3 | Verräter

1.632 Worte

Ich stehe einfach nur da und schaue, unfähig auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Die Worte zerstäuben in eine Million kleiner Teilchen, bevor ich sie lesen kann, und wirbeln in meinem Kopf umher. Wie Staub, den man von einem alten Buch pustet.

Vor mir steht Nik. Jedoch nicht wie erwartet mit seinem Vater an der Laube arbeitend, sondern eng an ein braunhaariges Mädchen geschmiegt, das definitiv nicht ich bin.

So vertraut hat er mich schon seit sechs Monaten nicht mehr berührt.

Doch der Wortstaub in meinem Kopf verhindert jegliche Möglichkeit einer anständigen Reaktion auf diese Situation. Allerdings nur bei mir, Domenik scheint reagieren zu können.

Erschrocken schaut er mich an und löst sich von seinem Gegenüber.

»Jess – Was, was machst du hier?«

Ich schüttle den Kopf, bereit dafür, mich einfach umzudrehen und alles zu vergessen, was ich gesehen habe. Das ist ein böser Traum. Das passiert nicht wirklich. Nik würde mich nicht betrügen – niemals.

»Nichts, ich mache nichts hier. Ich bin schon wieder weg.« Immer noch völlig gelähmt drehe ich mich weg. Die Taubheit, die von meinem Körper Besitz ergriffen hat, breitet sich immer weiter aus. Das ist alles nicht wahr.

Nik deutet meine Reaktion völlig falsch. Nicht als Verdrängen der Tatsachen, sondern dass für mich alles gelaufen ist. Also geht er zwei Schritte auf mich zu, um mich am Arm zurückzuhalten. Dabei entdeckt er Jasmina, die ein paar Meter von der Gartenlaube entfernt gewartet hat, und seine Aufmerksamkeit wird umgelenkt.

An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass die Person, die mir bei den Vorbereitungen für diesen Abend geholfen hat, in dem Moment, in dem sie vorschlug zu Domenik zu fahren, genau wusste, dass der Abend in einem absoluten Desaster enden würde.

»Du bist ja auch hier«, sagt er an Jasmina gewandt. Der Ton seiner Stimme irritiert mich und drängt etwas von dem Taubheitsgefühl beiseite. Er ist sauer. Warum ist er sauer?

»Nik, hör zu, ich – «

Sie kommt nicht dazu, den Satz zu beenden, er unterbricht sie. »Warum hast du sie herkommen lassen? Deine einzige Aufgabe war, dafür zu sorgen, dass sie zu Hause bleibt!« Seine Stimme wird immer lauter bei den letzten Worten und wütend hebt er die Hände in die Höhe, wodurch er meinen Arm loslässt. Erst da bemerke ich, wie unangenehm mir diese Berührung war und Erleichterung durchflutet mich. Das Taubheitsgefühl verschwindet immer mehr.

Mein Kopf fängt an zu arbeiten und will die neuen Informationen aufnehmen, ist damit aber heillos überfordert. Wie versteinert stehe ich neben Nik und versuche, Sinn in die soeben gefallenen Sätze zu bringen. Sie sollte dafür sorgen, dass ich zu Hause bleibe? Warum?

»Du wusstest davon?«, schlussfolgere ich flüsternd, als könnten die Worte dadurch an Gewicht verlieren.

»Jess, ich, ja, aber – «

»Du hast es gewusst?!« Nun werde ich doch lauter.

»Jess, bitte, lass es mich erklären«, fleht mich meine beste Freundin an und kommt auf mich zu, doch für jeden Schritt, den sie auf mich zumacht, mache ich zwei zurück.

