20 | Zu Besuch

1.876 Worte

Um kurz nach elf fährt André in einem roten Mercedes A-Klasse vor Renés Wohnung vor. Portemonnaie und Handy in der Hand haltend stehe ich am Bürgersteig bereit und warte. Die Sonne strahlt warm vom Himmel und wärmt meine nackten Arme.

André hält neben mir und ich öffne die Beifahrertür, um einzusteigen. Nachdem ich mich gesetzt und angeschnallt habe, schaue ich zu ihm.

Seine gesamte Aufmerksamkeit liegt auf mir. Seine Augen wandern über meinen gesamten Körper und betrachten jedes einzelne Detail, landen aber schlussendlich wieder in meinem Gesicht.

Ich grinse, um meine Unsicherheit zu kaschieren, und frage kess: »Gefalle ich dir?«

Er nickt und schluckt. »Mehr als das. Du siehst umwerfend aus.«

Bei seinen Worten spüre ich, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt und meine Wangen einen rötlichen Ton annehmen.

»Du wirst sie genauso verzaubern wie meine Eltern. Die lieben dich jetzt schon.«

»Jetzt schon? Aber ich war doch erst einmal bei euch«, sage ich verwundert und werde noch farbiger im Gesicht.

»Schon, aber du warst ihnen auf Anhieb sympathisch. So wie du mir auf Anhieb aufgefallen bist.«

Ungläubig schüttle ich den Kopf, während André die Kupplung kommen lässt und das Auto in Bewegung setzt. Rückwärts fährt er das kurze Stück aus der Straße wieder heraus, dreht und schlägt den Weg zur Autobahn ein.

Während der neunzigminütigen Autofahrt sagen wir beide nicht viel. Im Radio läuft leise Musik und ich schaue die meiste Zeit aus dem Fenster und betrachte die vorbeiziehende Landschaft.

Nach einem Drittel der Strecke spüre ich, wie André mit seinem Handrücken mein Bein berührt. Vorsichtig streicht er mit der Rückseite seines Zeigefingers meinen Oberschenkel entlang, bis er bei meiner Hand, die auf meinem Knie ruht, angelangt ist. Als bitte er um Erlaubnis, nach meiner Hand greifen zu dürfen, wartet er ab.

Mein Herz, das bei seiner Berührung einen doppelt so schnellen Takt angeschlagen hat, fühlt sich schon wieder an, als hätte es seinen Platz zwischen den Lungenflügeln verlassen und wäre hinauf in den Hals geklettert.

Mit zittrigen Fingern hebe ich meine Hand vom Knie und greife nach seiner. Augenblicklich verschränkt er unsere Finger miteinander. Ohne Vorwarnung bleibt mein Herz bei diesem Gefühl stehen und fällt von seinem Platz in meinem Hals vier Etagen tiefer zwischen meine Eingeweide. Obwohl André nur meine Hand berührt, prickelt mein ganzer Körper.

So verweilen unsere Hände für den Rest der Fahrt. Nur wenn er schalten muss, löst er unsere Hände voneinander, aber sobald er wieder ein Tempo beibehält, fährt er erneut mit seinem Zeigefinger mein Bein entlang und wartet, bis ich ihm meine Hand reiche.

Diese Art von unausgesprochener Frage ist für mich ganz neu. Wenn Nik und ich unterwegs waren, hat er immer ungefragt seinen Arm um mich gelegt oder meine Hand ergriffen. Das hat mich nie gestört, aber nur weil ich nicht wusste, dass es anders sein kann.

Andrés vorsichtige Bitte erwärmt mein Herz und lässt die Schmetterlinge in meinem Bauch beinahe akrobatische Choreographien vollführen.

Nach einiger Zeit merke ich, dass er ganz unauffällig versucht, seine Hand an seiner Jeans abzuwischen, bevor er sie mir wieder reicht. Ich schmunzle. Mich stört es nicht, wenn er schwitzige Hände hat.

Wir sind auch bloß Menschen und unsere Hände schwitzen nun mal. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Aber ich tue so, als hätte ich es nicht bemerkt, damit er nicht unangenehm berührt ist.

»Oh, siehst du das Auto da vorne? Das mit WAT TE 87 auf dem Kennzeichen?«, sagt er plötzlich, löst unsere Hände und deutet auf einen weißen Wagen einige Meter vor uns auf der Autobahn.

Ich nicke. »Ja.«

»Würdest du ein Foto vom Kennzeichen machen? Meine Tante schickt meiner amerikanischen Cousine regelmäßig Fotos von deutschen Kennzeichen, die deutsche Wörter tragen. Irgendwie ist das so ein Ritual zwischen den beiden und sie hat mich mal gefragt, ob ich auch ein paar machen würde, dann hätte sie mehr Fotos von ortsfremden Kennzeichen. In ihrem Kreis sind die möglichen Kombinationen wohl schon erschöpft.«

Ich lächle, hole mein Handy aus meiner Hosentasche und mache, als André dicht genug für ein scharfes Foto herangefahren ist, ein Bild.

