18 | Sein ganz eigener Platz
2.161 Worte
Mit einer fließenden Bewegung dreht er sich wieder zum Terrarium und zieht danach seine Hand mit einem monströs großen, braunen Ungeheuer darauf wieder heraus.
Augenblicklich trete ich ein paar Schritte zurück. »Oh Gott, André, das Vieh hältst du in deinem Zimmer?!«
»Die Viecher«, korrigiert er nüchtern.
»Du hast mehrere davon?«
»Natürlich. Und im Sommer bekomme ich sogar Babys.«
»Babys?!« Fassungslos schüttle ich den Kopf. »Du bist echt verrückt.«
»Es sieht schlimmer aus, als es ist. Komm her, ich zeig's dir«, fordert er mich auf und streckt die freie Hand nach mir aus.
»Keine Chance, ich nehme das Ding nicht auf die Hand.«
»Das sollst du doch auch gar nicht. Ich will dir nur zeigen, dass es harmlos ist.«
Skeptisch trete ich näher.
»Schau, es kann nicht springen.« Er zeigt mir das letzte der drei Beinpaare, das wirklich nicht aussieht, als könnte es damit springen, wie es bei Heuschrecken der Fall ist. Dafür ist es über und über mit Dornen besät.
»Außerdem kann es nicht beißen.« André dreht seine Hand, sodass ich direkt auf den Kopf des Tieres schaue. Große gelbe Augen mit einem schwarzen Punkt in der Mitte, der aussieht wie eine Pupille, glubschen mich an und zwei Fühler bewegen sich tastend auf Andrés Handfläche auf und ab.
»Das Mundwerkzeug sieht zwar aus, als könnten die Tiere damit feste zubeißen, aber tatsächlich fällt es ihnen schon schwer, kleine Zweige damit anzuknabbern, also keine Sorge. Das Einzige, wovor man aufpassen muss, sind die bewehrten Hinterbeine. Bei Gefahr stellen sie die auf und schlagen dann blitzschnell damit zu. Gerät deine Hand dazwischen, tut das ordentlich weh und blutet.«
Und damit ist meine Faszination wieder erloschen. »Von wegen harmlos.«
André lacht und setzt das Tier zurück in sein Zuhause. »Warte, ich zeige dir andere. Die magst du bestimmt.«
Überrascht drehe ich mich in seinem Zimmer um und entdecke neben dem Bett, das von der Tür aus noch zu großen Teilen vom Kleiderschrank verborgen war, eine Kommode, auf der ein weiteres, allerdings viel kleineres Glasbecken steht.
»Da drin halte ich Wandelnde Blätter. Die sind wirklich harmlos. Ungefähr so gefährlich wie ein Marienkäfer.« In der sicheren Gewissheit, dass ich diese Tiere mögen werde, geht er an mir vorbei und öffnet das Terrarium. Sanft pflückt er ein Blatt vom Ast. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen, dass das Insekt selbst das Blatt ist und nicht darauf sitzt.
Augenblicklich bin ich Feuer und Flamme. Das Tier sieht wirklich harmlos aus und noch dazu hätte ich niemals erkannt, dass es kein Blatt ist. Vollkommen fasziniert von der Art sich zu tarnen, stelle ich mich neben André und strecke die Hand aus.
Vorsichtig greift er mit seiner freien Hand danach, was die Schmetterlinge in meinem Bauch sofort wieder zum Fliegen bringt. Die Stellen, an denen seine Finger meine Haut berühren, prickeln wie Kaktuseis auf der Zunge und mein Herz schlägt wieder im Stakkato-Takt.
Langsam führt André seine zweite Hand mit dem Insekt darauf an meine Handfläche heran und ich merke, dass er sich nicht allein wegen des Tieres so viel Zeit lässt.
Es ist mir egal. Er kann meine Hand so lange halten, wie er möchte, denn das Gefühl ist einfach wunderschön.
