11 | Wie weit der Apfel rollt ...
2.037 Worte
Ich gewähre mir noch ein paar Sekunden, um den Augenblick zu genießen, dann hole ich in Gedanken tief Luft und rücke von ihm ab. »René, was ist mit Chiaras Auge passiert?«
Ich rechne schon damit, dass er jeden Moment dicht macht, aber er seufzt nur tief, während seine gesamte Körperhaltung in sich zusammensinkt und er seinen Blick irgendwo auf den beigefarbenen Teppich vor der Couch heftet. »René, diesmal werde ich nicht so einfach aufgeben wie letztens«, mache ich klar, lege jedoch meine Hand auf seinen rechten Unterarm, damit er merkt, dass ich ihn nicht verurteile, sondern nur eine Antwort haben möchte. Wenn ich schon meiner Mutter nicht helfen kann, dann möchte ich wenigstens versuchen Chiara und René zu helfen.
»Es war ein Unfall«, berichtet er fast flüsternd, seinen Blick noch immer nach unten gerichtet, während er mit seinen Zehen im Teppich pult. »Das habe ich – Ich wollte nicht – «, ringt er nach Worten und dann, ganz plötzlich, bricht er in Tränen aus. Dicke Tropfen rollen ihm die Wangen hinunter, während er sich mit der linken Hand an die Nasenwurzel fasst und einen großen Teil seines Gesichts verdeckt. Erschrocken über diese heftige, völlig unerwartete Reaktion starre ich meinen Bruder perplex an. Meinen großen, starken Bruder, bei dem ich immer Zuflucht suche, wenn es zu Hause drunter und drüber geht. Der wirkt, als könnte ihn nichts erschüttern. Der mich grummelig ermahnt, wenn ich mich falsch herum auf die Couch setze. Mein Bruder, dessen gesamte Selbstbeherrschung gerade einfach in sich zusammenstürzt.
Wie automatisiert, weil es sich einfach richtig anfühlt, rutsche ich an ihn heran und umarme ihn.
Nach Hilfe suchend schlingt René sofort seine Arme um mich und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab, während sein Körper von Schluchzern geschüttelt wird. Als wäre ich sein Rettungsring auf offener See umklammert er mich und lässt seinen Emotionen freien Lauf.
Ich fühle mich maßlos überfordert. René und ich sind keine Geschwister, die mit dem anderen über alles reden. Wir verstehen uns gut, aber jeder von uns hat seine Geheimnisse, die er für sich behält. Sein Innerstes so bloßgelegt zu sehen, erschreckt mich.
Ich erinnere mich nur an eine einzige Begebenheit, in der mein Bruder ähnlich hemmungslos geweint hat wie jetzt. Er war neun Jahre alt und war nach der Schule in den Garten gegangen, um nach seinem Kaninchen zu schauen, das ihm wirklich alles bedeutet hat, als er ein paar Sekunden später panisch schreiend wieder nach drinnen gelaufen kam. Semmel war nicht mehr da. Unsere Mutter ist mit ihm zusammen zum Stall. Die beiden mussten nicht nach dem Kaninchen suchen, die Blutspuren im Einstreu verrieten jedem, was passiert war.
Vermutlich hatte er am Vortag die Stalltür nicht richtig verschlossen und in der Nacht war der Marder gekommen und hat sein Kaninchen mitgenommen. Mein Bruder war am Boden zerstört. Wild nach Luft japsend hat er in den Armen meiner Mutter gehangen und sich kaum von ihr beruhigen lassen. Ich stand an der Terrassentür und erinnere mich noch, wie sie ihm gut zugesprochen, eine Hand auf seinen Hinterkopf gelegt und über seine braunen Haare gestrichen hat.
Genau das tue ich jetzt auch. Beruhigend streiche ich ihm mit meiner Hand über die dicken, weichen Haare. Nur passende Worte wollen mir keine einfallen.
Unter Schluchzen bringt er schließlich hervor: »Ich – Ich wollte das nicht. Es ist – Es ist einfach passiert.«
In mir zieht sich etwas zusammen. Einerseits weil ich unseren Vater damals, als wir noch viel jünger waren, genau die gleichen Worte zu Mum habe sagen hören, andererseits weil ich spüre, wie sehr ihn das belastet. Es tut ihm ehrlich und aufrichtig leid, aber er hat eine Grenze überschritten, die er niemals hätte überschreiten dürfen.
»Ich – Ich habe Angst, so zu werden wie – wie er«, redet er weiter und beruhigt sich etwas, lässt mich aber immer noch nicht los. Ich bin die Erste, der er sich nach all den Tagen endlich anvertrauen kann, weil ich ihn nicht verurteile.
