16 | Hinter dem Vorhang
3.627 Worte
Der großen Versuchung nahe, etwas von Chiaras Schminke zu benutzen, stehe ich in Renés Bad vor dem Spiegel.
Da ich heute nach der Schule zu André gehe, möchte ich hübsch aussehen. Leider habe ich von zu Hause absolut gar kein Make-Up mitgenommen und kaum etwas Taugliches zum Anziehen für mein erstes Treffen mit Andrés Eltern, weshalb ich ein wenig aufgeschmissen bin.
Frustriert puste ich mir eine Strähne aus dem Gesicht und schaue mich im Spiegel an. Als ich das erste Mal zu Nik nach Hause gegangen bin, hat Jas meine Haare und mein Make-Up gemacht. Die Erinnerung versetzt mir einen Stich, doch ich schüttle den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
Ganz vorsichtig nehme ich Chiaras Wimperntusche aus dem Regal, darauf bedacht, bloß nichts anderes zu berühren oder gar umzuwerfen, damit René nichts bemerkt. Dann beginne ich, mir die Wimpern zu tuschen. Sofort wirken meine Augen größer und ausdrucksstärker.
Mehr werde ich schminktechnisch wohl auch nicht machen. Als ich das letzte Mal versucht habe, mir einen Lidstrich zu ziehen, sah das katastrophal aus, deshalb probiere ich es jetzt erst gar nicht. Mit meinem Teint bin ich soweit zufrieden, daher lasse ich ihn, wie er ist. Erst überlege ich, meine Haare wie jeden Morgen zu einem Zopf zu binden, aber nach kurzem Überlegen entscheide ich mich dagegen und lasse sie mir über die Schulter fallen.
Bleibt nur noch das Outfit.
»Jess, bist du da drin bald mal fertig?«, fragt René leicht genervt und klopft an die Tür zum Badezimmer. »Das habe ich definitiv nicht vermisst, seit Chiara bei ihrer Mutter wohnt«, höre ich ihn murmeln und muss schmunzeln.
»Ja, ich bin fertig.« Anziehen kann ich mich auch im Wohnzimmer, während René hier drinnen ist. »Gewöhn dich besser schon mal wieder dran«, foppe ich ihn, als ich die Tür öffne und grinsend an ihm vorbei zu meiner Tasche laufe, um nach etwas Hübschem zum Anziehen zu suchen.
Die Auswahl ist ziemlich mau. Am Ende entscheide ich mich für eine schwarze Röhrenjeans mit einem weinroten Top. Die Farbe steht mir, weil sie wunderbar mit meinen braunen Haaren und meinen haselnussfarbenen Augen harmoniert.
Das muss reichen, obwohl ich mich gerne noch ein wenig hübscher anziehen würde.
Relativ zufrieden greife ich nach meiner Schultasche, ziehe Schuhe und Jacke an und rufe René durch die Badezimmertür eine Verabschiedung zu, dann stehe ich im Hausflur – bereit, den Schultag zu überstehen und danach zu André nach Hause zu gehen.
Ich habe mich selten so nervös gefühlt.
☆☆☆
Leider begegnet mir André vor der ersten Unterrichtsstunde nicht mehr, dafür bemerke ich Niks Blick auffällig oft auf mir. Vielleicht hat er gesehen, dass ich Wimperntusche aufgetragen habe, etwas, das ich während unserer Beziehung nur zu besonderen Anlässen getan habe.
Eine unglaubliche Genugtuung erfüllt mich, wenn ich mir vorstelle, wie sich die Zahnrädchen in seinem Kopf drehen, weil er sich fragt, was ich heute noch besonderes vorhabe.
Gut so! Ist mir nur recht, wenn er merkt, was er verloren hat, denn ich will unter keinen Umständen jemals wieder zu ihm zurück – selbst wenn er mich wieder zurückhaben wollen würde.
Er hatte seine Chance und er hat sie verspielt, indem er mich wie Dreck behandelt hat, als er beschlossen hat, hinter meinem Rücken mit Avril rumzumachen.
Als ich zum gefühlt achten Mal Niks Blick auf mir spüre, beschließe ich, dass es Zeit ist, zum Kursraum zu gehen. Langsam fängt es an, mich zu nerven.
Die darauffolgenden drei Stunden ziehen sich ebenso träge hin wie gestern. Unglaublich erleichtert darüber, endlich das Pausenklingeln zu hören, packe ich nach der dritten Stunde meine Sachen und steuere in Richtung Foyer.
