17 | Daheim

2.007 Worte

Ich will gerade meinen Mund öffnen, um ihr alles über André zu erzählen, was sie in den letzten Wochen verpasst hat, als die Klingel das Pausenende verkündet. »Ich erzähle es dir später. Nur so viel: Ich gehe heute das erste Mal zu ihm nach Hause.«

Ein glückseliges Seufzen entfährt ihr, während wir uns beide von der Bank erheben. »Ich freue mich unglaublich für dich, Jess. Du hast jemanden verdient, der dich auf Händen trägt.«

»Danke.«

Gemeinsam gehen wir zum Tor, das quietscht, als ich es öffne.

»Oh Mann, was stellen die bloß mit diesem armen Garten an? Ich hab das Gefühl, sie foltern ihn, statt ihn zu pflegen.«

Jas muss lachen. »Da könntest du recht haben. Vielleicht sollten wir uns nachts heimlich herschleichen und uns um ihn kümmern.«

»Ja, wie damals, als du mir in der Nacht vor Muttertag geholfen hast, die Rose in Mums Beet zu pflanzen.«

Sie seufzt in Erinnerung daran. »Das war definitiv mein bisher schönstes Abenteuer.«

»Meins auch.«

Im Foyer angekommen trennen sich unsere Wege. Während Jas eine Freistunde hat, darf ich nun meinem Politiklehrer lauschen. Kurz wirkt es, als würde sie mich zum Abschied umarmen wollen, wie wir es früher immer gemacht haben, doch dann überlegt sie es sich anders.

Wir haben noch einen langen Weg vor uns.

»Sehen wir uns in der Pause nach der sechsten Stunde?«, fragt sie hoffnungsvoll. »Wenn du willst, könnte ich dir dann auch eine schöne Flechtfrisur für dein Date mit André machen.«

Ich lächle. Manche Dinge ändern sich nie. Sie weiß genau, wann ich ihre Hilfe brauche.

»Gerne.«

Fast augenblicklich breitet sich ein strahlendes Lächeln auf Jasminas Gesicht aus. »Okay, dann google ich jetzt mal ein paar Flechtfrisuren, bis nachher.«

»Bis nachher.« Beschwingt, weil mein Leben endlich wieder eine positive Wendung zu nehmen scheint, gehe ich zum Kursraum.

☆☆☆

In der nächsten Pause wartet Jasmina tatsächlich schon an einem der Tische im Foyer und hält Ausschau nach mir.

Ich begreife immer noch nicht recht, dass wir uns vertragen haben und wieder Teil im Leben des anderen sein werden. Jahrelang war das das Normalste auf der Welt für mich und jetzt muss ich mich wieder ganz neu an dieses Gefühl gewöhnen.

Nach einer etwas ungelenken Begrüßung nimmt Jas ihre Tasche von der Bank und geht mit mir zu den Mädchentoiletten. Sie postiert mich vor einem der Spiegel und holt die Haare, die mir vorne über die Schultern fallen, nach hinten, ehe sie in ihre Tasche langt und eine Bürste hervorholt. Sanft fängt sie an, mir die Haare zu kämmen und für kurze Zeit fühlt es sich an wie früher. Genießerisch schließe ich die Augen.

»Ich hatte daran gedacht, dir einen Zopf mit fünf Strähnen von rechts nach links zu flechten und zum Abschluss über deine Schultern fallen zu lassen«, erklärt sie mir ihre Idee, während sie weiter mit der Bürste durch meine Haare fährt.

»Könntest du vielleicht einen Teil meiner Haare offen lassen?«

»Klar, kein Problem. Okay, was hältst du davon, wenn ich links und rechts jeweils einen Zopf von vorne nach hinten flechte und die beiden wie einen Kranz am Hinterkopf zusammenlaufen lasse? Dabei würde ich immer eine neue Strähne aufnehmen und eine nach unten auslaufen lassen. Dann fallen die Haare wie ein Wasserfall um deinen Kopf.«

»Das hört sich gut an«, lächle ich und sie beginnt damit, mir einen geraden, sauberen Scheitel zu ziehen.

☆☆☆

Mein Körper kribbelt bis in die Fingerspitzen, als ich nach dem Unterricht zum Schulausgang gehe. Einerseits können mich meine Füße nicht schnell genug tragen, andererseits werde ich mit jedem Schritt nervöser und langsamer und stehe kurz davor, umzudrehen.

Tief durchatmen, Jess. Es sind nur seine Eltern. Als du Niks Eltern kennengelernt hast, mochten sie dich auch.

Entschlossen schultere ich meine Tasche neu und setze einen Fuß vor den anderen, bis ich mit dem Schülerstrom vor das Schulgebäude gespült werde.

Angespannt tippt André mit einer Fußspitze auf den Boden, während er genau an der Stelle auf mich wartet, an der er gestern bereits stand. Sein Blick ist auf seine Schuhe gerichtet.

