2 | Verräter
1.929 Worte
3 Monate zuvor
Nur wenige Menschen besitzen die Fähigkeit, dich glauben zu lassen, dass sie bedingungslos loyal zu dir halten würden, in Wirklichkeit aber Dinge hinter deinem Rücken abziehen, die an Gemeinheit von absolut nichts mehr übertroffen werden können.
Sie schaffen es, dir das über Monate, ja sogar Jahre hinweg vorzutäuschen – und du glaubst es. Warum auch nicht? Sie sind deine besten, deine engsten Freunde. Du vertraust ihnen alles an und hattest bisher nie Grund auch nur eine einzige, eine winzige Millisekunde an ihnen und ihrer Loyalität zu zweifeln.
Sie schaffen es, den Satz ›Lügen haben kurze Beine‹ gnadenlos zu widerlegen, er ist schlicht und ergreifend nicht wahr, denn wenn ihre Lügen monatelang nicht eingeholt werden, dann waren ihre Beine nicht kurz, sondern verdammt lang.
Aber selbst die besten Loyalitätsbetrüger werden irgendwann eingeholt, auch wenn sie glauben, dass sie besser sind als alle vor ihnen zusammen. Irgendwann bricht das Konstrukt aus Lügen und Ausflüchten über ihnen zusammen, als wäre ein gewaltiger Tsunami darüber hinweggerollt. Und dann bleibt ihnen gar nichts mehr, nicht ein Staubkrümel.
Mir war durchaus bewusst, dass es solche Menschen gab, möglicherweise auch in meinem Schulumfeld. Aber niemals, niemals! hätte ich gedacht, sie in meinem engsten Freundeskreis vorzufinden.
☆☆☆
»Lila, ganz klar dunkellila. Der passt hervorragend zu deinen dunklen Haaren. Außerdem zu deiner lila Strumpfhose und dem schwarzen Rock, der dir so schöne Kurven macht.«
Während ich mich kritisch vor dem Spiegel in meinem Zimmer hin und her drehe, durchstöbert Jasmina meine Schminkschublade nach dem passenden Make-Up für heute Abend. Gerade ist sie beim Lippenstift angekommen.
»Meinst du nicht, dass könnte dann etwas zu viel lila sein? Ich meine, mein Oberteil und meine Strumpfhose sind ja schon lila«, gebe ich zu bedenken, während ich vor dem Spiegel stehe, und fasse den Saum meines Rocks, um ihn ein bisschen zu schwenken. Sie hat recht. Der A-Linien-Schnitt schafft es, meiner geraden, dürren Strichfigur ein paar kleine Kurven an den Hüften zu geben.
»Keine Sorge. Wenn deine Lippen den Ton von deinem Outfit auffangen, wird das perfekt aussehen. Vertrau mir. Du weißt, ich habe auch die Freundin deines Bruders geschminkt, als die beiden ein Jahr zusammen waren und du hast selbst gesagt, dass das Ergebnis umwerfend war. Also komm her und lass dich überraschen.« Auffordernd klopft sie auf den Stuhl vor meinem Schmink- Schrägstrich Schreibtisch. Für beides wäre in meinem Zimmer einfach zu wenig Platz gewesen.
Lächelnd schüttle ich den Kopf, weil ich weiß, dass sie recht hat. Make-Up ist einfach ihr Fachgebiet. Aus diesem Grund erfreut sich ihr YouTube-Channel auch solch großer Beliebtheit.
Nach nur zehn Minuten hat sie mir ein beeindruckendes Make-Up ins Gesicht gezaubert und sagt, natürlich nicht ohne nochmal einen letzten prüfenden Blick darauf zu werfen: »Okay, ich bin fertig. Mach die Augen zu.« Ich tue, was sie mir sagt, und wie ein echter Make-Up-Artist fährt sie mich auf meinem Schreibtischstuhl zum Spiegel an meinem Kleiderschrank. »Augen auf.«
Das Ergebnis ist umwerfend. Sie hatte recht. Der lila Ton auf meinen Lippen ist keinesfalls zu viel. Den Rest meines Gesichts hingegen hat sie nur ganz dezent geschminkt. Lediglich etwas Rouge, Wimperntusche und ein feiner Lidstrich.
»Und gefällt es dir?« Neugierig betrachtet sie mich über meine linke Schulter ebenfalls im Spiegel und hofft darauf, dass ich nicke.
Als ich das schließlich tue, verziehen sich ihre vollen, rosa Lippen zu einem breiten Grinsen und das Grün ihrer Augen beginnt zu strahlen. »Okay, als letztes noch die Haare«, ruft sie begeistert, geht zu meinem Bett, wo ihre Tasche steht und kramt daraus allerlei Utensilien hervor.
Die meisten davon gehören uns beiden zusammen, aber da sie mehr Platz zu Hause hat und sie häufiger benutzt als ich, lagere ich die Sachen bei ihr.
