mein Gegenüber genauer und bemerke die Sommersprossen auf Nase und Wangen und das Grau seiner Augen, das von leichten Blauschimmern durchzogen wird.

Doch nur für einen Moment, dann besinne ich mich und rücke den Panzer wieder zurecht. Nik hat mich auch glauben lassen, dass er vollkommen schutzlos sei. Aber das war er nie.

Der Moment, in dem ich nicht gänzlich unverwundbar war, hat jedoch ausgereicht, um ein kleines Feuer der Hoffnung in Ed Sheeran zu entfachen. Bevor ich also wieder kalt und abweisend werden kann, kommt er mir zuvor.

»Ich bin übrigens André.« Der nervöse Ausdruck wird von einem kleinen Lächeln abgelöst und er zieht seine rechte Hand wieder aus der Hosentasche hervor, um sie mir hinzuhalten.

Ich kann nicht leugnen, dass ich es irgendwie schön finde, seinen richtigen Namen zu kennen, aber ich lasse es mir nicht anmerken. Noch einen Moment der Schutzlosigkeit kann ich mir nicht erlauben.

»Wie ich heiße, wirst du sicher wissen«, sage ich gelangweilt und ignoriere seine Hand. Peinlich berührt lässt er sie sinken. Damit hätte ich das Feuer wieder zu einem Funken dezimiert. Doch das reicht mir nicht. Ich will diesen Kerl endlich loswerden – nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft –, deshalb darf nicht mal ein Funken existieren. In den letzten paar Monaten haben mich genug Menschen enttäuscht. Auf neue Bekanntschaften kann ich derzeit wirklich verzichten.

Abweisend verschränke ich die Arme vor der Brust und ziehe wieder eine Augenbraue in die Höhe. »Mach dir aber am besten keine Hoffnungen, dass ich mir deinen Namen merke.«

Das wirkt endlich. Endlich scheint er aufzugeben. »Okay, ich hab verstanden. Du willst in Ruhe gelassen werden.« Geknickt sacken seine Schultern zusammen und das Lächeln, das er bis vor ein paar Sekunden so eisern auf seinen Lippen bewahrt hat, verschwindet.

»Daaaanke.« Kaum habe ich das ausgesprochen, senkt er traurig den Blick und wünscht sich wahrscheinlich, er würde im Boden versinken. Für einen kurzen Moment tut es mir leid und ich will mich für meine Worte entschuldigen, aber dann denke ich daran, wie sehr Nik mich verletzt hat und dass es besser so ist.

Als er sich schließlich abwendet, um zum Ausgang der Bibliothek zu gehen, wirkt er am Boden zerstört. Dabei kennt er mich nicht mal. Er hat heute das erste Mal mit mir gesprochen. So tief kann ihn meine Abweisung beim besten Willen nicht getroffen haben.

Kopfschüttelnd setze ich mich ebenfalls in Bewegung und laufe auf den Ausgang zu, achte jedoch darauf mindestens zehn Meter Abstand zu ihm zu halten. Schon nach kurzer Zeit schlägt er eine andere Richtung ein als ich.

Trotzdem gehen mir seine ehrlichen Worte nicht aus dem Kopf.

Er wartet seit drei Monaten auf den richtigen Moment, um mich anzusprechen. Soll das heißen, er hat vor drei Monaten ein Auge auf mich geworfen? Zu dem Zeitpunkt, als ich mit Nik Schluss gemacht habe? Weil ich ab da in jedermanns Mund war und er mich dadurch bemerkt hat? Oder ist der Zeitpunkt einfach Zufall?

Überfordert atme ich einmal tief ein und aus, fahre mir mit den Händen durchs Gesicht und streiche meine Haare zurück. Dann beschließe ich, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Dort komme ich sicher auf andere Gedanken.

