15 | Zerschlagen

2.129 Worte

Tief einatmend drehe ich mich zur Haustür und laufe die Einfahrt hoch. Gerade eben war René an der Reihe, jetzt bin ich es – nur dass ich Chiaras Platz einnehme und Mum seinen.

Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass ich eine Stunde Zeit habe, bis mein Vater heimkommt. Eine Stunde Zeit, um mit Mum zu reden, meine Sachen zu packen und wieder zu verschwinden.

Entschlossen schließe ich die Haustür auf, da kommt meine Mutter mir schon aus dem Wohnzimmer entgegen. Sie sieht aus, als hätte sie den ganzen Tag geweint. Hat sie wahrscheinlich auch.

»Jess ... «

»Mum, lass mich erst reinkommen«, falle ich ihr ins Wort.

»Soll ich dir was zu essen machen? Hast du Hunger?«, fragt sie mit dünner, leiser Stimme und in dem Moment wird mir bewusst, dass ich seit der Pause in der Schule nichts mehr gegessen habe.

Doch wenn mein Vater in einer Stunde heimkommt, bleibt dafür keine Zeit. Ich werde bei René essen. Der weiß davon zwar noch nichts, aber er wird nichts dagegen haben, wenn ich noch eine Nacht bei ihm schlafe. Vielleicht auch noch etwas länger.

»Nein«, lehne ich ihr Angebot unbarmherzig ab. Doch dann fühle ich mich schlecht. Sie ist immer noch meine Mutter, die all die Jahre zu mir gehalten hat. Etwas sanfter füge ich hinzu: »Schon okay.«

Hilflos steht meine Mutter im Flur und sieht mir dabei zu, wie ich die Schultasche abstelle und meine Schuhe ausziehe.

Als ich damit fertig bin, stelle ich mich gerade hin, verschränke die Arme vor der Brust und schaue sie aus trotzigen Augen an.

»Jess, ich ... «

»Nein, Mum, du bist gerade nicht dran mit reden. Ich weiß, dass es dir leidtut, aber ich bin trotzdem noch nicht bereit, dir einfach so zu vergeben. Du wusstest ... «, ich trete einen Schritt näher an sie heran und deute mit einem Finger auf sie, »du wusstest, dass er, je älter ich werde, keinen Halt mehr vor mir machen würde. Und alles, was du getan hast, war mir zu sagen, dass ich aus dem Haus verschwinden soll, wenn er die Hand gegen dich erhebt.«

»Jess, bitte lass mich doch erklä ... «

»Nein, Mum!« Nun wird meine Stimme lauter. »Du hast in Kauf genommen, dass er mich schlägt und es mir all die Zeit über verheimlicht. Wie, glaubst du, kann ich mich hier noch sicher fühlen? Wie soll ich mit ihm an einem Tisch sitzen? Er hat mich geschlagen, Mum! Wegen ein bisschen Chaos in der Küche! Das kannst du nicht wieder ungeschehen machen.«

Tränen laufen meiner Mutter übers Gesicht. »Jess, es tut mir so schrecklich leid. Es war ein Fehler, aber es kommt bestimmt nicht wieder vor. Wir sorgen einfach dafür, dass ... « Sie hebt eine Hand, um meinen Arm zu berühren, aber ich weiche augenblicklich zurück.

»Ist das dein Ernst, Mum?«, fauche ich sie an. »Du willst trotzdem bei ihm bleiben? Bei dem Mann, der deine Tochter schlägt? Der dich seit Jahren schlägt?«

»Ich ... «

Ich fasse es nicht. Ich fasse es einfach nicht. Der einzige Grund, warum ich hergekommen bin, ist der, dass ich insgeheim gehofft habe, sie würde sich nun endlich von ihm trennen.

Vollkommen fassungslos stehe ich da, schüttle den Kopf und schaue zu, wie sie nach Worten ringt. Dann lache ich humorlos. »Spar's dir. Wenn du mich suchst, ich bin bei René und da bleibe ich auch die nächsten Tage.«

In mir tobt ein Sturm aus Unglauben, Enttäuschung und lodernder heißer Wut. Wie kann er ihr wichtiger sein als ich?

Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, drängle ich mich an ihr vorbei und laufe die Treppe hoch in mein Zimmer. Dort ziehe ich blind die Reisetasche unter meinem Bett hervor, während mir Tränen in die Augen schießen, werfe ein paar Klamotten für die nächsten Tage rein und packe meine Schulsachen sowie ein Buch und mein Ladekabel.

Dass meine Mutter mir nicht mal die Treppe nach oben gefolgt ist, um mich umzustimmen, lässt mein Herz fast entzweibrechen, gleichzeitig schürt es aber auch die Wut, die in meinem Inneren tobt wie ein gewaltiger Wirbelsturm.

Unwirsch wische ich mir die Tränen von den Wangen, schultere die Tasche und gehe wieder nach unten, wo ich in meine Schuhe schlüpfe, meine Schultasche nehme und aus der Tür verschwinde – ohne mich von ihr zu verabschieden. Ich bekomme nur noch mit, wie sie wieder aus dem Wohnzimmer kommt, ehe die Tür ins Schloss fällt. Zehn Sekunden bleibe ich davor stehen, um zu sehen, ob sie mir folgt. Sie tut es nicht.