Und das tut er auch, selbst als das Tier schon längst bei mir und nicht mehr bei ihm sitzt. Seine kleinen Füße sind kaum spürbar, aber ich kann nicht sagen, ob das an der Ablenkung durch André liegt oder weil es so klein und zart ist.
Sanft wippt es auf meiner Hand hin und her, als würde es wie ein Blatt im Wind schaukeln, während es einen Fuß vor den anderen setzt. André verstärkt den Effekt, indem er es leicht anpustet.
Die Ablenkung nutzend senkt er langsam seinen Daumen auf meine Fingergelenke und streicht behutsam darüber, während das lebendige Blatt von meiner Hand auf mein Handgelenk krabbelt.
Ich halte den Atem an und höre nur noch das Blut in meinen Ohren rauschen, nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, außer den, dass er nicht damit aufhören soll.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dasitzen – meine Hand in seiner, während er mich mit seinem Daumen liebkost, aber als er sich schließlich bewegt und das Tier wieder an sich nimmt, sitzt es schon fast auf meiner Schulter.
Ich habe die ganze Zeit nichts anderes getan, als auf seinen Daumen zu schauen. Die Welt ist einfach in den Hintergrund gerückt. Ein Erdbeben hätte das Haus erschüttern können und ich hätte es nicht bemerkt.
Keiner von uns, weiß, was er jetzt sagen soll. Wir sind beide vollkommen überwältigt von dem, was da gerade zwischen uns passiert ist.
Als ich schließlich die Stille breche, habe ich das Gefühl, ich würde schreien, weshalb ich meine Stimme nach den ersten zwei Worten senke. »Und hast du noch andere Hobbys?«
Er nickt. »Ich spiele gerne Gitarre, nur singen kann ich dazu nicht.«
»Also nur ein halber Ed Sheeran«, schmunzle ich.
»Ein was?«
»Als ich dich in der Bibliothek zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gedacht, du siehst aus wie die Miniversion von Ed Sheeran und jetzt spielst du auch noch Gitarre ... «, erkläre ich und hebe entschuldigend die Hände, weil er mich anschaut, als würde er sich jeden Moment auf mich stürzen, um mich zu kitzeln. Dabei habe ich ihm ein Kompliment gemacht.
Tatsächlich bleibt er aber stehen, greift nach seiner Gitarre, die neben dem Schlafsofa steht, ohne dass ich sie bisher bemerkt habe, und setzt sich auf die Bettkante. »Mal schauen, ob du mein Talent für würdig erachtest.«
Ich lache. »Musst du etwa dein Ego rechtfertigen?«
Kommentarlos fängt er an zu spielen und ich merke, dass er das gar nicht nötig hat. Er spielt gut, sogar sehr gut.
Die Gitarre liegt locker auf seinem rechten Bein auf, seine Finger wandern fließend mal streichend, mal zupfend über die Saiten und entlocken dem Instrument wunderschöne Töne. Ich brauche nicht lange, um zu erkennen, dass er Wonderwall von Oasis spielt, danach schließt er Numb von Linkin Park an.
Während der gesamten Zeit bleibe ich an die Kommode gelehnt stehen und lausche seinem Spiel. Dass ich beeindruckt bin, ist wohl noch untertrieben.
»Wow. Wie lange spielst du schon?«
»Seit ich ungefähr sechs bin.«
Ich rechne im Kopf schnell nach, wie viele Jahre das bis heute sind. »Zwölf Jahre«, sage ich anerkennend.
Verlegen stellt er die Gitarre zurück an ihren Platz und kann ein leichtes Schmunzeln nicht verbergen.
»Was ist?«
»Ganz ehrlich? Ich hätte nie damit gerechnet, dass du mich mal spielen hören wirst, weil ich nicht wusste, ob du mich jemals an dich heranlassen würdest.«
Die Worte sind hart, aber ich weiß, dass sie nicht verletzend gemeint sind. Er ist nur ehrlich.