Und plötzlich fallen mir doch die richtigen Worte ein, nämlich genau die, die mir durch den Kopf gegangen sind, als ich vor ein paar Minuten beschlossen habe, ihn zur Rede zu stellen. »Das wirst du nicht. Der Apfel fällt zwar nicht weit vom Stamm, aber du entscheidest, wie weit er wegrollt. Ja, er ist dein Vater und vielleicht hast du seinen Zorn geerbt, aber sie ist deine Mutter. Es steckt auch ein Teil von ihr in dir.« Zärtlich streiche ich weiterhin über seinen Schopf, doch die Worte kommen mit aller Bestimmtheit aus meinem Mund, dann schiebe ich ihn ein Stück von mir weg und fixiere seinen Blick mit meinem. »Ich bin überzeugt davon, dass mehr von unserer Mutter in dir steckt als von unserem Vater.«
Betreten zuckt mein Bruder mit den Schultern und wischt sich ein wenig grob die Tränen von den Wangen. Meine Worte überzeugen ihn noch nicht.
Ich lege den Kopf schief. »Erinnerst du dich an den Tag, an dem Mum und er so gestritten haben, dass ich es zum ersten Mal in meinem Leben mitbekommen habe?«
Wieder zuckt er mit den Schultern und bohrt seine Zehen in den Teppich, während er seinen Blick schweifen lässt. »Ich weiß nicht.«
Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe, denn ich weiß, dass das nicht stimmt. Er kann dieses einschneidende Ereignis unmöglich vergessen haben. »Ich war noch klein, erst drei oder vier Jahre alt, du warst acht oder neun, unsere Kinderzimmer lagen sich gegenüber«, probiere ich ihm auf die Sprünge zu helfen, was tatsächlich funktioniert. Er beginnt, das Ganze aus seiner Sicht zu erzählen.
»Und du hast irgendwas auf dem Fußboden gespielt.« Gepuzzelt, ergänze ich in Gedanken, ein Winnie Puh Puzzle. »Ich saß in meinem Zimmer am Schreibtisch und hab Hausaufgaben gemacht, mit offener Zimmertür, damit ich dich sehen konnte. Dann hat es unten plötzlich tierisch laut gescheppert und geschellt. Mein Kopf schoss sofort zu dir rum, während unten schon lautes Gebrüll und kurz darauf ein Klatschen ertönte. Dann hörte man Mum weinen. Du saßt erschrocken auf dem Boden und schautest mit schreckgeweiteten Augen durch die offene Tür in den Flur zur Treppe.«
Ich nicke, weil ich mich daran genauso gut erinnere wie er. Ich weiß noch, was für eine panische Angst mich durchflutet hat. »Ich wollte gerade aufstehen und runter zu Mama rennen, da bist du von deinem Stuhl aufgesprungen und zu mir ins Zimmer gestürzt, um mich daran zu hindern«, fahre ich fort. »Du wolltest nicht, dass ich sehe, wie unser Vater Mum hin und wieder behandelt. Stattdessen hast du mich beruhigend in deine Arme geschlossen und mir zugeflüstert ›Mach dir keinen Sorgen um Mum. Ihr ist ein Unfall passiert, wie dir das mal passiert ist, als du ein Glas kaputt gemacht hast. Dann hast du auch Ärger von ihr bekommen. Sie bekommt jetzt Ärger von Papa, aber er tut ihr nicht weh. Er ist nur laut.‹« Das war die fetteste Lüge, die mein Bruder mir jemals erzählt hat, aber ich bin ihm dankbar, dass er mir damals nicht die Wahrheit gesagt hat.
»Ich wollte dich und Mum nicht im Stich lassen, als ich ausgezogen bin«, wechselt René unvermittelt das Thema und überrascht mich mit seinen nächsten Worten. »Ich – Ich habe nur gemerkt, dass ich immer mehr wie er wurde. Plötzlich haben mich Kleinigkeiten innerlich fast zum Explodieren gebracht. Da hab ich Panik bekommen. Ich hatte Angst, dass ich es irgendwann nicht mehr verbergen und es dich oder Mum treffen könnte. Also bin ich geflohen. Mein schlechtes Gewissen hat mich umgebracht, weil ich doch eigentlich immer für euch da sein wollte, mir geschworen habe euch nie mit diesem Dreckskerl alleine zu lassen. Aber ich sagte mir, ich wäre euch keine Hilfe, wenn ich genauso werden würde. Und der Umzug hat wirklich geholfen. Ich spürte, wie ich wieder beherrschter wurde, als ich ein paar Wochen von zu Hause weg war. Das hat mich darin bestätigt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.«
Ich hatte keine Ahnung, dass mein Bruder so mit sich und seinen Gefühlen gekämpft hat. Als er Mum und mir offenbart hat, dass er ausziehen würde, habe ich ihn für einen riesigen Egoisten gehalten, der seinem jähzornigen Vater entkommen möchte und dabei Mutter und Schwester im Stich lässt. Ich hätte nicht gedacht, dass es ihn einiges an Überwindung gekostet hat, diese Entscheidung zu fällen und dass er anders gehandelt hätte, wenn er gekonnt hätte. »Das wusste ich nicht.«
»Ich weiß. Ich habe es dir ja auch nie gesagt, weil ich nicht wollte, dass du diese andere Seite siehst. Lieber war mir, du denkst, ich bin ein egoistischer Dreckskerl, der euch im Stich lässt, als dass du den wahren Grund erfährst.«
»Das habe ich nicht ... «, will ich einwenden, aber er lässt mich nicht.
