12 | Ein schlechtes Omen
1.837 Worte
»Hier, die dürfte dick genug sein.« Mein Bruder kommt mit einer Decke und einem Kopfkissen bewaffnet zurück aus seinem Zimmer. »So kalt ist es ja nicht mehr.« Der Gedanke, eine Therapie zu machen, widerstrebt ihm zutiefst, aber er weiß, dass ich recht habe und hat meinen Vorschlag daher nicht ganz abgewiesen. Er wird darüber nachdenken, das reicht mir für heute.
Dankend nehme ich beides entgegen und mache es mir auf der Couch bequem. Ich habe nicht vor, heute Abend wieder nach Hause zu gehen. Das war für René sofort klar. Dass mein Vater mich geschlagen hat, ist nicht einmal der Hauptgrund. Der Verrat meiner Mutter trifft mich viel tiefer. Nach Renés Auszug, Niks Seitensprung und Jasminas Illoyalität war Mum die einzige Vertrauensperson, die mir geblieben ist.
Ich habe immer gedacht - gehofft vielmehr -, dass meine Mutter die Kraft finden wird, meinen Vater zu verlassen, wenn seine Angriffe nicht mehr nur gegen sie gerichtet sind. Ich habe gedacht, die Liebe zu ihrer Tochter wäre größer als die Liebe zu ihrem gewalttätigen Ehemann. Aber ich habe mich geirrt. Sie wusste, dass ich nicht ewig vor ihrem Mann sicher wäre – und dennoch ist sie bei ihm geblieben. Sie hat das in Kauf genommen.
Das Gespräch mit meinem Bruder über Chiara hat mich abgelenkt, doch jetzt sickert diese Erkenntnis wieder zu mir durch. Schützend ziehe ich die Knie an meine Brust und umschlinge sie mit meinen Armen. Stumme Tränen bahnen sich einen Weg nach draußen und kullern vereinzelt meine Wangen hinab.
»Hey.« Fürsorglich lässt sich mein Bruder neben mich plumpsen und streicht mit einer Hand über meinen Rücken. »Schlaf erst mal 'ne Nacht drüber. Morgen sieht alles ganz anders aus. Ich bin mir sicher, sie hat nicht damit gerechnet, dass so etwas jemals passieren könnte. Das kann ich mir nicht vorstellen. Du weißt, wie unsere Mutter ist.«
Ich nicke, obwohl ich seinen Worten wenig Glauben schenke, und wische die Tränen mit meinem Handrücken weg.
»Ich schreibe ihr eine Nachricht, dass du bei mir schläfst. Sie macht sich wahrscheinlich schon Sorgen, wo du bist.«
Achselzuckend ziehe ich mein stummgeschaltetes Handy aus meiner Hosentasche. Tatsächlich hat sie ein paar Mal versucht, mich anzurufen und mir auch einige Nachrichten geschickt.
Meine plötzliche Wortkargheit scheint meinen Bruder etwas hilflos zu machen. Unsicher sitzt er neben mir und weiß nicht, was er noch sagen soll. »Spätestens morgen früh wirst du heim müssen. Oder hast du deine Schulsachen hier irgendwo versteckt?« Abwartend schaut er mich an, die Hände in den Schoß gelegt. Als ich nichts erwidere, erhebt er sich, sagt gute Nacht und geht zu seinem Zimmer. Im Türrahmen bleibt er nochmal kurz stehen und dreht sich zu mir, während er mit einem Finger nervös gegen den Rahmen tippt. »Jess, du hast Mum ... du hast ihr nichts erzählt, oder?«
Ich blicke auf. »Nein.«
»Gut, danke.« Mit den Worten verschwindet er im Schlafzimmer.
Ich will morgen früh nicht schon nach Hause müssen, aber René hat recht. Ich kann nicht einfach blau machen. Ich muss nur noch dieses und nächstes Schuljahr überstehen, dann kann ich studieren gehen oder irgendwo eine Ausbildung beginnen – Hauptsache weg von zu Hause.
Müde und erschöpft vom heutigen Tag streife ich mir die Jeans vom Leib, strecke mich auf der Couch aus, ziehe die Decke bis an Kinn und vergrabe mich darin, bis ich schließlich einschlafe.
☆☆☆
Am nächsten Morgen wache ich davon auf, dass René ins Zimmer gestürzt kommt und an meiner Schulter rüttelt.