Langsam gehe ich zu ihm, setze mich neben ihm auf die Bettkante, vergrabe meine Hände unter den Oberschenkeln und betrachte meine Füße. »Ich glaube, wärst du nicht gewesen, hätte ich gar nicht gemerkt, wie sehr ich mich abgekapselt habe. Aber ... «, ich mache eine Pause, »ich versuche mich zu bessern. Ich habe mich heute mit Jasmina versöhnt.«
»Wow, und wie war's?«, fragt er aufrichtig interessiert.
Ich lache bitter. »Ich bin 'ne beschissene Freundin.« Während ich die Zehen im Teppich vor seinem Bett vergrabe, streicht André kurz zögerlich an der Innenseite meines Handgelenks entlang, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus.
»Das bist du nicht.« Als ich meine Augen auf ihn richte, lässt der sanfte Ausdruck in seinem Gesicht mein Herz stolpern.
»Ich weiß nicht, wie viel du mitbekommen hast, aber Jasmina hat Domenik geholfen, seine Affäre zu vertuschen. Ich wusste bis heute nicht, warum sie mir so grausam in den Rücken gefallen ist, weil ich ihr nicht zuhören wollte. Sie hat mich verraten. Das Warum war mir egal.«
»Und was hat sich geändert?«
»So vieles. Dein Beispiel hat mich zum Nachdenken gebracht. Obwohl ich so abweisend war, hast du nicht aufgegeben und riskiert, wieder und wieder verletzt und zurückgewiesen zu werden.
Weißt du, ich habe an diesem Abend vor drei Monaten meine zwei besten Freunde verloren und stand plötzlich ganz ohne enge Vertraute da. Ich habe Domenik so viel von mir gegeben und am Ende nichts als Scherben zurückerhalten. Der Verlust hat so wehgetan, dass ich so etwas nie wieder durchmachen wollte. Deshalb habe ich keinen mehr an mich herangelassen, denn wenn ich niemand Neuen in mein Leben lasse, kann auch keine neue Leere entstehen, falls derjenige wieder verschwindet.«
»Es kann aber auch niemand die entstandene Leere füllen«, bemerkt er sanft, doch ich schüttle den Kopf.
»Das kann sowieso niemand. Die Wunde muss einfach zuwachsen. Du bist kein Trostpflaster oder Lückenfüller. Du bekommst einen ganz eigenen neuen Platz.« Zögerlich lege ich meine Hand auf Andrés.
Von plötzlicher Zuneigung ergriffen verschränkt er unsere Finger miteinander und drückt sie, ehe er wieder loslässt.
»Du hast, ohne es zu wissen, eine Tür geöffnet. Zu sehen, was für einen Erfolg du hattest, hat mich dazu bewogen, Jas eine zweite Chance zu geben. Naja, und dabei herauszufinden, dass die Wahrheit ganz anders aussieht, als ich angenommen habe.«
»Das heißt?«
»Sie hat mich beschützt. Domenik wusste etwas über mich, von dem ich nicht dachte, dass er es weiß, und er drohte damit, es der ganzen Schule zu erzählen, sollte Jas nicht dichthalten. Sie stand vor einer unmöglichen Wahl und ich könnte nicht dankbarer dafür sein, welche Entscheidung sie getroffen hat.
»Unser Verhältnis ist noch nicht so wie früher, aber wir bekommen das wieder hin.«
»Das denke ich auch. Du bist ein toller Mensch, Jess.« Ein warmer Schauer erfasst meinen Körper bei diesen Worten. Bewundernd und dankbar zugleich nehme ich zur Kenntnis, dass er nicht nach dem fragt, was Nik über mich weiß. Er respektiert einfach, dass ich noch nicht bereit bin, darüber zu sprechen.
☆☆☆
Den Rest des Tages vertreiben André und ich uns die Zeit mit ein paar Spielen. Runde um Runde schlage ich ihn bei Uno und Mikado, dafür macht er mich gnadenlos bei Mensch ärgere dich nicht platt.