»Glaub nicht, ich hätte nicht gespürt, wie sauer du auf mich warst. Deshalb bin ich hier in der Nähe eingezogen, in der Hoffnung es würde deine Wut schmälern.«
Ich nicke. Das wirft ein ganz anderes Licht auf meinen Bruder. Er hat sich all die Jahre so viele Gedanken um Mum und mich gemacht hat, während ich ihn im Stillen verurteilt habe. »Wie ist es dann zu dem Vorfall mit Chiara gekommen?«
Er zuckt die Schultern und kurzzeitig glitzern wieder Tränen in seinen dunklen Augen. »Es ist besser geworden, aber nie vollständig verschwunden. Wir haben uns gestritten. Ich hab die Kontrolle verloren. Jess, ich bin zu ihm geworden und hab Chiara zu Mum gemacht. Als du dann ihr blaues Auge entdeckt hast ... da hast du genau meinen wunden Punkt getroffen. Du hast gesehen, was du niemals sehen solltest. Du hast mir schonungslos vor Augen geführt, was ich getan habe, sodass ich mich nicht länger davor verstecken konnte. Dafür hasse ich mich selbst mehr, als du es jemals könntest.« Aufgewühlt stützt er die Ellenbogen auf die Knie und wippt mit dem rechten Bein auf und ab.
»Du bist mein Bruder, das warst du immer und wirst es immer sein. Ich könnte dich niemals hassen«, lächle ich ihn aufmunternd an und lege meinen Kopf auf seine Schulter, während er sich etwas anders hinsetzt, seinen Arm um mich legt und mich zu sich heranzieht. »Und ich bin mir sicher, dass das mit Chiara wieder gerade kommt. Wo ist sie jetzt?«
»Bei ihrer Mutter. Ich hab ihr bereits tausend SMS geschickt, aber sie antwortet nicht. Kein Wunder. Würde ich auch nicht. Wahrscheinlich rät ihr ihre Mutter gerade dazu, sich zu trennen.« Beim letzten Wort spannt er sich an und ich spüre, wie fertig ihn dieser Gedanke macht. Er liebt sie wirklich sehr.
»Wenn sie dich so sehr liebt wie du sie, glaube ich nicht, dass sie dich verlassen wird. Aber vielleicht wäre es gut, wenn du mehr tust, als sie anzurufen und mit Nachrichten zuzutexten. Ihr Vertrauen in dich ist tief erschüttert. Du hast etwas getan, wovon sie niemals geglaubt hätte, dass du dazu in der Lage wärst.«
Mein Bruder atmet zittrig aus. »Ich weiß.«
»Fast jedes Mädchen steht auf irgendwelche romantischen Gesten«, rede ich weiter. »Ich bin mir sicher, Chiara ist da keine Ausnahme. Wie wäre es also, wenn du zu ihr fährst, statt hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass sie sich meldet. Fahr zu ihr und gib ihr die Gründe, die sie braucht, um sich für dich zu entscheiden, denn ich bin sicher, nach genau denen sucht sie gerade.«
»Welche Gründe soll ich ihr denn bieten? Ich habe eine Grenze überschritten, die ich nicht hätte überschreiten dürfen. Wer garantiert ihr, wer garantiert mir, dass ich es nicht wieder tue?«, resigniert mein Bruder. »Ich habe Angst, dass ich es wieder tue«, haucht er verzweifelt und drückt mich dabei noch fester an sich.
»Hey.« Ich löse mich von ihm und suche mit meinen Augen seinen Blick. »Nur du kannst ihr diese Sicherheit geben und auch nur durch Taten.« Ich hole tief Luft, weil ich nicht weiß, wie mein Bruder auf diesen Vorschlag reagieren wird, aber es ist die einzige Möglichkeit Chiara zu zeigen, dass er es ernst meint. »Es gibt Wege, deine Unbeherrschtheit in den Griff zu bekommen.«
»Du meinst, ich soll eine Therapie machen?« René sieht mich mit einer Mischung aus Ablehnung und dem Wissen, dass ich recht habe, an. Unbehaglich rückt er von mir ab und stützt den Kopf in die Hände, ehe er aufsteht und mit dem Rücken zu mir vor dem Sofa stehen bleibt.
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