Die meisten der Tische und Bänke für die Oberstufe sind schon mit unzähligen Rucksäcken und Taschen belagert, die sich wild übereinander stapeln. Ich halte Ausschau nach dem Tisch, an dem die Schüler aus meinem Jahrgang herumlungern und entdecke dabei Nik, der einen Rucksack neben Jasmina zur Seite schiebt und sich hinsetzt.
Ihr gesamte Körperhaltung ändert sich schlagartig, als sie merkt, wer sich neben sie plumpsen lässt. Sich aufrechter hinsetzend rückt sie, so gut es geht, von ihm ab und feuert giftsprühende Blicke in seine Richtung.
Interessiert trete ich ein paar Schritte näher, um zu hören, was die beiden reden.
»Was willst du, Domenik?« Ihre Stimme trieft vor Abscheu ihm gegenüber.
»Ich wollte fragen, ob du weißt, wer der Kerl ist, den ich in letzter Zeit häufiger in Jess' Nähe gesehen habe. Gestern hast du ja mit ihm geredet.« Niks Stimme ist kein bisschen unsicher, verlegen oder beschämt. Im Gegenteil. Sie strotzt nur so vor Selbstbewusstsein und Arroganz. Als hätte er jedes Recht, das zu fragen.
Mir klappt die Kinnlade nach unten. Jasmina auch.
»Sag mal hackt's bei dir?«, braust sie auf und da scheint Nik doch einzusehen, dass es nicht so klug gewesen ist, einfach zu ihr hinzugehen.
Genervt hebt er die Hände, während einige Schüler ihre Köpfe dem Geschehen zuwenden. »Schon gut, reg dich ab, war nur 'ne Frage.«
»Verschwinde!«, faucht sie ihn an und zeigt mit dem Finger von sich weg.
»Chill mal«, antwortet er darauf nur, erhebt sich seelenruhig von der Bank und schlendert in die entgegengesetzte Richtung von mir davon.
Leider verpasse ich den Moment, in dem es klug gewesen wäre, sich abzuwenden, damit Jasmina mich nicht bemerkt.
Nachdem sie Nik mit Blicken erdolcht hat, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden ist, dreht sie sich um und ihre Augen treffen ... mich.
Die harten, erbosten Gesichtszüge verschwinden augenblicklich und machen Platz für eine Vielzahl an anderen Gefühlen – Reue, Flehen, Trauer und Schmerz.
Sie hält zu mir, obwohl ich sie immer und immer wieder so kalt von mir stoße. Obwohl ich ihr seit dem Vorfall mit Nik nur noch meine Stacheln zeige. Trotzdem hält sie zu mir.
Warum hat sie mich damals dann so verraten?
Du musst den ersten Schritt machen, kommen mir Andrés Worte wieder in den Sinn.
Kann ich das? Kann ich den ersten Schritt machen? Besteht die Möglichkeit, ihr irgendwann wieder vertrauen zu können?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sie unglaublich vermisse.
André hat so viel riskiert, als er mich das erste Mal angesprochen hat. Er hat mir seine Gefühle auf dem Silbertablett serviert, obwohl er nicht wusste, wie ich reagieren würde. Doch das Ergebnis war die Mühe wert.
Ja, Jas hat einen Fehler gemacht. Ich habe auch Fehler gemacht, als wir noch befreundet waren. Viele sogar. Und dennoch hat sie mir jedes Mal wieder verziehen, weil sie mir die Gelegenheit gegeben hat, mich zu erklären oder mich auch einfach nur zu entschuldigen.
Ich habe nichts dergleichen getan. Nicht einmal ihren Brief habe ich gelesen.
Sie verdient, dass ich ihr zuhöre.
Keine Ahnung, wie lange unser Blickkontakt gedauert hat, aber als ich mich in Bewegung setze und auf sie zugehe, zuckt sie unmerklich zusammen und weiß plötzlich nicht mehr, wie ihr geschieht. Vollkommen aus dem Konzept gebracht fliegt ihr Blick in alle Richtungen, weil sie wahrscheinlich nicht glauben kann, dass ich wirklich auf sie zugehe.
Kurz vor ihr bleibe ich stehen. »Können wir reden?«, frage ich leise, um die Aufmerksamkeit der anderen nicht zu erregen.