»BLEIB WEG!« Meine laute, bebende Stimme bringt sie augenblicklich zum Innehalten und beseitigt auch den letzten Rest Taubheit in mir. Ich spüre, dass die Tränen jeden Moment aus mir herausbrechen werden. Mehr zu mir selbst als zu irgendjemand anderem flüstere ich kopfschüttelnd: »Ich muss hier weg. Ich muss hier weg!«

Und ehe Nik oder Jas reagieren können, stürme ich an ihnen vorbei zum Gartentor. Zwar rufen beide noch meinen Namen, aber ich reagiere nicht darauf. Das Letzte, was ich höre, ist die widerwärtig säuselnde Stimme des Flittchens: »Jetzt musst du dich wenigstens nicht mehr entscheiden. Endlich können wir auch in der Öffentlichkeit zusammen sein.«

Die Tränen verklären meine Sicht, trotzdem fahre ich mit dem Auto wahllos durch die Gegend, bis ich vor meiner Lieblings-Bibliothek zum Stehen komme. Ich parke den Wagen und verziehe mich in den hintersten Teil des Gebäudes, wo ich mich auf den Boden sinken lasse, die Knie an die Brust ziehe, sie mit meinen Armen umschlinge und mein Gesicht dazwischen vergrabe. Durch die vielen Bücherregale abgeschirmt von neugierigen Blicken lasse ich meinen Tränen freien Lauf.

Ich werde geschüttelt von meinen Schluchzern und bin froh, dass um diese Uhrzeit kaum noch jemand hier ist, der mich hören könnte.

Doch so ganz alleine, ohne jemanden, der mich festhält, strömen die Gedanken nur so auf mich ein und ein wahres Gedankenkarussell kommt in Fahrt.

Ich überlege, wie lange das schon gehen muss und warum ich es mir nicht denken konnte.

Nik hat vor sechs Monaten angefangen sich zurückzuziehen. Seitdem er mir für unseren Halbjahrestag abgesagt hat. Aber seine Geschichte von damals stimmt, er musste mit seiner Schwester in die Notaufnahme. Er kann nicht schon damals wegen ihr abgesagt haben.

Andererseits waren die Zeichen seitdem eigentlich mehr als eindeutig. Er hat mir seltener gesagt, dass er mich liebt, hat mich immer seltener so vertraut angefasst und angesehen. War zurückhaltender beim Austauschen von Zärtlichkeiten.

Und ich dumme Nudel habe ihm jedes Mal geglaubt, wenn ich ihn gefragt habe, ob alles okay ist, und er Ja gesagt hat. Ich habe ihm geglaubt, obwohl ich gespürt habe, dass es das nicht ist. Und dann habe ich mich noch mehr ins Zeug gelegt. Ich habe ihm Briefchen geschrieben, weil er es damals schon geliebt hat, wenn ich das gemacht habe. Habe ihm noch mehr gezeigt und gesagt, wie viel er mir bedeutet und wie sehr ich ihn liebe. Um dann am Ende verletzt zu werden, weil nur halb so viel zurückgekommen ist. Wenn es denn noch halb so viel war.

Trotzdem bin ich nicht schlauer geworden. Ich habe gemacht und getan. Habe immer wieder Schritte auf ihn zugemacht, um dann erneut weggestoßen zu werden. Ich habe nicht gelernt. Nein, ich habe alles für ihn gegeben, um jetzt zu sehen, dass er es gar nicht wollte, dass er es weggeschmissen hat für jemand anderen aus unserer Stufe – für Avril. Allein der Name schreit schon nach Flittchen.

Und dann erinnere ich mich, dass es Tage gab, an denen er doch genauso war, wie ich ihn kennengelernt habe. Momente, die all seine Zurückweisung wieder wettgemacht haben. Momente, in denen er mir all die Zärtlichkeit geschenkt hat, die ich die letzten Wochen vermisst habe. Momente, in denen ich mich wieder von ihm geliebt gefühlt habe. Also warum sollte ich mit ihm Schluss machen, wenn er mich doch offensichtlich liebte, es mir nur nicht immer zeigte? Was für ein Mensch wäre ich dann?

Die Erinnerung an diese guten Tage legt sich wie eine eiserne Hand um mein Herz und quetscht es zusammen. Der seelische Schmerz lässt mich laut aufschluchzen.