»Dankeschön.«

So verlaufen die restlichen Minuten Fahrt auf der Autobahn. Immer wenn ich ein Kennzeichen mit einem neuen Wort entdecke, sage ich ihm Bescheid und mache ein Foto, sobald er den Abstand verringert hat. Es fühlt sich fast ein bisschen kriminell an, fremde Kennzeichen zu fotografieren und jedes Mal hoffe ich, dass der Fahrer es nicht bemerkt.

Nach exakt 89 Minuten Fahrt hält André vor einem Häuschen mit Hof und großem Garten, der zu weiten Teilen von einer hohen, lange nicht geschnittenen Hecke aus Kirschlorbeer verborgen wird.

Mit kribbeligen Fingern löse ich den Gurt und öffne die Tür. Aus dem Garten dringen Stimmen zu uns herüber, zusammen mit leiser Musik und dem Geruch von angeheizter Grillkohle. Hin und wieder schnappe ich englische Wortfetzen auf.

Ich umrunde das Auto und folge André zu einem großen Tor, hinter dem der Hof liegt. Quietschend schiebt er es zur Seite. Im Hof streift er mit seinem Handrücken ganz vorsichtig an meinem entlang.

Womit habe ich diesen Jungen bloß verdient? Es ist unglaublich, wie viel Rücksicht er auf mich nimmt, indem er mich vor jedem Körperkontakt erst wortlos fragt.

Lächelnd verschränke ich meine Finger mit seinen, während wir den Hof durchqueren, und spüre wie ich ruhiger werde. An der Haustür angekommen betätigt André zweimal einen schlichten Türklopfer, obwohl sich rechts von ihm eine Klingel befindet.

Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters mit randloser Brille, Hemd und Koteletten vom Haaransatz bis zum Kinn öffnet uns die Tür.

So habe ich mir Andrés Onkel in keinster Weise vorgestellt. Er sieht seinem Bruder, Andrés Vater, kein bisschen ähnlich.

Stephan ist sportlich gebaut, man merkt, dass er auf seine Figur achtet. Unter dem Hemd von Andrés Onkel, der sich mir als Tom vorstellt, zeichnet sich jedoch deutlich ein kleiner Bierbauch ab. Dafür steht sein Haar noch in voller Pracht, während das von Andrés Vater nur noch als Kranz um seinen Kopf vorhanden ist.

»Bitte, kommt rein. Die drei Damen sitzen schon im Garten und unterhalten sich dort ein bisschen.«

Während Tom vorausgeht, beugt André sich zu mir und flüstert: »Siehst du, ich wusste, dass er meine Cousine einladen wird.«

Ich grinse und stoße ihn in die Seite. »Sei doch froh darüber, sonst müsstest du alleine etwas mit der Nichte deiner Tante machen. Wie alt ist sie eigentlich?«

Er zuckt mit den Schultern. »Etwa in unserem Alter.«

Andrés Onkel führt uns durch die Küche, von der Küche ins Wohnzimmer und von dort auf die Terrasse in den beeindruckenden Garten.

Rundherum steht die Kirschlorbeerhecke, die alle neugierigen Blicke zurückhält. Direkt hinter der Hecke wachsen auf der Seite, hinter der die Straße verläuft, wunderschöne bunte Blumen. Rechts steht ein großer Kastanienbaum, der mit seinem Blattwerk viel Schatten spendet. Darunter befinden sich zwei Hollywoodschaukeln, in denen links ein Mädchen und rechts Andrés Tante und ein weiteres Mädchen sitzen. Vor den Schaukeln steht ein großer Gartentisch mit drei Stühlen.

Als Andrés Tante uns bemerkt, steht sie auf und kommt zu uns herüber. Sie ist hübsch. Ihre dunklen Haare werden bereits von einzelnen grauen Strähnen durchzogen, aber irgendwie lässt sie das noch eleganter aussehen. Im Gegensatz zu ihrem Mann ist sie schlank mit Kurven an den richtigen Stellen und verfügt über ein ebenmäßiges Gesicht mit wunderschönen großen, dunklen Walnussaugen und langen Wimpern.