Sie schluckt, dann nickt sie und klaubt hastig ihre Sachen zusammen.
»Lass uns in den Schulgarten gehen«, biete ich ihr an, weil sie immer noch zu keinem Wort fähig scheint.
Schulgarten klingt eigentlich viel zu wohnlich für das, was er wirklich ist – eine umzäunte, wild wuchernde Wiese mit einem kleinen Häuschen in der Mitte, in dem Gartengeräte lagern und sich hin und wieder die Garten-Ag trifft. Was die dann machen, ist mir ein Rätsel, angesichts dessen, wie verwahrlost hier alles ist.
Aus dem Grund ist auch niemand hier, als Jas und ich dort ankommen. Ich öffne das kleine, nie abgeschlossene Tor und gehe auf dem gepflasterten und einzig begehbaren Weg zum Häuschen. Davor steht neben einem Insektenhotel eine Bank, auf die ich mich setze.
Jas setzt sich neben mich und wippt nervös mit ihrem Bein auf und ab, während sie mich anschaut, an ihrem Daumennagel kaut und darauf wartet, dass ich etwas sage.
In einem ersten Versuch klappe ich meinen Mund auf und direkt wieder zu. Ich weiß noch gar nicht, was ich ihr sagen möchte. Zu spontan war die Entscheidung, ihr eine Chance zu geben.
»Jas ... «, fange ich an und gleichzeitig sagt sie: »Es tut mir leid.«
»Es tut mir so leid, Jess. Und ich weiß, es gibt auf der ganzen Welt nichts, das mein Tun rechtfertigen könnte, aber bitte, bitte gib mir die Chance, es dir zu erklären«, fleht sie mich mit zusammengelegten Händen an und ich sehe, wie sich Tränen in ihren Augen sammeln. »Ich verlange nicht, dass du mir danach vergibst. Wenn du glaubst, es auch nach meinen Worten nicht zu können, dann werde ich das akzeptieren und dich in Ruhe lassen. Nur bitte hör mich an.«
Mit zusammengepressten Lippen, um die Tränen, die sich in meine Augen stehlen, zurückzuhalten, nicke ich.
Ein Seufzer der Erleichterung entfährt ihr. »Danke. Oh Gott, danke.« Dann hält sie einen Moment inne, um ihre Gedanken zu sortieren. »Erinnerst du dich an den Tag von Berits Party, auf die du nicht mitkonntest, weil du dir eine schlimme Magen-Darm-Infektion zugezogen hattest?«
In Erinnerung daran verziehe ich das Gesicht. »Das war echt unschön.«
»Ja. Jedenfalls bin ich alleine mit Nik zur Party gegangen und wir haben ziemlich viel getrunken. Irgendwann kamen ein paar Leute auf die Idee, Flaschendrehen zu spielen, wie in diesen amerikanischen Filmen, und Nik meinte, wir sollten mitmachen. Kurz war ich dagegen, aber mein betrunkenes Ich hat anscheinend sehr viel weniger Hemmungen und ich setzte mich neben ihn. Nach ein paar Runden fiel das Los dann auf mich und man forderte mich auf, Nik zu küssen.
Ich war zum Glück doch noch nüchtern genug, um sofort abzulehnen, aber dann haben alle angefangen Druck zu machen und Sachen gesagt, wie ›Es ist doch bloß ein Spiel‹, ›Es bedeutet ja nichts‹ oder ›Du musst es ihr ja nicht sagen‹ und als ich mich trotzdem nicht umstimmen ließ, meinten sie, ich wäre ein Feigling und Langweiler und setzten mir so sehr zu, dass ich irgendwann nachgab.«
»Du hast ihn geküsst?« Schockiert und verletzt rücke ich von ihr ab. »Während wir noch glücklich zusammen waren?« Sofort wollen alle meine Schutzmauern wieder hochfahren und ich spüre, wie sich der Igel in mir zusammenrollt und seine Stacheln präsentiert.