Seine Familie spielt das Spiel mit ein paar Regeln, die neu für mich sind. Man hat nicht nur die Möglichkeit, Männlein vor sich rauszuwerfen, sondern auch hinter sich, wenn die entsprechende Anzahl an Schritten stimmt. Das vergesse ich und verpasse oft Chancen, Andrés Männlein zurück ins Haus zu verbannen.
Die Zeit fliegt nur so dahin, während ich jede Sekunde mit ihm genieße.
Am Abend höre ich die Haustür unten einmal aufgehen und wieder zuschlagen, kurz darauf streckt Andrés Mutter den Kopf zur Tür herein. »Habt ihr Hunger? Dein Vater ist gerade heimgekommen, wir würden jetzt Abendbrot essen.«
Hungrig erhebe ich mich von dem flauschigen, grauen Teppich, der vor Andrés Bett auf dem Laminatfußboden liegt und folge Cassie nach unten in die Küche, wo bereits ein Mann mit Halbglatze und deutlich trainiertem Oberkörper am gedeckten Tisch sitzt.
Seine Lippen sind dieselben, die André auch besitzt, aber er hat eine viel knolligere Nase und auch eine ganz andere Augenfarbe. Das Grün passt zu seinen braunen Haaren, die mittlerweile schon von grauen Strähnen durchzogen werden.
»Hey, ich bin Stephan«, stellt er sich vor und erhebt sich von seinem Platz, um mir die Hand zu reichen.
»Jess«, erwidere ich wie heute Nachmittag bei Cassie.
Diesmal sitzen André und ich auf der Eckbank, weil sein Vater sich auf einem der Stühle an der Längsseite des Tisches niederlässt. André rutscht durch und ich setze mich neben ihn.
Leider geht das Abendessen viel zu schnell vorbei. Ehe ich mich versehe, sind wir dabei, den Tisch abzuräumen und das schmutzige Geschirr in der Spülmaschine zu verstauen.
Es ist bereits halb neun, langsam sollte ich nach Hause gehen.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragt André, als wir an der Tür stehen und ich meine Schuhe anziehe. Bevor ich jedoch irgendwas sagen kann, antwortet seine Mutter aus der Küche für mich.
»Da fragst du noch? André, es ist bereits dunkel, natürlich bringst du sie heim.«
Ich unterdrücke ein Lächeln und registriere, dass er leicht rot anläuft. Ich glaube, ich weiß, warum André so romantisch veranlagt ist. »Gerne.«
Ein freudiges Lächeln huscht über seine Gesichtszüge und er kniet sich hin, um ebenfalls seine Schuhe anzuziehen.
Viel zu schnell stehen wir vor dem Mehrfamilienhaus meines Bruders. Während ich noch überlege, wie ich mich diesmal von ihm verabschieden soll, macht André einen Schritt auf mich zu, greift nach meinen Händen und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
Schlagartig scheint jegliches Organ in meinem Körper vergessen zu haben, wie es funktioniert. Mein Herz setzt aus, meine Lungen verweigern den Dienst und meine Eingeweide drehen sich einmal um sich selbst.
»Schlaf gut, Jess. Du sahst heute übrigens wunderhübsch aus.« Danach dreht er sich um und geht, ohne eine Reaktion von mir abzuwarten. Ich wäre ohnehin zu keiner imstande.
Wie schafft er es, mit solch kleinen Berührungen ein dermaßen großes Gefühlschaos in mir zu entfachen?
Bewegungsunfähig stehe ich noch ein paar Sekunden vor der Tür und schaue André hinterher, bis meine Organe wieder ihren Dienst aufgenommen haben und ich mich umdrehen kann, um zu klingeln.
Die Stelle, wo André mir den Kuss auf die Stirn gegeben hat, kribbelt angenehm.
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Zur visuellen Vorstellung:
Eine Dornschrecke und ja, das ist meine Hand. Ich halte diese Tiere bei mir zu Hause.
Meine Hand mit 7 Babys.
Ich hatte auch mal wandelnde Blätter, aber von denen finde ich gerade auf die Schnelle kein Bild. Deswegen hier eins aus dem Internet.
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