Schnell scanne ich die Umgebung ab, aber es ist niemand zu sehen, der ihm oder mir diesmal einen Strich durch die Rechnung machen könnte.

Als hätte er gespürt, dass ich auf ihn zulaufe, hebt er den Kopf und schaut in meine Richtung.

»Hi«, begrüße ich ihn, bleibe stehen und hake den Daumen meiner rechten Hand unter den Riemen der Tasche.

»Hey.«

»Ich habe dir gesagt, diesmal kommt nichts dazwischen«, necke ich ihn mit einem Augenzwinkern, um meine Nervosität zu überspielen und mich lockerer zu machen.

»Noch sind wir nicht bei mir daheim. Wer weiß, vielleicht stolperst du gleich ungünstig und brichst dir ein Bein«, feixt er zurück.

»Das wird schon nicht passieren.« Fast hätte ich hinterhergeschoben ›Und wenn, liegt es doch an dir, mich aufzufangen‹, beiße mir aber noch rechtzeitig auf die Zunge.

»Ich hoffe doch.« Schmunzelnd setzen wir uns in Bewegung und doch begreife ich erst so richtig, was ich da vorhabe, als wir an der Kreuzung, an der wir uns das letzte Mal getrennt haben, vorbeilaufen. Von langsam kann nun nicht mehr die Rede sein. Ich gehe wirklich zu ihm nach Hause.

»Du brauchst im Übrigen wegen meiner Eltern nicht nervös zu sein«, sagt André unvermittelt und lächelt mich von der Seite an. »Mein Vater ist sowieso noch arbeiten und kommt erst heute Abend heim und meine Mutter ... naja, wir sind uns charakterlich ziemlich ähnlich. Zumindest sagen das viele. Sie wird dich also mögen.«

Etwas in meinem Bauch beginnt zu flattern, als ich registriere, was er damit zwischen den Zeilen sagt. André mag mich.

Keine zehn Minuten später stehen wir vor seiner Haustür, während er in seinem Rucksack nach dem Schlüssel sucht.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich bin sicher, dass es seinen Platz zwischen meinen Lungenflügeln verlassen hat und ein paar Etagen nach oben geklettert ist. Es ist unmöglich, dass das nur mein Puls ist, der so wild in meinem Hals pocht.

Und dann rutscht mein Herz unvorbereitet ein paar Stockwerke tiefer und versagt für einen kurzen Moment seinen Dienst. Nämlich genau in dem Moment, in dem André die Tür aufschließt und mit seiner linken Hand unauffällig nach meiner greift, sie zärtlich drückt und mir ein »Ganz ruhig« zuflüstert. Danach setzt es mit ungeahnter Heftigkeit wieder ein, obwohl die Berührung so flüchtig war, dass ich mich fast frage, ob ich sie mir eingebildet habe.

Komplett aus dem Konzept gebracht, stolpere ich ihm in den Hausflur hinterher. Ich bin vollkommen überrascht, wie heftig mein Körper auf seine Berührung reagiert.

Die Eindrücke des Hauses in mich aufzusaugend überlege ich, wo ich Jacke und Schuhe verstaue, als zu meiner Rechten eine Tür aufgeht und eine Frau mit feuerroten Haaren und unzähligen Sommersprossen im Gesicht und auf den Armen den Flur betritt. Ohne jeden Zweifel Andrés Mutter. Sie sieht aus wie eine bildhübsche weibliche Version von Ed Sheeran und André ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.

Sie teilen die gleichen grau-blau gesprenkelten Augen und die feine, gerade Nase. Nur die Lippen scheint André nicht von ihr zu haben. Seine sind zwei schmale, gerade Linien, ihre sind voll und wunderschön geschwungen.

»Hey, ich bin Cassie.« Lächelnd reicht sie mir die Hand und in ihren Augen liegt die gleiche Wärme, wie André sie immer mit seinem Schmunzeln ausstrahlt.

»Jess«, erwidere ich die Begrüßung.

»Hast du Hunger? Ich bin gerade dabei, das Mittagessen zu kochen. In drei Minuten sollte ich fertig sein. Ihr könnt ja schon mal den Tisch decken.« Eilfertig verschwindet sie wieder in der Küche, während André, der schon seine Schuhe ausgezogen hat, an mir vorbeigeht und ihr folgt.

Ich streife mir auch flott meine Ballerinas von den Füßen, stelle sie ordentlich neben seine und gehe ihm hinterher.

Die Küche ist ein schöner, lichtdurchfluteter Raum mit einer Terrassentür zum Garten. Linker Hand steht ein Esstisch aus hellem Holz mit einer Eckbank und drei Stühlen. Darauf liegt ein kleines Gesteck aus Efeu und Gerberas. Auf der anderen Seite befindet sich eine gemütliche Kochecke, in der es sich prima zu zweit kochen lässt. Cassie wuselt dort herum und rührt Essen in einer Pfanne, damit es nicht anbrennt. Es duftet herrlich nach Curry.