Ich bewundere noch einen kurzen Moment, wie sie es geschafft hat, meine langen Wimpern durch das Make-Up noch etwas länger wirken zu lassen, und wie groß und wunderschön meine Augen auf einmal aussehen.
Normalerweise mag ich meine Augen nicht sonderlich. Sie sind für meinen Geschmack etwas zu klein und die Farbe lässt sich auch nicht wirklich definieren – irgendetwas zwischen Grün und Braun, was aussieht wie ein schmutziges Gelb. Lediglich auf meine Wimpern bin ich stolz. Aber jetzt, in diesem Moment gibt es nichts, was mich an meinen Augen oder generell an meinem Gesicht stören würde.
Glücklich stehe ich auf, schiebe den Stuhl wieder zurück an den Multifunktionsschreibtisch und falle meiner Freundin, die gerade dabei ist sämtliche Bürsten, Spangen, Bobby Pins und ein wenig Dekor auf dem Tisch zu deponieren, um den Hals. »Danke!«
Ihr übliches melodisches Lachen lachend schließt sie ebenfalls die Arme um mich und fragt: »Wofür denn?«
»Dafür, dass du mir hilfst, den Abend wirklich zu einem perfekten Abend zu machen.«
»Das mache ich gerne«, sagt sie sanft und schiebt mich auf Armeslänge von sich, um mir ein Lächeln zu schenken. »Jetzt aber hopphopp, wir haben nicht mehr viel Zeit und ich muss dir noch eine bezaubernde Frisur machen.« Bestimmend drückt sich mich auf den Stuhl, holt sich dann rasch selbst noch einen aus der Küche und beginnt meine Haare, die ich extra heute Morgen gewaschen habe, zu kämmen.
Nach gut einer Stunde und gefühlt einem Liter Haarspray, der jetzt in meinen Haaren verteilt ist, lässt sie sich zufrieden auf den Stuhl plumpsen und betrachtet ihr Werk. »Das dürfte für den Jahrestag wohl hübsch genug sein.«
Gespannt stehe ich auf und laufe zum Spiegel. Und wieder ist das Ergebnis atemberaubend. »Jas, du solltest auf jeden Fall irgendetwas in diese Richtung studieren. Andernfalls geht der Welt wirklich ein riesengroßes Talent verloren.«
Auf meinen Kopf hat sie ein kunstvolles Geflecht aus Zöpfen und losen Strähnen gesteckt, die vereinzelt in Locken mein Gesicht umschmeicheln.
»Ich weiß nicht«, erwidert sie wenig begeistert und greift nach ihrem Handy. »Es macht mir schon Spaß, aber eben als Hobby. Als Beruf mache ich lieber was anderes.«
Andächtig drehe ich mir vor dem Spiegel, um meine Frisur auch von hinten betrachten zu können, da winkt sie mich zu sich. »Komm, ich mache ein Foto. Dann kannst du dich von hinten sehen. Außerdem möchte ich das auf Instagram stellen.«
Einverstanden nicke ich und drehe mich mit dem Rücken zu ihr, damit sie erst ein Foto machen kann. Als ich sehe, dass meine Frisur auch aus dieser Perspektive atemberaubend aussieht, bin ich zufrieden, stelle mich vor die Motivtapete in meinem Zimmer und lasse Jas ein Foto für Instagram machen.
Danach werfe ich einen Blick auf mein eigenes Handy und sehe, dass ich eine Nachricht von Domenik habe. Lächelnd öffne ich sie, doch gleich nach den ersten zwei Worten erstirbt dieses Lächeln wieder.
Warum war mir klar, dass es so kommen wird?
»Was ist los?«, fragt Jasmina, die meinen Stimmungswechsel sofort bemerkt hat.
Sauer und enttäuscht halte ich ihr das Handy hin. »Nik.«
»Hey Schatz, tut mir leid, aber mein Dad sagt, ich muss ihm zur Strafe noch beim Renovieren der Gartenlaube helfen. Wird wohl anderthalb Stunden später werden. Wir können ja nächstes Jahr in das tolle Restaurant gehen. Wichtig ist doch nur, dass wir uns heute noch sehen«, liest sie laut vor, um gleich darauf wütend zu explodieren. »Was fällt ihm eigentlich ein? Ich rackere mich hier doch nicht zwei Stunden ab, um mit dir ein perfektes Outfit auszusuchen und dann noch ein bezauberndes Styling zu kreieren, damit er das Ganze dann abbläst. Nein, wir fahren da jetzt hin und dann wirst du ihm mal verklickern, dass er seinem Vater gefälligst klarzumachen hat, was für ein wichtiger Abend das heute ist, anstatt das einfach so hinzunehmen. Hausarrest hin oder her. Er soll mal ein bisschen Initiative für euren Abend zeigen.«
Eigentlich ist mir lieber danach zumute, mich in mein Bett zu kuscheln, ein riesiges, flauschiges Kissen an mich zu drücken und Dirty Dancing zu schauen.