Panisch registriert sie, wie ich wieder dabei bin, mich zu distanzieren. Weinerlich antwortet sie: »Das war falsch. Ich weiß und es tut mir leid. Ich hätte das niemals tun dürfen, aber bitte Jess, hör mir weiter zu.«
Mit Mühe ringe ich den Igel in mir nieder. Ich habe versprochen, ihr zuzuhören, also werde ich das auch tun. Mut statt Abwehr, Löwe statt Igel. »Okay, erzähl weiter.«
Die Tränen zurückkämpfend fällt die Anspannung erleichtert von ihr ab. »Danke.« Tief durchatmend fährt sie fort. »Ich habe ihn nicht lange geküsst. Vielleicht fünf Sekunden, damit die anderen zufrieden waren und ohne Zunge. Aber danach fühlte ich mich elend und beschloss, es dir sofort am nächsten Tag zu sagen. Wirklich Jess, ich würde dir niemals den Freund ausspannen.«
»Warum hast du mir dann nichts von Nik und Avril erzählt?«, frage ich vorwurfsvoll und stelle fest, wie gut es tut, das endlich auszusprechen.
»Weil ich nicht konnte«, flüstert sie. »Nachdem ich Nik geküsst hatte, habe ich ihm das Versprechen abgenommen, dass er es dir nicht sagt. Ich wollte es dir selbst sagen und ich wollte auch alle Schuld auf mich nehmen, obwohl er, während alle auf mich eingeredet haben, nicht einmal Partei für mich ergriffen hat. Aber ich wollte nicht, dass eure Beziehung in die Brüche geht, lieber hätte ich unsere Freundschaft geopfert. Ihr wart so ein süßes Paar. Eins von diesen amerikanischen Highschool-Pärchen, von denen man glaubt, sie seien für die Ewigkeit gemacht.«
Bei diesen Worten muss ich schlucken. Das dachten tatsächlich viele, inklusive mir. So kann man sich täuschen.
»Aber jedes Mal, wenn ich kurz davor war, es dir zu sagen, bekam ich Angst. Angst, dich zu verlieren, also habe ich die Klappe gehalten und mein Gewissen damit beruhigt, dass alles in Ordnung war. Schlafende Hunde soll man schließlich nicht wecken, oder? Und eure Beziehung lief gut.« Nervös fährt sie sich durch die Haare und kaut für kurze Zeit an ihrem Daumennagel, während sie überlegt, wie sie weiterreden soll. »Dann, bloß ein paar Wochen später, erwischte ich Nik mit Avril. Ich war so sauer, dass ich ihm im Affekt eine scheuerte und fragte, wie er dir das antun könne. Ich ließ ihm die Wahl, es dir zu sagen oder ich würde es dir erzählen. So einen Kerl hattest du nicht verdient.
Aber er erinnerte mich an das, was auf der Party geschehen war und dass ich es dir immer noch nicht gebeichtet hatte. Er drohte mir damit, es dir zu sagen, sollte ich auch nur Andeutungen in die Richtung machen, er könne dir untreu sein. Und außerdem meinte er, er würde allen erzählen, dass dein Vater deine Mutter schlägt und es mir in die Schuhe schieben.«
Bei der Erwähnung meiner Eltern gefriert mir das Blut in den Adern und ich erstarre. Woher weiß er das? Ich habe immer darauf geachtet, dass weder Jas noch er etwas davon mitbekommen. Doch Jasmina redet so schnell weiter, dass mir keine Zeit bleibt, die Frage zu stellen.
»Jeder konnte bezeugen, dass ich ihn geküsst hatte und nicht umgekehrt, also würde auch jeder glauben, ich hätte dieses Gerücht in die Welt gesetzt.
Jess, ich weiß, dass dein Zuhause nicht perfekt ist, obwohl du immer versucht hast, diesen Umstand vor mir zu verbergen. Ich weiß nicht, wie groß das wahre Ausmaß ist und aus Respekt habe ich auch nie nachgefragt, aber ich weiß, dass er die Behauptung nicht aus der Luft gegriffen hat. Deshalb konnte ich nicht zulassen, dass er das erzählt.«
Mein Verstand kommt nicht mehr hinterher. Wie versteinert sitze ich ihr gegenüber, unfähig zu reagieren. Sie wusste es. Und ist geblieben. Obwohl sie es wusste, ist sie nicht gegangen. Stattdessen habe ich sie weggestoßen. Ich war so blöd.
»Mit der Methode schaffte er es irgendwann auch, dass ich ihn deckte, wenn er sich mit Avril treffen wollte. Ich kam erst zum Umdenken, als ich schon viel zu tief drinsteckte. Ich sah, dass seine Liebe zu dir immer weiter abnahm und hoffte, dass er sich wenigstens von dir trennen würde. Zu sehen, wie du unter seiner Distanziertheit littst und nichts tun zu können, war die reinste Folter.