☆☆☆

Leise, weil es inzwischen spät geworden ist, schließe ich die Tür auf, streife meine Schuhe von den Füßen und werfe einen zögerlichen Blick in die Küche. Zu meiner Verwunderung ist sie vollkommen leer. Eigentlich hatte ich erwartet meine Mutter dort vorzufinden, entweder um die letzten Spuren des Wutausbruchs zu beseitigen oder um sich von den eigenen Gedanken durchs Kochen etwas abzulenken.

Doch nichts davon trifft zu.

Ein undefinierbares Gefühl, weil ich nicht weiß, ob ich das gut oder schlecht finden soll, macht sich in mir breit.

Auf Zehenspitzen tapse ich ins Wohnzimmer und hoffe, meinem Vater nicht über den Weg zu laufen. Dadurch, dass ich immer verschwinde, weiß ich nie, wie er nach einem Streit gelaunt ist.

Überrascht bleibe ich stehen, als ich meine Eltern zusammen auf der Couch entdecke. Mein Vater schläft und Mum streicht ihm zärtlich über den Kopf, der auf ihren Schoss gebettet ist, während sie sein schlafendes Gesicht betrachtet. Sie bemerkt mich nicht.

Es ist kein vollkommen sonderbares Bild, meine Eltern auf dem Sofa vorzufinden. Wenn mein Vater nicht gerade wieder aufbrausend ist, verbringen wir sogar manchmal Zeit zu dritt und schauen einen Film. Auch wenn ich mich nie neben ihn setze.

Es ist nicht so, dass er jeden Abend betrunken und aggressiv von der Arbeit nach Hause kommt. Eigentlich habe ich ihn noch nie betrunken erlebt. Und tatsächlich kommt er meistens gut gelaunt und fröhlich nach Hause. Zumindest wenn es in der Firma nicht gerade stressig ist, weshalb ich für Mum immerzu bete, dass es das nicht ist.

Mein Vater ist nur überaus hitzköpfig und jähzornig. Die kleinste Auseinandersetzung mit ihr oder ein winziger Fehler – sei es, dass jemand seine Zeitung verlegt hat – reichen, damit er aus der Haut fährt.

Mittlerweile wissen Mum und ich, wie zu Hause alles sein muss, damit es ein entspannter Abend mit gemeinsamem Familienessen und anschließendem Filmeabend wird. Aber wir können nicht jede seiner Launen vorhersehen.

Zum Glück ist er nur in den seltensten Fällen schlimm aggressiv. Meistens wird er bloß laut. Das heißt nicht, dass ich ihn in Schutz nehme. Das tue ich nicht. Ginge es nach mir, würde ich mit Mum sofort von hier abhauen. Er mag mein biologischer Vater sein, aber mit anzusehen, wie er meine Mutter behandelt, bricht mir das Herz und dafür verabscheue ich ihn. Doch sie schafft es nicht, ihn zu verlassen, weil er schließlich wie ein liebevoller Ehemann sein kann, wenn alles zu seiner Zufriedenheit ist. Und ihr zuliebe spiele ich mit, tue so, als wären wir eine vollkommen normale, glückliche Familie.

Deshalb ist es kein völlig sonderbares Bild, die beiden im Wohnzimmer vorzufinden. Überrascht bin ich, weil ich die beiden noch nie kurz nach einem Streit so vertraut miteinander gesehen habe.

»Mum«, flüstere ich in die Stille, damit sie mich bemerkt.

Erschrocken dreht sie den Kopf zu mir. »Schatz, ich hab dich gar nicht heimkommen gehört.«

»Ich war leise.«

Sie nickt und wirft einen Blick zu meinem Vater, während sie sich auf die Unterlippe beißt und zu überlegen scheint, ob sie mir die Situation erklären soll, lässt es dann aber bleiben. »Es ist spät, besser du gehst ins Bett.«

Da ich weiß, dass sie mir jetzt nichts sagen wird, füge ich mich. Vielleicht erzählt sie es mir morgen. »Okay, gute Nacht. Hab dich lieb, Mum.«

»Ich dich auch, mein Schatz.«

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