In den letzten sechs Monaten hat Nik mich schon so oft versetzt, es sollte mich nicht mehr wundern. Dafür verletzt es mich umso mehr. Besonders weil das heute unser erster Jahrestag ist, den ich seit geschlagenen drei Monaten geplant habe, weil man den eben nur einmal hat. Außerdem hat er mich schon an unserem Halbjahrestag hängen lassen.
Seine kleine Schwester sei mit dem Fahrrad gestürzt und hätte sich, als sie sich mit den Armen auffangen wollte, sowohl Elle als auch Speiche des linken Arms gebrochen. Er müsse mit ihr ins Krankenhaus, weil seine Eltern übers Wochenende weggefahren wären.
Als ich zu ihm kommen wollte, meinte er nur, dass wir unseren Jahrestag nicht in der Notaufnahme, wartend zwischen vielen heulenden kleinen Kindern, verbringen sollten. Er käme später zu mir. Ist er nicht. Seine Schwester wollte angeblich nicht, dass er sie alleine lässt.
Zuerst hatte ich das Gefühl, er würde mich betrügen, als ich ihn jedoch gleich am nächsten Tag besuchte, rannte seine Schwester tatsächlich mit einem Gips am Arm herum und erzählte mir die Story von ihrem spektakulären Sturz. Ich kam mir so dumm vor.
Seit dem habe ich seine Loyalität nie wieder in Frage gestellt. Und böse konnte ich ihm wegen unseres verpatzten Halbjahrestag auch nicht mehr sein. Schließlich konnte er absolut nichts dafür.
Bei unserem Jahrestag sieht das Ganze aber komplett anders aus. Gegen Hausarrest kann man sich zur Wehr setzen. Besonders er. Ich weiß, dass sein Dad da definitiv eine Ausnahme machen würde. Also warum sagt er nichts?
Wenn ich es mir recht überlege, ist mir doch mehr danach zumute, zu ihm zu fahren und ihn anzufauchen.
»Also was ist? Gehen wir?«, reißt Jas mich aus meinen Gedanken und ich nicke entschieden.
»Auf jeden Fall. Ich lasse mir nicht auch noch unseren Jahrestags vergeigen.« Entschieden schnappe ich mir meine Jacke vom Bett und marschiere zusammen mit meiner Freundin zur Haustür. Vorher rufe ich Mum noch zu, dass wir jetzt weg sind und ihr Auto nehmen.
Dad wird heute Abend zum Glück nicht nach Hause kommen. Er ist auf Geschäftsreise. Ein entscheidender Grund, warum Jas überhaupt hier ist. Sie weiß zwar, wie mein Dad sein kann, zumindest in seinen sanftesten Ausbrüchen, aber nur durch meine Erzählungen. Erlebt hat sie es noch nie und ich werde auch alles daransetzen, dass sie das niemals wird.
Zornig steige ich ins Auto ein, lasse es aus der Einfahrt rollen und rausche mit durchgedrücktem Gaspedal Richtung Domenik. Die Erinnerung daran, wie oft er mich in den letzten Monaten hängen gelassen hat, macht mich unfassbar wütend.
In meinen Gedanken höre ich die Reifen quietschen, als ich vor seinem Haus zum Stehen komme. Meine Freundin hält mir ihre flache Hand zum High-Five hin. »Ich hab dich noch nie so abgehen sehen. Endlich lässt du dir nicht mehr alles von ihm gefallen.«
Diese zujubelnde Geste angesichts dieser absolut nicht zum Feiern einladenden Situation bringt mich einen kurzen Moment tatsächlich zum Schmunzeln, weshalb ich einschlage.
»Yeah!«, ruft sie daraufhin.
Wild entschlossen steige ich aus dem Wagen und schlage die Autotür mit voller Wucht wieder zu. So fest, dass es mir um das Auto fast etwas leid tut.
Mit der gleichen Entschlossenheit steuere ich gerade auf die Eingangstür zu, als Jas mich zurückhält. »Lass gleich außenrum durch den Garten zur Laube gehen. Wenn die mit Renovieren beschäftigt sind, hören sie die Klingel sicher nicht.«
Da mir ihr Vorschlag sehr gut gefällt, ist mir die Tatsache, dass seine Mutter zu Hause ist, egal. Also stürme ich energisch auf das Gartentor zu, sodass die Locken, die Jasmina mir gedreht hat, auf und ab wippen.
Mein Auftreten ist definitiv leinwandwürdig.
Ich bin so sehr auf das fokussiert, was ich Domenik gleich sagen möchte, dass mir völlig entgeht, dass überhaupt kein Renovierungslärm im Garten zu hören ist. Deshalb öffne ich ohne Vorwarnung die Tür zur Gartenlaube.
Doch was ich dann sehe, verschlägt mir den Atem und die Entschlossenheit weicht einem alles einnehmenden Taubheitsgefühl.
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