1 | Wie der Vater, so der Sohn

1.595 Worte

Seufzend lasse ich mich auf die weiche, graue Stoffcouch sinken, die mein Bruder in seiner Wohnung stehen hat, und drehe mich so, dass mein Kopf über die Kante hängt und meine Beine auf der Rückenlehne liegen.

Sofort werde ich zurechtgewiesen. »Jess, setz dich anständig hin. Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn deine Beine auf der Rückenlehne liegen.«

Es stimmt, er mag es absolut nicht, aber die Welt auf dem Kopf stehend zu betrachten, hilft mir auf andere Gedanken zu kommen, wenn zu Hause mal wieder alles drunter und drüber geht. So wie jetzt.

Doch weil ich meinen Bruder nicht reizen möchte, tue ich, was er sagt und setze mich anständig hin – Rücken an die Rückenlehne und Füße auf den Fußboden.

Ebenfalls seufzend lässt René sich neben mich sinken. In dem Moment geht die Badezimmertür auf und seine Freundin kommt heraus. Die beiden leben zusammen.

»Hi, Chiara«, begrüße ich sie.

Rasch lässt sie sich die dunklen Haare tiefer ins Gesicht fallen und vermeidet es, mich anzuschauen, während sie ein »Hey, Jess« murmelt. Ihr blaues linkes Auge habe ich dennoch gesehen.

Bevor ich jedoch die Chance habe, zu fragen, was sie gemacht hat, verschwindet sie im Schlafzimmer. Nichts Böses ahnend drehe ich mich zu René. »Was ist mit Chiaras Auge passiert?« Seine Antwort lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Das ist genau die Antwort, die unser Vater uns immer gegeben hat, wenn Mama ein Veilchen hatte, weil es das Einzige war, das sie nicht mit einem Langarmshirt oder einem Schal verdecken konnte.

Mit einer wegwerfenden Handbewegung entgegnet er: »Sie hat sich an der Schranktür über der Küchenzeile gestoßen. Die stand offen und sie ist direkt mit dem Auge dagegen gekommen.«

Trotz des Gefühls, dass sich mir der Magen umdreht, stehe ich vom Sofa auf und stelle mich vor meinen Bruder. Überraschend fest entgegne ich: »René, rede keinen Blödsinn. Du weißt, dass ich diese Antwort schon oft gehört habe. Und du weißt, dass ich solche blauen Flecken kenne. Die kommen garantiert nicht daher, weil sie sich am Schrank gestoßen hat. Bitte sag mir, dass das ein Ausrutscher war.« Ich will nicht glauben, dass mein Bruder sich in ein Abbild unseres Vaters verwandelt und er seine Freundin geschlagen hat. Das darf er einfach nicht getan haben. Doch seine folgende Reaktion kommt mir nur allzu bekannt vor und ruft in mir eine ihm gegenüber nie dagewesene Angst hervor.

Ruckartig steht er auf, während seine Miene sich verfinstert und seine Brauen ein tiefes V zwischen seinen Augen bilden. Er hat erschreckende Ähnlichkeit mit unserem Vater, wenn der aus seiner Haut fährt. »Willst du mir etwa unterstellen, dass ich meine Freundin schlage??«

Eingeschüchtert weiche ich zurück, jeder Muskel darauf vorbereitet die Wohnungstür hinter mir aufzureißen und wegzulaufen. Gleichzeitig versuche ich die wachsende Angst in mir mit den Worten zu ersticken, dass mein Bruder mir niemals wehtun würde. Das hat er noch nie und wird er auch nicht. Aber das da vor mir ist nicht mein Bruder.

Meine Andeutungen von gerade eben zurücknehmend antworte ich: »Nein. Nein! Ich – Ich dachte nur, du hast recht. So was würdest du niemals tun. Du – Ich – Ich muss jetzt gehen. Mama braucht mich jetzt ganz sicher.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, drehe ich mich um, öffne die Tür und verschwinde aus der Wohnung. Er hält mich nicht auf und folgt mir auch nicht. Nachdem ich das Treppenhaus nach unten gesprintet bin, bleibe ich stehen und hole tief Luft. Was ist hier gerade passiert? Gerade war René noch René und plötzlich erkenne ich ihn nicht mehr wieder.

Mein Bruder neigte zwar schon als Kind zu leichtem Jähzorn und wurde schneller mal laut, wenn ich mir eines seiner heiligen Spielzeugautos ohne zu fragen genommen hatte oder ihn beim Zocken nervte, aber noch nie, nie in meinem Leben habe ich befürchtet, dass ihm gleich die Hand ›ausrutschen‹ könnte. Unsere Auseinandersetzungen waren immer normale Bruder-Schwester-Streitereien.