»Jess, hast du dir einen Wecker gestellt? Wann stehst du normalerweise auf?«
Schlaftrunken kremple ich die Decke von meinem Gesicht, unter der ich mich nachts immer verkrieche, selbst wenn es tagsüber draußen 30 Grad im Schatten sind. »Wie viel Uhr ist es denn?«
»Viertel nach sieben. Ich muss in 30 Minuten los und du?«
Schlagartig bin ich hellwach und sitze senkrecht auf dem Sofa. »Scheibenkleister! In 15 Minuten fängt der Unterricht an.« Verdammt, normalerweise würde ich jetzt jeden Moment das Haus verlassen. Anscheinend habe ich vergessen, meinen Handywecker zu stellen. Hektisch angle ich nach der Jeans auf dem Boden und ziehe mein Handy aus der Tasche. Nur noch elf Prozent und tatsächlich 7:15 Uhr.
Seufzend lasse ich mich zurücksinken. Das ist kein gutes Omen für diesen Tag.
»Hey, los, hopp. Aufstehen! Ich will nicht, dass du noch später kommst als ohnehin schon.« Energisch zieht mir René die Decke vom Körper.
Erschrocken schreie ich auf. »René, gib sofort die Decke her.«
Perplex leistet er sofort Folge und dreht sich leicht beschämt weg, während ich meine nackten Beine wieder bedecke. »Sorry, ich hab vergessen, dass du ... also ich hab nicht dran gedacht...«, druckst er herum und bringt mich ungewollt zum Lachen.
Ja, wir hatten nie das innigste Geschwisterverhältnis zueinander und trotzdem ist und bleibt er mein Bruder. Das heißt nicht, dass er mich in Unterwäsche sehen muss, aber so zu genieren braucht er sich nun auch nicht.
»Schon gut, ist schließlich nicht so, als hättest du mich oder irgendein anderes Mädchen noch nie in Unterhose gesehen.«
Er nickt bloß und geht zur Küchenzeile, die im selben Raum steht, wodurch er mir den Rücken zuwendet. Ich wickle mir die Decke um den Körper, stehe auf, sammle meine Hose vom Boden und gehe ins Badezimmer. Da ich weder eine Zahnbürste noch Wechselklamotten bei meinem Bruder gebunkert habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als in meine Sachen von gestern zu schlüpfen und mir mit dem Zeigefinger und etwas Zahnpasta die Zähne zu putzen. Eine Haarbürste, vermutlich von Chiara, finde ich jedoch im Spiegelschrank über dem Waschbecken. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel zeigt mir, dass zum Glück keine Spuren von der Ohrfeige zurückgeblieben sind.
Da ich ohnehin zu spät kommen werde, mache ich mir keinen Stress. Das war auch schon Mums Devise. Wenn wir mal verschlafen haben, was in all den Jahren vielleicht drei Mal vorgekommen ist, haben wir uns im üblichen Tempo fertig gemacht. Pünktlich komme man auch durch Stressen nicht mehr, warum den Tag also gehetzt und schlecht gelaunt beginnen?
Nachdem ich mit meiner Katzenwäsche fertig bin, gehe ich wieder in die Wohnküche, lege die Decke auf die Couch, sage meinem Bruder, der mit einem Kaffee in den Händen am kleinen Zwei-Mann-Esstisch sitzt, Tschüss und mache mich auf den Weg nach Hause.
Der Gedanke, gleich auf Mum zu treffen, widerstrebt mir sehr. Andererseits ist jetzt vielleicht der ideale Moment meine Schulsachen zu holen, weil ich nicht viel Zeit habe, um mit ihr in einen Dialog verwickelt zu werden.
Tief einatmend drücke ich die Klingel neben der Tür, da ich meinen Schlüssel gestern bei meiner Flucht nicht mehr eingepackt habe, und warte. Nicht mal zwei Sekunden vergehen, schon reißt meine Mutter die Haustür auf, als hätte sie dahinter gelauert und nur darauf gewartet, dass ich klingle, und schaut mich aus geröteten Augen an. »Jess«, haucht sie völlig erschöpft und verzweifelt. »Es tut mir so ... « Doch ich ersticke ihre Entschuldigung im Keim.
»Ich hole nur schnell meine Schulsachen, dann bin ich wieder weg. Ich bin sowieso schon zu spät dran.« Meine Stimme könnte ein Stück Fleisch schockgefrieren, aber das ist mir egal. Ich bin noch nicht bereit dafür, mit meiner Mutter zu reden.
Da ich nicht sehen möchte, wie ihre Selbstbeherrschung in sich zusammenfällt, als wäre eine Betonwalze darüber hinweggerollt, drängle ich mich an ihr vorbei zur Treppe, die ich, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, erklimme. Oben in meinem Zimmer schnappe ich mir meinen Rucksack, stopfe die Schulsachen für heute hinein und eile wieder nach unten. Nur schnell raus hier. Meine Mutter hat sich fast nicht vom Fleck gerührt, Tränen laufen ihr wie Sturzbäche über die Wangen.