Sie lässt zu, dass ich einfach so gehe!

Ich spüre, wie mein Herz in sich zusammenfällt während im gleichen Moment die lodernde Feuerbrunst aus meinem Inneren gewaltsam an die Oberfläche drängen will. Ich bin kurz davor, einen lauten Schrei auszustoßen, weil es mir ansonsten den Brustkorb sprengt.

Doch ich beherrsche mich, stürme in Richtung Wald und als ich weit genug im Unterholz verschwunden bin, abgeschirmt vor neugierigen Augen, lasse ich die Taschen fallen und trete blind vor Zorn gegen einen vor mir liegenden morschen Baumstamm, während ich mir die Wut aus dem Leib schreie. Ich trete und schreie, solange bis meine Zehen wehtun und meine Stimme schon rau wird.

Ich bin ihre Tochter. Ich halte seit Jahren zu ihr und unterstütze sie. Und trotzdem zieht sie ihn mir vor.

Erschöpft lasse ich mich zu Boden sinken, lehne mich mit dem Rücken an den Baumstamm und bemerke, dass die Nägel meiner fest zu Fäusten geballten Hände tiefe, violette Halbmonde in meinen Handinnenflächen hinterlassen haben. Tränen quellen aus meinen Augen hervor und ich vergrabe mein Gesicht zwischen meinen Knien. Tiefe Schluchzer dringen aus meiner Kehle, die Besitz von meinem gesamten Körper ergreifen. Verzweifelt schlinge ich meine Arme um meine Beine, um das Zittern zu unterdrücken.

Wie kann es sein, dass sich die Beziehung zwischen meinem Bruder und mir kittet und eine andere dafür so unwiederbringlich in die Brüche geht?

Meine Mutter war die einzige Person, die mir nach der Trennung von Nik und Jas noch geblieben ist. Die einzige Person, mit der ich über all meine Probleme reden konnte und die mir Rat gegeben hat. Wer bleibt mir jetzt noch?

Wie kann ich ihr so wenig bedeuten, dass sie mich einfach gehen lässt, ohne um mich zu kämpfen?

☆☆☆

Es dauert lange, bis ich mich beruhigt habe. Mein Hintern fühlt sich schon taub an, als mein Körper endlich nicht mehr zittert und nur vereinzelt noch ein Schluchzen über meine Lippen dringt.

Wackelig und erschöpft richte ich mich auf, greife nach meinen Taschen und mache mich auf den Weg zu Renés Wohnung. Aus dem Treffen mit André wird heute nichts mehr.

Mein großer Bruder ist sichtlich überrascht, als ich wieder bei ihm auftauche.

Mein verheultes Gesicht muss Bände sprechen, denn er kommt sofort auf mich zu und schließt mich in seine Arme.

Augenblicklich bricht meine Selbstbeherrschung wieder in sich zusammen und ich fange an zu weinen. Meinen Tränen hilflos ausgeliefert, vergrabe ich mein Gesicht in Renés Shirt. Sanft zieht er mich die zwei Schritte zurück in seine Wohnung und schließt mit einer Hand die Tür hinter uns, den anderen Arm hat er fest um mich gelegt.

»Jess, was ist passiert? Ich schwöre dir, ich bringe das Schwein um die Ecke, wenn er dich nochmal angerührt hat.«

Im ersten Moment bin ich noch unfähig ihm zu antworten, aber dann beruhige ich mich langsam. »Nein, alles gut. Er war nicht zu Hause«, bringe ich schließlich hervor und rücke ein Stück von meinem Bruder ab.

»Er war nicht zu Hause? Jess, wo bist du denn gewesen? Er kommt doch spätestens um sechs Uhr heim und jetzt ist es ... «, René wirft einen Blick auf seine Uhr am Handgelenk, » ... bereits acht.«

Ist es wirklich schon so spät? Mir war nicht bewusst, dass ich so lange im Wald gesessen und geweint habe.

»Ich war im Wald«, antworte ich ohne ihn anzusehen und schaue auf einem Punkt rechts neben ihm auf dem Boden.

»Im Wald?«

»Sie verlässt ihn nicht, René«, flüstere ich. »Sie verlässt ihn nicht. Er ist ihr wichtiger als ich.«

»Ach Jess, du bist ihr mindestens genauso wichtig. Da bin ich mir sicher.« Sanft hebt er mein Kinn an und streicht mir über die Haare. Bei dieser Geste meinen Bruder statt meiner Mutter vor mir zu haben, fühlt sich merkwürdig an, aber dieses Gefühl nehme ich nur am Rande wahr.

»Aber warum bleibt sie dann bei ihm?« Meine Stimme schnellt ein paar Oktaven nach oben, weil ich schon wieder Tränen zurückhalten muss.

»Das weiß ich nicht. Das habe ich schon als kleiner Junge nicht verstanden. Aber würdest du ihr nicht am Herzen liegen, würde sie sich nicht so um dich sorgen, wie sie es tut.«

Ich nicke, obwohl mir das als Antwort nicht genügt.