»Hey, schön, dass ihr da seid.« Ihr amerikanischer Akzent ist nicht zu überhören. Liebevoll schließt sie André in ihre Arme und dreht sich anschließend zu mir. »Schön, dich kennenzulernen. André hat mir erzählt, dass er noch ein besonderes Mädchen mitbringen wird.«

Ich lächle und spüre, wie meine Wangen sich rosig verfärben. Ein Blick aus den Augenwinkeln in seine Richtung verrät mir, dass es ihm ähnlich geht. Ich beschließe, ihn ein bisschen zu foppen. »Ja, Ihr Neffe hatte Angst, ganz allein unter Mädels zu sein. Ich habe ihm zwar gesagt, dass ich da die falsche Verbündete bin, aber er wollte mich unbedingt dabei haben.« In einer gespielt machtlosen Geste hebe ich die Hände.

Dafür ernte ich einen Stoß in die Seite, aber seine Tante lacht. »Anscheinend steckt in André genauso ein kleiner Charmeur wie in seinem Onkel.« Mit einem Funkeln in den Augen, wie ich es nur von frisch verliebten Paaren kenne, wirft sie einen Blick zu Tom, bevor sie sich wieder mit zuwendet. »Du kannst mich übrigens duzen. Ich bin Amanda. Ihr Deutschen immer mit eurer Siezerei, da komm ich mir vor, als würde man mit mir in der dritten Person reden.«

»Die Amerikaner handhaben das deutlich sinnvoller. Da haben Sie – Du recht. Ich bin Jess«, pflichte ich ihr bei und notiere mir im Kopf ihren Namen neben denen von Cassie, Stephan und Tom.

Währenddessen ist das Mädchen, das alleine auf der linken Schaukel gegessen hat, aufgestanden und hat sich neben Amanda gesellt.

Das muss Andrés leibliche Cousine sein, wie ich im nächsten Moment feststelle, denn sie spricht fließend Deutsch ohne Akzent. »Hey, ich bin Tammy.«

Pinke Ombrés zieren ihre blonden Haare, die sie zu einem Bauernzopf geflochten hat.

»Jess«, wiederhole ich, obwohl sie höchstwahrscheinlich mitbekommen hat, wie ich heiße.

»Und das Mädchen dahinten, das sich so gerne im Hintergrund hält, ist Giovanna. Meine Nichte aus Amerika. Sie ist das erste Mal hier in Deutschland, also seid nett zu ihr«, Amanda wirft mir und André einen gespielt strengen Blick zu, »sonst denkt sie noch, die deutschen Teenies sind genauso unmöglich wie die amerikanischen.«

Im Großen und Ganzen verläuft der Tag nicht sonderlich spektakulär. André Onkel grillt etwas Fleisch und Gemüse, während wir anderen gemeinsam den Tisch im Garten decken und uns unterhalten.

Dabei fällt mir auf, dass Andrés Cousinen nicht unterschiedlicher sein könnten. Während Tammy sehr extrovertiert ist und sich an jedem Thema rege beteiligt – manchmal auch etwas zu viel des Guten – ist es schwer, aus Giovanna einen vollständigen Satz herauszubekommen und nicht bloß einsilbige Antworten.

Sie spricht fast kein Deutsch bis auf ›Hallo‹ und ›Mein Name ist ... ‹, doch selbst, als ich versuche mich auf Englisch mit ihr zu unterhalten, wird sie nicht gesprächiger.

Vielleicht liegt es daran, dass sie hier in einem völlig fremden Land mit wildfremden Menschen an einem Tisch sitzt, aber sie wirkt nicht bloß schüchtern und zurückhaltend, sondern geradezu verängstigt.

Sie ist hübsch, trotz dass sie vielleicht zehn bis fünfzehn Kilo mehr auf den Rippen hat, aber sie scheint das anders zu sehen.

Während des Essens beobachte ich sie immer wieder dabei, wie sie sich möglichst aufrecht hinsetzt, ihren Bauch einzieht und einen Arm davor schiebt, um ihn zu verstecken.

Augenblicklich tut sie mir leid. Ich hoffe, dass sie an ihrer Schule nicht für ihr Gewicht gemobbt wird, denn so unsicher wie sie wird man nicht ohne Grund. Und ich hoffe, sie hat Freunde, die ihr beistehen.

Als es bereits dämmrig draußen wird, verabschieden André und ich uns vom Rest. Tammy und Giovanna werden bei Amanda und Tom schlafen.

Mit einem kleinen Seufzer lasse ich mich auf den Beifahrersitz plumpsen.

»Was ist?«, fragt André amüsiert, steckt den Schlüssel ins Zündloch und lässt den Motor an.

»Nichts. Ich bin nur ein bisschen fertig jetzt. War doch irgendwie anstrengender als gedacht.«

»Ich weiß. Vor allem, weil Tammy zu allem eine Meinung hat, die sie auch nie für sich behalten kann. Deshalb wollte ich dich dabeihaben.«

Ich lächle und schaue sein Profil an. »Und ich bin froh, mitgekommen zu sein.«

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