21 | Nah
981 Worte
Auf der Rückfahrt hält André wieder meine Hand, sobald ich sie ihm nach seiner stummen Frage reiche. Für meinen Geschmack ist die Fahrt viel zu schnell vorbei. Ich hätte noch ewig neben ihm sitzen und seine Berührungen spüren können.
Doch leider sind die schönsten Momente am schnellsten vorbei.
Wie heute Morgen hält er vor Renés Wohnung, aber ich mache keine Anstalten auszusteigen.
Der Tag war so schön. Ich will noch nicht, dass er vorbei ist. Ihm scheint es ähnlich zu gehen. Unschlüssig, was er jetzt tun soll, sitzt er in seinem Sitz, hält das Lenkrad fest und starrt durch die Frontscheibe. Das Licht der Straßenlaterne, die vor Renés Mehrfamilienhaus steht, bescheint sein Gesicht.
Irgendwie hoffe ich, dass er etwas tun wird. Dass er sich mir zuwenden, sich über die Mittelkonsole beugen und mein Gesicht in seine Hände nehmen wird, um mich zu küssen. Ja, ich will, dass er mich küsst.
Er hat es geschafft. Dieser Junge hat es geschafft, mir zu zeigen, dass es nicht glücklich macht, Menschen auf Abstand zu halten und ist mir gleichzeitig immer ein Stückchen näher gekommen, ohne dass ich mich dem entziehen konnte.
Und jetzt wünsche ich mir, dass er mir näher kommt als jemals zuvor. Ich möchte ihn weiter kennenlernen und mit jeder Eigenschaft, die er besitzt, Bekanntschaft machen.
Aber er rührt sich nicht und langsam wird die Stille in seinem kleinen Mercedes unangenehm. Irgendwann löse ich meinen Anschnallgurt und lege die Hand an die Tür, bereit auszusteigen, weil ich mich nicht traue, den ersten Schritt zu machen.
»Also dann, sehen wir uns am Montag?«
Als hätte ich ihn aus seinen tiefsten Gedanken gerissen, schaut André mich an und scheint jetzt erst zu bemerken, dass ich dabei bin, auszusteigen. »Ach so, ähm, ja natürlich. Bis Montag.«
Der letzte Rest Hoffnung zerplatzt wie ein Ballon, der gegen einen Kaktus fliegt. Er wird mich heute nicht mehr küssen.
»Okay.« Enttäuscht betätige ich den Hebel an der Tür und steige aus. Ohne André nochmal anzuschauen, lasse ich sie zufallen und gehe auf die Eingangstür des Mehrfamilienhauses zu. Eine kleine Maus flitzt dicht an der Wand im Schutz der Dunkelheit davon, nicht mutig genug, um sich weiter vorzuwagen.
Ich bin schon fast am Eingang, da höre ich Andrés Tür zuschlagen. »Jess!«
Ich bleibe stehen, drehe mich zu ihm herum und sehe, wie er vorne um sein Auto läuft und auf mich zukommt. »Ich habe etwas sehr Wichtiges vergessen.«
Mein Herz beginnt bei seinen Worten zu flattern. Ein neuer Ballon füllt sich mit Hoffnung.
Dicht vor mir bleibt er stehen und nimmt mir schlagartig jegliche Luft zum Atmen. Mit zittrigen Fingern ergreift er meine Hände und streicht mit seinen Daumen über meine Handrücken. Dann lässt er eine Hand los, führt sie an meine Wange und beugt sich in Zeitlupengeschwindigkeit zu mir nach unten, während sich seine und meine Augen schließen.
Mein Herz flattert so schnell, dass es genauso gut auch stillstehen könnte. Ich würde den Unterschied nicht erkennen. Und als seine Lippen schließlich meine berühren, scheint es genau das zu tun – es hört auf zu schlagen.
Andrés Kuss ist sanft und zurückhaltend, aber nachdem er merkt, dass ich ihn nicht zurückweise, wird er intensiver. Seine zweite Hand wandert an meinen Rücken und zieht mich noch näher zu sich heran.
Ich lege meine Hände in seinen Nacken und ziehe ihn zu mir nach unten. Er soll mich nie wieder loslassen.
Mein gesamter Bauch zieht sich zusammen, als ich schließlich seine Zunge spüre, die tastend über meine Unterlippe fährt.
Mir entfährt ein Seufzen, das er als Erlaubnis auffasst, meine Lippen zu teilen. Als ich seine Zunge in meinem Mund spüre, kann ich ein weiteres Seufzen nicht unterdrücken.
»Oh Gott, Jess, ich habe mich so unsterblich in dich verliebt. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
Oh doch, das kann ich. Wenn er sich nur annähernd so fühlt wie ich mich gerade, kann ich mir das sehr gut vorstellen.
Langsam zieht er sich zurück, ohne den Abstand zwischen uns zu verringern. Meinen Körper dicht an sich gepresst blickt er auf mich herab und lehnt seine Stirn an meine, während wir beide wieder zu Atem kommen.
»Jess?«
»Mhm.«
»Du weißt, ich würde dich niemals zu etwas drängen und wenn du noch nicht bereit dafür bist, dann sag es, aber ... ich will mit dir zusammen sein. Ich möchte dich als ›meine Freundin‹ vorstellen dürfen und stolz darauf sein, dass so ein wundervolles Mädchen zu mir gehört.«
Ich wünschte, er könnte sehen, was er mit diesen Worten in mir anrichtet, denn dann wüsste er, wie die Antwort lautet.
Vorsichtig nehme ich seine Hand von meiner Wange und lege sie dorthin, wo er mein Herz aufgewühlt gegen meine Rippen schlagen spüren kann. »Weißt du, welches Wort dir dieses Herz mit jedem Schlag zuruft?«
Ein Lächeln, so breit, dass es die Hälfte der Erde umfassen könnte, erscheint auf seinen Lippen, während er mich schlagartig noch dichter an sich zieht, dabei alle Luft aus meinen Lungen presst und seine Lippen auf meine legt.
Als er sich schließlich wieder von mir löst, rutscht ein leises Kichern über meine Lippen und ich schmunzle ihn verliebt an. »Ja. Ja, ich möchte deine Freundin sein.« Dafür zieht André mich gleich nochmal an sich.
»Okay, ich glaube, du solltest jetzt hochgehen. Wir sehen uns am Montag wieder. Obwohl ich nicht weiß, ob ich bis dahin warten kann«, zwinkert er mir zu und macht einen Schritt rückwärts.
Ich lache wieder. »Bis Montag, André.« Grinsend beobachte ich, wie er zu seinem Auto läuft, einsteigt und mir einen letzten Blick zuwirft, bevor er heimfährt.
Ich drehe mich um, betätige die Klingel für Renés Wohnung und drücke die Eingangstür auf, als der Summer ertönt.
Die Tür zu Renés Wohnung ist nur angelehnt, als ich nach oben komme. Immer noch beschwingt von dem, was soeben passiert ist, stoße ich sie auf und stürze augenblicklich von Wolke 7 in eine bodenlose Tiefe.
Auf dem Sofa sitzt meine Mutter.
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