»Hast du Hunger? Du hast doch bestimmt seit heute Mittag in der Schule nichts mehr gegessen«, wechselt René das Thema und ich bin dankbar für die Ablenkung. Mein Kopf steht kurz vor dem Platzen, so viel ist heute passiert. »Soll ich uns zwei Nudelboxen bei der Chinaecke besorgen? Bis neun haben die noch auf.«

Ich nicke. »Ja bitte.« Eigentlich habe ich gar nicht so viel Hunger, aber mir ist alles recht, um das Gedankenkarussell in meinem Kopf zum Stillstand zu bringen.

»Gut, dann warte du hier und such uns einen Film aus, während ich uns Essen hole. Zieh ruhig die Couch aus, dann können wir uns gleich gemütlich drauffläzen.«

Ich bin meinem Bruder so dankbar, dass er genau weiß, wie er mich jetzt auf andere Gedanken bringen kann.

Während René sich Schuhe und Jacke anzieht und sich Schlüssel und Portemonnaie schnappt, um aus der Tür zu verschwinden, schlendere ich zum DVD-Regal und stöbere durch das Angebot. Natürlich stehen nur verschwindend wenig Liebesfilme zur Auswahl, aber auf Schnulzen habe ich ohnehin keine Lust. Stattdessen entdecke ich ›Findet Nemo‹.

Das ist genau die Art Film, die ich jetzt brauche. Zufrieden ziehe ich die DVD aus dem Regal und gehe damit zum Sofa, das ich zur Schlafcouch ausziehe, sodass bequem zwei Personen nebeneinander sitzen und die Beine ausstrecken können. Danach hole ich Renés Plumeaubettwäsche aus dem Schlafzimmer, mit der er selbst im Hochsommer schläft – er ist eine wahre Frostbeule –, um mich nachher darin einzukuscheln.

Ich will gerade den Film in den DVD-Player schieben, als mein Handy in meiner Hosentasche vibriert. Ich habe wohl vergessen, es wieder auf stumm zu stellen.

Bei einem Blick auf das Display bleibt mein Herz kurz stehen. Eine Nachricht von André.

André: Ich hoffe, das Gespräch mit deiner Mutter ist gut verlaufen. Sehe dich dann morgen in der Schule. Schlaf gut ;)

Ich habe vergessen, ihm zu schreiben, dass ich heute nicht mehr komme. Wie konnte ich bloß so doof sein?

Hoffentlich denkt er jetzt nichts Falsches. Ich habe wirklich vorgehabt zu kommen, nachdem aus unserem gemeinsamen Heimweg nichts geworden ist.

Ich: André, es tut mir so furchtbar leid. Ich habe dich vergessen. Heute war so viel los ... ich hab's einfach vergessen. Tut mir echt mega leid.

Und dann beschließe ich mutig zu sein.

Ich: Vielleicht können wir ja morgen gemeinsam nach der Schule zu dir gehen. Wann hast du Schluss? Ich habe auch morgen nochmal acht Stunden.

Die Antwort kommt prompt.

André: Hey, alles gut. Mach dir keinen Kopf. Ich weiß, dass Gespräche mit den Eltern anstrengend sein können. Morgen habe ich nur sechs Stunden, siebte/achte fällt bei mir aus. Aber das macht nichts. Ich werde pünktlich um zehn vor drei vor der Schule auf dich warten :)

Ich: Ich verspreche, diesmal kommt nichts dazwischen.

André: Ich nehme dich beim Wort :P

☆☆☆

René kommt 10 Minuten nach dem kurzen SMS-Wechsel mit André wieder in die Wohnung geschlendert und bringt zwei dampfende Nudelboxen vom Chinesen mit. Als mir der Duft in die Nase steigt, merke ich doch, wie hungrig ich bin.

Während wir nebeneinander auf der Couch sitzen und ausgelassen über die lustigen Szenen in ›Findet Nemo‹ lachen, esse ich meine Nudeln in Windeseile auf.

Für René ist klar, dass ich diese Nacht wieder bei ihm verbringen werde, aber als wir da so beieinander sitzen, frage ich, ob es okay wäre, wenn ich sogar für die nächsten paar Tage bei ihm wohnen dürfte. Er stimmt ohne zu zögern zu.

Es ist unglaublich, zu sehen, wie innig unser Verhältnis in den letzten zwei Tagen geworden ist.

Ich rechne damit, an diesem Abend gar nicht in den Schlaf zu finden, aber seine Gesellschaft tut mir gut und lenkt mich ab. Ich merke gar nicht, wie ich während des Films in seine Decke eingekuschelt wegdämmere. Erst als René den Fernseher ausschaltet, sich die Decke, mit der ich letzte Nacht geschlafen habe, nimmt und in sein Schlafzimmer geht, werde ich nochmal kurz wach.

Vielleicht sollte ich ihm sein Plumeau geben, aber ehe ich den Gedanken in die Tat umsetzen kann, fallen mir auch schon wieder die Augen zu.

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