22 | Mum
2.079 Worte
In den letzten Wochen habe ich meinen festen Freund und meine beste Freundin verloren, habe geglaubt, dass mein Bruder dem Vorbild unseres Vaters nacheifert, bin mehr als nur einmal einer Täuschung in Bezug auf André unterlegen gewesen, habe mich mit ihm ausgesprochen, habe gelernt, dass mein Bruder nicht wie unser Vater ist, konnte mich mit Jas versöhnen und darf nun einen wundervollen Jungen als meinen Freund bezeichnen. Doch nichts von den Höhen und Tiefen, die ich durchlebt habe, hätte mich auf dieses Gespräch vorbereiten können.
Mein eben noch schwereloses Gefühl weicht einer bleiernen Last, die mich kaum die Füße heben lässt. Alles in mir sträubt sich dagegen, auf meine Mutter zuzugehen.
Ich habe Angst vor einer erneuten Enttäuschung.
»Hey, Schatz.« Das Gesicht meiner Mutter wirkt eingefallen, Schatten liegen unter ihren geröteten Augen und sie blickt mich unsicher an, während sie versucht, möglichst aufrecht zu sitzen.
»Wo ist René?«, frage ich, ohne auf ihre Begrüßung einzugehen.
Ihre aufrechte Haltung sinkt ein wenig in sich zusammen, als sie die Schultern hängen lässt. »Er ist in seinem Zimmer. Ich habe ihn gebeten, uns allein zu lassen.«
»Was machst du hier?« Mein Herz fängt an zu bluten, als ich meine distanzierten Worte höre, aber meine Mutter wird nie wieder die sein, für die ich sie all die Jahre gehalten habe.
»Ich wollte mit dir reden. Bitte, Jess, bleib da nicht so stehen. Bitte setz dich neben mich«, fleht sie mich im nächsten Augenblick an. Ihre Stimme treibt mir Tränen in die Augen.
Ich will meine Mum wieder haben. Die Mum, von der ich geglaubt habe, dass sie mich immer beschützen würde – komme, was da wolle.
Kaum in der Lage, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, setze ich mich im Schneidersitz neben sie auf die Couch, greife mir eines der Kissen, die darauf liegen und presse es wie einen Schutzschild vor mich.
»Ich weiß, ich habe dir schrecklich wehgetan. Und ich weiß, dass ich das niemals, niemals wieder ungeschehen machen kann.« Ihre Stimme zittert. »Aber ich möchte, dass du wieder nach Hause kommst.«
»Mum, ich – «
»Deshalb werde ich mich von ihm trennen.«
Stille.
Diese Nachricht muss ich erst verarbeiten.
Als ich nichts erwidere, redet meine Mutter weiter. »Noch nicht sofort. Dafür fehlt noch zu viel. Ich brauche einen Job und eine eigene Wohnung und muss erst etwas Geld ansparen, aber ich habe es vor. Versprochen.«
»Warum auf einmal?« Ich bin immer noch so überrascht von ihren Worten, dass ich nichts anderes sagen kann. Woher stammt dieser plötzliche Sinneswandel?
Sie seufzt. »Ich liebe ihn. Auch nach all der Zeit noch, weil ich weiß, dass er nicht immer schlecht ist. Weil er sogar richtig toll sein kann. Aber dich liebe ich mehr. Du bist mein Kind. Und ich will dich nicht verlieren. Dass mir das jetzt beinahe passiert wäre, bricht mir das Herz. Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen.«
Ohne ein weiteres Wort streckt sie die Arme aus und nach kurzem Zögern schmeiße ich das Kissen weg, rutsche zu ihr und lasse mich umarmen. Sofort beginnen die Tränen zu fließen.
Ich habe sie so sehr vermisst.
Vielleicht vergebe ich zu schnell und das alles wird noch eine bitterböse Wendung nehmen. Aber lieber bin ich nachsichtig statt nachtragend und gewinne Menschen zurück, statt sie den Rest meines Lebens zu vermissen.
Als Mum und ich uns schließlich voneinander lösen – auf ihrer Schulter prangt ein nasser Fleck –, ergreift sie wieder das Wort. »Ich weiß, du wirst trotz allem nicht mit nach Hause kommen, deshalb habe ich vorhin schon mit René gesprochen und er hat gesagt, es wäre okay, wenn du auch weiterhin erst mal bei ihm lebst. Er wird das auch noch mit Chiara klären.«
Ich nicke einfach, weil ich nicht weiß, wie viel René Mum von dem Drama mit Chiara erzählt hat. Ob er etwas erzählt hat.
»Und sobald ich eine Wohnung gefunden habe, kannst du wieder zu mir ziehen. Ich werde extra hier in der Nähe suchen, damit du weiter auf deine Schule gehen kannst.«
»Ist okay, Mum.« Mir stehen immer noch Tränen in den Augen und ich kuschle mich wieder an sie.
»Sollen wir René holen und uns noch einen Film anschauen?«, fragt sie und drückt mir einen Kuss auf den Kopf.
Ich nicke.