»Bitte, Jess«, flüstert sie, als ich an ihr vorbei will. Ihre Stimme ist so dünn wie die Eisschicht eines frisch zugefrorenen Sees, die schon beim Gewicht einer darauf fallenden Eichel wieder zerspringen würde.
Ihr Anblick bricht mir fast das Herz und ich spüre, wie ebenfalls die Tränen in mir hochsteigen. Einen Moment bleibe ich stehen und schaue sie an. Mit tränenerstickter Stimme flüstere ich: »Mum, ich kann jetzt nicht. Gib mir Zeit.«
Schmerzerfüllt presst sie die Lippen aufeinander, um ein Schluchzen zu unterdrücken. »Kommst du nach der Schule heim?«
Einen kurzen Augenblick zögere ich und bin geneigt, den Kopf zu schütteln, doch dann nicke ich. »Ja, komme ich.«
Als ich in der Schule ankomme, dauert die erste Stunde nur noch sieben Minuten, also beschließe ich, erst die zweite Stunde zu besuchen und setze mich im Foyer an einen der Tische, die für die Oberstufe gedacht sind, um in den Freistunden, die Vertretungsaufgaben zu erledigen – was natürlich nur die wenigsten tun.
Für ein paar Minuten genieße ich die Ruhe, ehe die Schulglocke klingeln wird, und versuche die Ereignisse des vergangenen Tages auszublenden. Stattdessen konzentriere ich mich auf den Gedanken, heute vielleicht mit André ins Gespräch zu kommen, wo es doch gestern nicht geklappt hat. Die Vorstellung zaubert mir ein winziges Lächeln ins Gesicht.
Kurz bevor es zur zweiten Stunde klingelt, hänge ich mir meine Tasche wieder über die Schulter und mache mich auf in Richtung Kursraum. Erschrocken fahre ich herum, als mir nach ein paar Metern plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippt.
»Hey.« Ein strahlendes Lächeln aus grauen Augen trifft mich. »'tschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Und tut mir auch leid, dass wir gestern kaum Zeit zum Reden hatten. Irgendwie kam immer was dazwischen.«
»Hey«, lächle ich zurück und bin unglaublich froh, André zu sehen. Mein kleiner Tagtraum ist schneller wahr geworden als erwartet. »Kein Ding. Kommt vor.«
»Hast du auch erst zur zweiten Stunde Unterricht?«
»Nein, ich hab verschlafen.«
Ein Zucken umspielt seine Mundwinkel und ich kann förmlich sehen, dass ihm ein Kommentar auf der Zunge liegt, aber er behält ihn für sich und wechselt rasch das Thema. »Ah okay. Was hast du jetzt?«
»Chemie. Organische Verbindungen. Kannst mir gerne einen Kopfschuss verpassen«, witzle ich und schultere meine Tasche neu, während ich meinen Daumen unter den Riemen stecke. »Und du?«
»Englisch.«
»Na dann verschlägt es uns wohl in dieselbe Richtung.«
Langsam drehe ich mich wieder zur Tür, die zum Flur führt, durch den man in den Altbau gelangt. André kommt neben mich, dichter als ich erwartet hatte, weshalb ich unbewusst und ohne es zu kontrollieren, einen winzigen Schritt zur Seite mache. Doch selbst den bemerkt er. »Tut mir leid. Ich weiß, du willst es langsam angehen. Bitte brems mich, wenn ich zu schnell bin. Ich richte mich da völlig nach dir.«
Eine Welle wohliger Wärme durchflutet meinen Körper. Ich habe so oft Rücksicht auf Domenik genommen und ihm zuliebe zurückgesteckt, dass es sich gut anfühlt, einmal diejenige zu sein, die das Tempo angibt.
»Danke.«
Die folgenden Stunden bis zur Pause überstehe ich erstaunlich gut. Das kurze Gespräch hat mich auf andere Gedanken gebracht, denen ich nachhänge, bis es zur Pause läutet. Vielleicht war der schlechte Morgen doch kein schlechtes Omen, sondern einfach ein schlechter Morgen – ohne große Bedeutung.
Wie falsch ich damit liege, erfahre ich, als ich den Kursraum verlasse, mich mit dem Schülerstrom Richtung Foyer treiben lasse und dann wieder einmal spüren muss, wie leicht es ist, mir den Boden unter den Füßen wegzureißen.
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