Als ich an eurem Jahrestag zu dir kam, wusste ich bereits, dass er dich versetzen würde. Ich lenkte mich ab, indem ich dich fertig machte, und hoffte inständig, er würde es sich anders überlegen. Mir wurde klar, dass er das nicht getan hatte, als ich dein erschüttertes Gesicht sah. Da ist etwas in mir übergekocht. Ich wollte, dass du dieses Schwein endlich loswirst und aufhörst, dich seinetwegen fertigzumachen. Die Folgen würde ich schon deichseln. Auf keinen Fall würde er dieses Gerücht über dich verbreiten.
Erst auf dem Weg zu Nik wurde mir bewusst, in was für eine Situation ich mich damit gebracht hatte. Irgendwie hoffte ich, dass er mich vielleicht übersehen würde, wenn ich etwas weiter hinten blieb. Das war natürlich Schwachsinn und es ist nur logisch, dass es gekommen ist, wie es gekommen ist. Ich war eine beschissene Freundin und ehrlich, ich habe auch nichts anderes als Zurückweisung verdient.« Sie zuckt mit den Schultern und heftet ihren Blick auf den Boden.
Ich brauche einige Zeit, um das Gesagte zu verarbeiten und knete nervös den Daumen meiner linken Hand, während meine Hände in meinem Schoß liegen. Sie wusste die ganze Zeit über, wie es bei mir zu Hause aussieht und hat dichtgehalten, mehr noch – sie hat mich beschützt. Und ich habe sie zurückgestoßen. Nicht sie war die beschissene Freundin, ich war es!
Ein Kloß von der Größe einer Wassermelone bildet sich in meinem Hals. »Jas ... «
»Ich weiß, das nichts davon rechtfertigt, was ich getan habe«, fällt sie mir ins Wort und schaut mich wieder an. »Ich hätte es dir sagen müssen. Sofort. Dann hätte Nik mich gar nicht erst erpressen können, aber ich war feige.«
»Jas!«, sage ich lauter.
Erschrocken hält sie inne, während ich meine Gedanken sortiere, die wie ein Bienenschwarm ohne Königin hilflos in meinem Kopf umherirren.
Ich entscheide mich für das Ehrlichste. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Unvermittelt schießen mir Tränen in die Augen. »Wenn ich daran denke, wie ich dich behandelt habe, obwohl du mich nur beschützen wolltest. Ich hätte dir einfach nur eine Chance geben müssen, dich zu erklären, dann ... « Meine Stimme bricht und ich halte mir die Hände vor Mund und Nase.
Vorsichtig hebt sie eine Hand und legt sie auf mein Knie. Die Wärme, die davon ausgeht, durchströmt sofort meinen gesamten Körper. »Das konntest du nicht wissen.«
Ich nehme die Hände vom Gesicht. »Nein, aber ich hätte dir zuhören müssen.«
»Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich dir auch nicht zugehört. Ich habe deinem Freund nun mal dabei geholfen, seine Affäre geheim zu halten. Daran gibt es nichts zu rütteln.«
»Aber du tatest es, um mich vor etwas anderem zu beschützen. Über Nik werde ich hinwegkommen, aber wenn alle in der Schule wüssten, dass mein Vater meine Mutter schlägt ... « Das bringt mich auf einen anderen Gedanken. »Wie hast du es geschafft, dass Nik das nicht herumerzählt, nachdem ich Schluss gemacht habe?«
Ein diabolisches Grinsen schleicht sich auf Jas' Gesicht, während sie die Handflächen aneinanderlegt und ihr Kinn auf die Fingerspitzen stützt. »Nun ja, nachdem du abgerauscht bist, war Nik stinkwütend und wollte mich zur Schnecke machen, aber ich habe ihn bloß angebrüllt und gesagt, ich würde nicht eine Sekunde länger zulassen, dass er dich verletzt. Dann verliere ich dich eben als Freundin, aber Hauptsache du bist ihn los.
Er meinte nur, darauf könne ich wetten, du würdest mich hassen, sobald du erfahren würdest, was ich in der Schule über dich verbreite. Ich drohte ihm bloß, dass er es sich ja nicht wagen solle, auch nur ein Wort über deine Eltern zu verlieren, aber ohne etwas in der Hand war meine Drohung wirkungslos. Also beschloss ich, mir etwas zu besorgen. Nicht unbedingt die feine Art, aber der Zweck heiligt die Mittel.