René macht ›Alles steht Kopf‹ an, doch ich bekomme nicht mehr viel davon mit. An Mums Schulter gelehnt schlafe ich langsam ein. Zu müde, um die Ironie zu bemerken, die zwischen dem Titel und den Ereignissen in meinem Leben besteht.
☆☆☆
Am Sonntag klären René und ich alle Details mit Chiara, die nichts dagegen hat, wenn wir die nächste Zeit zu dritt in seiner Wohnung leben. Sie wird wieder einziehen, sobald René die erste Therapiestunde besucht hat. In einem kurzen Moment, in dem ich mit ihr alleine bin, flüstert sie mir zu, dass sie sogar ganz froh ist, wenn ich zu Beginn mit ihnen zusammenwohne.
Ich verstehe sie angesichts des Vorfalls mit meinem Vater und dennoch brechen mir ihre Worte gleichermaßen das Herz, weil es bedeutet, dass noch viel Arbeit vor den beiden liegt, bis sie wieder so vertraut miteinander umgehen wie einst. Aber sie werden das schaffen.
☆☆☆
Am Montag wartet mein ganz persönlicher Ed Sheeran schon vor dem Schulgebäude auf mich.
»Hey, mein Schatz«, begrüßt er mich, schließt mich in seine Arme und gibt mir einen zarten Kuss, der meinen Körper sofort nach mehr verlangen lässt. »Eine Schande, dass wir in zwei verschiedene Jahrgänge gehen. Ich wünschte, wir hätten gemeinsame Kurse, denn ich möchte gar nicht aufhören, dich anzuschauen.«
Ich muss lachen angesichts seiner super schnulzigen Worte. »Ich hätte nicht gedacht, einen Jungen tatsächlich mal so etwas sagen zu hören.« Trotzdem lassen sie mein Herz höher schlagen, denn ausgerechnet ich bin es, die diesen Jungen abgekriegt hat. Und dass, obwohl ich am Anfang so abweisend war.
»Ich weiß einfach, was Mädchen gerne hören wollen«, versucht André mich zu necken und ich schnipse ihn gegen die Brust.
»Blödsinn. Du bist alles, aber kein Aufreißer.«
»Vermutlich hast du recht.« Grinsend senkt er seinen Kopf und kommt meinen Lippen unglaublich nahe, ohne sie zu berühren. Ihm gefällt die Wirkung, die er damit auf mich hat. Sehnsüchtig warte ich darauf, dass er die letzten paar Zentimeter zwischen unseren Mündern überbrückt, und genieße die süße Folter. »Vermutlich bin ich einfach so schnulzig«, haucht er.
Atemlos erwidere ich: »Vermutlich.« Dann endlich schließt er die Lücke zwischen uns, während im Hintergrund die Schulglocke ertönt, die uns sagt, dass wir von jetzt an fünf Minuten haben, um zu den Kursräumen zu gelangen. Ich seufze. Ich will mich noch nicht von ihm trennen.
»Sehen wir uns in der Pause?«
»Ja. Dann werde ich dir Jasmina mal richtig vorstellen«, sage ich und drücke meine Nase in sein Shirt.
»Ich freue mich schon darauf, sie kennenzulernen. Aber jetzt müssen wir los. Also hör auf, dich so an mich zu schmiegen, sonst schaffen wir es niemals zu unseren Kursen.« Sanft schiebt er mich ein bisschen von sich weg, greift nach meiner Hand und schlendert mit mir auf das Schulgebäude zu.
☆☆☆
Nachdem es zur Pause geklingelt hat, treffe ich Jas bereits im Treppenhaus. Sie stößt auf der zweiten Etage zu mir und zuerst wissen wir beide nicht, ob wir zusammen nach unten ins Foyer gehen sollen oder jeder alleine. Aber dann lächle ich sie an und die Gefahr eines peinlichen Momentes ist gebannt.
Schon merkwürdig, wie die selbstverständlichsten Dinge wieder ganz neu für einen werden. Vor ein paar Monaten hätten wir hier sogar aufeinander gewartet, um dann untergehakt beim jeweils anderen nach unten zu gehen.
Für einen kurzen Moment spüre ich ein Ziehen in meinem Magen, weil es nur ein paar Sekunden gebraucht hat, um Jahre der Freundschaft beinahe unwiederbringlich zu zerstören, und wir jetzt wieder bei null anfangen müssen.
Doch ich verdränge diesen Gedanken. Wichtig ist das Hier und Jetzt. Unsere Freundschaft hat überlebt und nur darauf kommt es an. Alles andere kann man nicht mehr ändern.
»Hey. Lust mit zu mir und André zu kommen? Ich würde euch gerne offiziell einander vorstellen«, stupse ich sie neckend an und denke an die Situation, als ich André und sie im Foyer habe reden sehen.
Sie versteht meinen Wink. »Das wäre schön. Irgendwann musst du mir mal erzählen, wie er es geschafft hat, dass du ihm nach diesem Fiasko zugehört hast.«
»Ich glaube, das erzählt besser er dir«, lache ich und stoße die Tür zum Foyer auf. »Ich komme dabei nämlich nicht so gut weg.«
Weil ich meinen Freund nicht auf Anhieb entdecken kann, steuern Jas und ich erst mal auf einen der Oberstufentische zu und platzieren unsere Taschen auf der Bank. Ich will mich gerade hinsetzen, als André vom Chemie-Trakt zu uns herüber geschlendert kommt.