André reicht mir ein paar Teller aus einem der Schränke und ich verteile sie auf die drei Plätze mit Stühlen. Er legt Messer und Gabel daneben.

Nur ein paar Minuten später schmeißt seine Mutter einen Topfuntersetzer in die Mitte neben das Gesteck und stellt eine dampfende Pfanne mit angebratenem Hähnchencurry, Zucchini und Reis darauf.

»Ich hoffe, du bist kein Vegetarier. Daran habe ich jetzt irgendwie nicht gedacht«, bemerkt sie plötzlich und legt nachdenklich eine Hand an den Mund.

»Nein, keine Sorge. Ich esse gerne Fleisch«, beruhige ich sie.

»Gut, dann lasst uns essen, bevor es kalt wird.« Sie setzt sich auf den Stuhl vor Kopf und überlässt André und mir die Stühle an der Längsseite – wahrscheinlich damit wir nebeneinander sitzen können.

Das Essen schmeckt köstlich. Ich bin gerade dabei die letzten Bissen von meinem Teller zu verspeisen, als ich plötzlich Andrés Knie an meinem spüre.

Sofort steht mein gesamter Körper wieder unter Strom und spannt sich innerlich an. Mein Puls schießt in die Höhe und das Essen fällt von der Gabel, die schon vor meinem Mund schwebte, wieder auf den Teller zurück.

Langsam drehe ich den Kopf und schaue in sein verschmitzt grinsendes Gesicht. Provokant. Er weiß genau, was er mit der Berührung in mir auslöst – und er genießt es.

Gut, denke ich, das kannst du haben.

Frech stoße ich sein Knie weg und esse seelenruhig weiter, ein kesses Schmunzeln auf den Lippen. Verdutzt hält er in seiner Bewegung inne. Damit hat er nicht gerechnet. Doch ich tue so, als hätte ich nichts bemerkt und wende mich stattdessen an seine Mutter. »Das Essen war echt lecker. Vielen Dank.«

»Ach, nichts zu danken. Ich bin froh, wenn es schmeckt.«

André wagt keinen weiteren Versuch.

Wir helfen noch beim Abräumen, dann gehen wir hoch in sein Zimmer. Voll freudiger Erwartung wie das wohl aussehen mag, folge ich ihm die Treppe nach oben.

Kurz vor seiner Tür bleibt er jedoch stehen und dreht sich zu mir um. »Ähm, bevor wir da gleich reingehen, solltest du besser wissen, dass ich ein ziemlich spezielles Hobby habe«, sagt er gedehnt und greift sich mit einer Hand in den Nacken, »oder eher gesagt ein Faible für gewisse Tiere ... «

»Sag nicht, du hältst Vogelspinnen in deinem Zimmer.«

»Nein, sowas nicht. Ich habe ... Insekten.«

»Insekten?«

»Ja, Phasmiden. Ich zeig's dir am besten einfach.« Mit den Worten dreht er sich um und öffnet die Tür zu seinem Zimmer.

Ein großes, aufgeräumtes Zimmer mit Dachschräge in freundlichen Grün- und Grautönen eröffnet sich mir. Ein Dachflächenfenster taucht den Raum in warmes Licht, darunter steht ein Schreibtisch. Direkt links neben der Tür ragt ein geräumiger Kleiderschrank ins Zimmer, der als Raumtrenner dient und ein gemütliches Schlafsofa vor neugierigen Blicken schützt. Geradeaus blicke ich auf ein riesiges Terrarium, in dem sich wahrscheinlich die besagten Insekten befinden.

André steuert direkt darauf zu. »Ich weiß nicht, ob du die Tiere schon mal im Kölner Zoo gesehen hast. Die sind da im Tropenhaus untergebracht. Die meisten kennen sie unter dem Namen Stabheuschrecken.«

In meiner Erinnerung blitzt ein Bild auf. »Ah, sind das die, die aussehen wie Äste?« Plötzlich sehr viel interessierter trete ich hinter ihm ans Terrarium, während er den Deckel öffnet und mit den Händen zwischen die Buchenzweige taucht, um eines der Tiere zu finden.

»Genau, nur bitte tu mir einen Gefallen und nenn sie nie wieder Stabheuschrecken. Nie wieder! Es sind Stabschrecken, sie können nicht springen, aber irgendwie begreift das kaum ein Mensch«, sagt er mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass ich lachen muss.

»Ist hinter die Ohren geschrieben, Sir.« In einer übertriebenen Geste salutiere ich hinter ihm.

»Hey, veralberst du mich etwa?« Empört dreht er sich zu mir um.

»Quaaatsch, das würde ich niemals tun.«

»Okay, dann will ich dir jetzt mal zeigen, was für Tiere ich halte. Es sind nämlich keine Stabschrecken, sondern etwas Verwandtes. Einen deutschen Namen haben sie nicht so wirklich, aber ich nenne sie der Einfachheit halber Dornschrecken. Du wirst sehen, warum.«

Mir schwant Schlimmes.

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