Ich verließ also das Grundstück, wartete jedoch auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Schatten dieser großen Hecke von seinen Nachbarn, bis Avril nach einiger Zeit auch endlich ging. In dem Wissen, das Nik nun nicht mehr in der Gartenlaube, sondern drinnen in seinem Zimmer sein würde, ging ich wieder in den Garten, ums Haus herum und stellte mich neben sein hellerleuchtetes Zimmerfenster.
Ich hatte gehofft, ihn bei irgendetwas Peinlichem aufnehmen zu können – keine Ahnung, dass er heimlich masturbiert oder so was.«
Ich schüttle den Kopf. »Eww. Zu viel Information.« Das möchte ich mir nicht vorstellen.
Jasmina lacht. »Keine Sorge, hat er nicht. Zuerst war er gar nicht in seinem Zimmer, obwohl das Licht an war, aber nach ein paar Minuten kam er rein. Bloß mit einem Handtuch um die Hüften und nassen Haaren.
Ich zückte mein Handy und fing an zu filmen – war ja schon mal besser als gar nichts und da es draußen bereits dunkel war, konnte ich ihn sehen, er mich aber nicht –, aber was er dann gemacht hat.« Sie hält inne und schlägt sich die Hände vors Gesicht.
»Nun los, sag schon«, werde ich ungeduldig.
»Als erstes löste er sein Handtuch und schmiss es aufs Bett«, erzählt sie langsam und mir klappt der die Kinnlade nach unten. »Ich konnte mein Glück kaum fassen – ein Nacktvideo. Von dem würde er bestimmt nicht wollen, dass ich es veröffentliche. Aber dann...«, wieder macht sie eine dramatische Pause.
»Jasmina«, quengle ich und wippe ganz aufgeregt mit meinem Bein.
»Dann hat er sich vor den Spiegel in seinem Zimmer gestellt, angefangen zu posieren und sogar seinen, na du weißt schon, in die Hand zu nehmen und ihn zu präsentieren.«
Mir wird schlecht. »Und das hast du auf Video?«
»Alles.«
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Mit so einem Kerl bin ich mal zusammen gewesen. »Bitte, erzähl mir ganz schnell irgendwas Niedliches, sonst kotze ich noch in den Schulgarten.«
»Am nächsten Tag habe ich ihm das Video auf einem Stick gegeben, mit den Worten ›Wenn du nicht möchtest, dass ich das veröffentliche, dann hältst du besser deine Klappe.‹. Seine Reaktion am Tag darauf war unbeschreiblich. Er hat mir sogar Geld angeboten, damit ich das Video vernichte, aber ich meinte nur, es wäre bei mir sicher, solange er seinen Mund hält. Nun ja, scheint bisher funktioniert zu haben.«
Ich lache, die Hände immer noch ungläubig vorm Mund. »Oh mein Gott, Jasmina, dafür kann er dich verklagen.«
Sie zuckt bloß unbeeindruckt mit den Schultern. »Dafür müsste er seine Eltern einschalten und dann würden die das Video sehen. Naaa, ich denke eher mal nicht, dass er das tun wird.«
Ich fasse es nicht. Grinsend schüttle ich den Kopf und kann einfach nicht glauben, was sie gemacht hat. »Eins steht fest: Dich will ich niemals zur Feindin haben.« Die Worte sind bereits aus meinem Mund, ehe ich realisiere, was ich da gesagt habe. Schlagartig sind wir wieder ernst.
Leise flüstert Jas, während sie den Blick senkt: »Ich dich auch nicht.«
Ich schlucke. Mutig sein! Spring über deinen Schatten. Genau deshalb hast du ihr doch die Chance gegeben, ihre Sicht zu erzählen. »Jas?«, beginne ich langsam und habe ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ich vermisse dich. Sehr. Kannst du ... Kannst du mir verzeihen, dass ich so eine beschissene Freundin war?«
Tränen füllen ihre Augen. »Du warst keine beschissene Freundin. Ich war die beschissene Freundin.« Und dann fällt sie mir in die Arme.
Im ersten Moment versteife ich mich, zu lange ist es her, dass wir uns umarmt haben, aber dann genieße ich die Wärme, die von ihr ausgeht und lege meine Arme um sie.
»Bitte lass uns nie wieder Geheimnisse voreinander haben.«
»Abgemacht. Und jetzt erzähl, wer ist dieser André?«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top