Lächelnd schlingt er seine Arme um meine Taille und schenkt mir einen Begrüßungs-Kuss. Ich grinse in mich hinein, weil ich mir Jas' Gesicht bildlich vorstellen kann. Schließlich habe ich ihr noch nicht gesagt, dass wir jetzt zusammen sind.
»Hey, Schatz.«
»Hey.«
»Wann ist das passiert?« Jas' Ton nach zu urteilen, hat sie die Augen weit aufgerissen und starrt uns mit offenem Mund an.
Grinsend drehe ich mich zu ihr um. »Jas, darf ich dir André vorstellen, meinen Freund. Seit Samstagabend.«
Mit einem Arm um meine Taille steht André neben mir und lacht, als Jasmina ein kurzes, schrilles Kreischen ausstößt.
»Oh mein Gott, Jess, ich freue mich so für dich.« Freudig fällt sie mir um den Hals, verdrängt dabei André und drückt mich fest an sich. Zuerst verspanne ich mich, aber dann lege ich meine Arme um sie und genieße das Gefühl von Vertrautheit. »Ihr zwei habt euch wirklich verdient.«
Verliebt lächelnd drehe ich mich zu ihm, während Jas einen Schritt zurücktritt. »Naww, ihr seid echt verliebt.« Den Kopf zur Seite gelegt betrachtet sie uns ganz verzückt und André gibt mir noch einen Kuss.
Ich bin so auf ihn konzentriert, dass ich die giftigen Blicke, die Nik uns von weitem zuwirft, gar nicht bemerke. Erst als Jasmina mich auf ihn aufmerksam macht, suche ich sein Gesicht in der Menge.
Er steht mit seinen Kumpels in einer Gruppe und schaut immer wieder feindselig zu uns rüber. Mir wird ganz anders, als sich unsere Augen begegnen, und mein Herz beginnt unangenehm schnell zu schlagen.
»Er soll uns einfach in Ruhe lassen«, sage ich grimmig und wende mich wieder André und Jas zu. Der Blick von letzterer weilt allerdings immer noch bei Domenik.
»Hat er etwa ein Veilchen?«
Obwohl ich es gar nicht will, schaue ich unwillkürlich wieder zu ihm hin. Tatsächlich – sein rechtes Auge schillert in satten Blau- und Violetttönen.
»Geschieht ihm recht«, schnaube ich.
»Was grinst du denn so?«, fragt Jas André, der bisher nicht einmal Anstalten gemacht hat, in Niks Richtung zu schauen, und zieht herausfordernd eine Augenbraue hoch. Ein wissendes Grinsen umspielt ihre Mundwinkel.
»Ich? Ich grinse nicht«, verteidigt er sich wenig überzeugend.
Das glaube ich jetzt nicht. »Du hast ihn geschlagen?«
Gleichgültig zuckt er mit den Schultern. »Wie du sagst: Er hat es verdient.«
»Ja, aber ich fasse es nicht, dass du ihn geschlagen hast.« Unschlüssig, ob ich glücklich oder empört über seine Tat sein soll, trete ich einen Schritt zurück und schaue zu ihm hoch. »Das machst du aber bitte nicht öfter. Das passt auch gar nicht zu dir.«
Versöhnend gibt André mir einen Kuss auf den Kopf und streicht mit seinem Daumen über meinen Handrücken. »Ich weiß. Ich bin auch gar nicht mit dem Vorsatz, mich zu prügeln, in die Schule gekommen, aber er hat mich blöd angemacht und nach dem, was er letzte Woche dir gegenüber abgezogen hat, musste ich ihn in seine Schranken weisen und auch gleich mal klarstellen, dass du jetzt zu mir gehörst.«
Das wiederum lässt mir ganz warm ums Herz werden. »Dann schaut er also wegen dir so böse hier rüber.«
»Wahrscheinlich.«
»André, kennst du noch andere Jungs, die so sind wie du?«, klinkt Jas sich wieder in das Gespräch mit ein und seufzt. »Euch zwei zu beobachten, kann einen echt neidisch machen.«
»Ich fürchte, leider nicht. Aber ich kann ja mal Ausschau halten.«
Lachend antwortet sie: »Jetzt wird dein Freund aber doch ein bisschen großspurig. Pass auf, dass du sein Ego nicht zu sehr pushst.«
Ich grinse und gebe ihm noch einen Kuss. »Das mache ich.«
Viel zu schnell geht die Pause vorbei und wir müssen wieder in den Unterricht. Doch selbst die Aussicht, die nächste Unterrichtsstunde mit Nik verbringen zu müssen, kann meine Freude nicht trüben.
Er wird mich in Ruhe lassen. Dafür hat André gesorgt. Und endlich scheint es in meinem Leben wieder bergauf zu gehen.
Was will ich mehr?
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