Wie sehr wünsche ich mir in diesem Moment jemandem an meiner Seite, der mich in die Arme schließt, mir beruhigend über den Rücken streicht und mich einfach weinen lässt.

Jas würde diesen Part jetzt normalerweise übernehmen. Aber der Gedanke, dass sie mit involviert war, presst mein Herz nur noch mehr zusammen. Wie kann man zwei seiner engsten Freunde an einem Tag verlieren?

Und ich weiß nicht einmal, wie Jasmina involviert war. Sie wusste, dass Domenik mit einer anderen etwas am Laufen hatte und sollte das vor mir verstecken, nein, sogar dafür sorgen, dass ich nicht unangekündigt bei Domenik auftauche und ihn in flagranti erwische.

Nur warum hat sie sich heute dagegen entschieden? Warum hat sie mich so absolut unvorbereitet in diese Situation rennen lassen? Hat sie gedacht, Domenik würde sie nicht enttarnen und sie könnte mir jetzt zur Seite stehen? Einfach so tun, als hätte sie es nicht gewusst?

Beim Gedanken wie tiefgreifend ihr Verrat ist, schlinge ich meine Arme noch fester um meine Knie. Sie war meine beste Freundin. Sie hätte es mir sagen müssen, wenn sie erfährt, dass mein Freund mich betrügt. Es ergibt keinen Sinn, dass sie es mir nicht gesagt hat, weil sie mir den Kummer ersparen wollte, wenn sie mich dann ins offene Messer laufen lässt, mich, in dem Moment, in dem ich begriff, dass sie von Domeniks Affäre wusste, hinterrücks erstochen hat.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch so sitzen bleibe, weinend meine Knie an meine Brust gepresst, doch irgendwann lassen die Schluchzer nach. Und als schließlich auch die letzte Träne auf meiner Wange getrocknet ist, erhebe ich mich, bereit nach Hause zu gehen.

In den nächsten Wochen ignoriere ich jeden Anruf und jede SMS von den beiden und als ich genug von ihren geheuchelten Entschuldigungen habe, blockiere ich sie. In der Schule gehe ich beiden aus dem Weg und wehre jeden Versuch von Jasmina, mich anzusprechen, ab. Domenik hat sich der Situation einfach gefügt.

Doch Jasmina gibt nicht auf. Zehn Wochen nach der Trennung von Nik und dem Freundschaftsbruch mit ihr liegt ein Brief von ihr draußen auf meinem Fensterbrett. Ich nehme ihn, öffne ihn und gebe die Blätter ungelesen dem Papierschredder zum Fraß.

Die Wochen haben das Gedankenkarussell in mir zwar nicht zum Erliegen gebracht, ganz im Gegenteil, es läuft auf Hochtouren, aber ich will keine ihrer Entschuldigungen lesen oder hören. Denn egal, wie gut oder plausibel die auch sein mögen, nichts kann diesen Verrat wiedergutmachen. Der einzige Trost, den ich habe, ist, dass ich nicht die Einzige bin, die an diesem Tag zwei Freunde verloren hat. Jas hat Domenik genauso verloren wie ich. Ich habe die beiden seitdem nicht mehr miteinander reden sehen. Wahrscheinlich nimmt er es ihr übel, dass sie mich zu ihm geschickt hat.

Nach dem Brief hat aber auch Jas sich ihrem Schicksal gefügt und keinen weiteren Versuch mehr unternommen, mit mir zu reden.

Wenigstens geht sie mir aus dem Weg und macht nicht wie Nik vor meinen Augen mit seiner Freundin rum. Er genießt es voll und ganz, jetzt auch öffentlich mit ihr knutschen zu können.

Etwas, was es mir nicht leichter macht, über ihn hinwegzukommen. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn ich die beiden sehe, versetzt es meinem Herzen einen Stich und ich denke an die Zeit, in der diese Zärtlichkeiten mir galten.

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