Langsam setze ich mich wieder in Bewegung, öffne die Tür und trete an die frische Luft. Meinem Bruder habe ich zwar gesagt, dass ich zurück nach Hause gehen werde, aber ich bezweifle, dass meine Mutter mich jetzt schon sehen möchte.

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, wenn ich daran denke, dass sie jetzt wahrscheinlich wieder in einer Ecke der Küche sitzt und weinend die Scherben aufsammelt. Doch wenn mein Vater ihr gegenüber mal wieder gewalttätig wird, will sie, dass ich sofort das Haus verlasse und zu meinem Bruder gehe.

Anfänglich habe ich mich geweigert. Ich wollte sie auf keinen Fall mit ihm alleine lassen und habe auch versucht ihr zu helfen und ihn zu beruhigen, aber nachdem er mich beim letzten Mal gepackt und nach draußen auf den Flur gestoßen hat, hat sie mir keine Wahl mehr gelassen. Seitdem verschwinde ich zu meinem Bruder oder laufe eine Weile ziellos durch die Gegend, bis ich denke, dass genug Zeit vergangen ist und ich wieder nach Hause gehen kann.

Wenn wir in finanzieller Hinsicht nicht so verdammt abhängig von ihm wären, wären wir wahrscheinlich längst weg. Zumindest hoffe ich das. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auch dann weiterhin bei ihm bleiben würde.

Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal mitbekommen habe, dass mein Vater meine Mutter schlägt, aber ich weiß noch genau, wie sich mein rosarotes Bild von der perfekten Familie in Luft aufgelöst hat. Mein Bruder wusste definitiv schon länger davon. Es war also nicht das erste Mal, dass unser Vater unserer Mutter gegenüber gewalttätig geworden ist, aber René hat es geschafft, mich so lange wie möglich dagegen abzuschirmen.

Doch jetzt wird er genau wie unser Vater.

Ich begreife nur nicht, weshalb. Mein Bruder verachtet unseren Vater für das, was er unserer Mutter antut genauso sehr wie ich. Er kann manchmal etwas sehr laut und wütend sein, aber er hatte sich bisher immer unter Kontrolle und ist nie handgreiflich geworden. Er wollte immer vermeiden, wie unser Vater zu werden.

Überfordert höre ich auf ziellos durch die Gegend zu rennen und raufe mir die Haare. Ich brauche jetzt einen Ort, wo ich abschalten und auf andere Gedanken kommen kann. Den Ort, den ich immer aufsuche, wenn ich mich ablenken möchte, weil ich dort abtauchen und die Welt um mich herum vergessen kann.

☆☆☆

In der vor einem Jahr renovierten Bücherei angekommen suche ich mir ein ruhiges Fleckchen in einem gemütlichen blauen Sitzsack, die verteilt im hinteren Teil der weitläufigen Bibliothek in einer Lese-Lümmel-Ecke stehen, und widme mich einem Buch. Zumindest versuche ich das, denn meine Gedanken kreisen noch viel zu sehr um die vergangene Situation. Immer wieder muss ich Absätze von vorne lesen und weiß danach trotzdem nicht, worum es ging. In der nächsten halbe Stunde komme ich gerade einmal sieben Seiten des 450-seitigen Buches weiter.

Als ich es endlich schaffe, unter Aufwand all meiner Konzentration, eine gesamte Seite an einem Stück zu lesen und auch den Inhalt zu erfassen, werde ich unterbrochen

»Und kannst du dieses Buch empfehlen?« Ein rothaariger Junge – ungefähr in meinem Alter –, dessen Gesicht vollkommen mit Sommersprossen übersät ist, deutet auf den Einband des Buches, das ich zwischen meinen Händen halte.

Genervt, weil ich bisher dachte, dass die Bibliothek der einzige Ort ist, an dem man keine Gefahr läuft, aus dem Nichts angesprochen zu werden, entgegne ich: »Keine Ahnung, ich bin gerade mal auf Seite zehn.«

In der Hoffnung, dass er wieder geht und jemand anderen nach der Empfehlbarkeit dieses Buches fragt, hebe ich das Buch ein Stück höher vor mein Gesicht. Das sollte doch deutlich genug zeigen, wie wenig ich an einem Gespräch interessiert bin.

Aber leider ist das meinem Gegenüber egal oder er ist auf dem Gebiet nonverbaler Kommunikation so schlecht, dass er es nicht checkt. Aus welchem Grund auch immer er sich in den Sitzsack neben mir plumpsen lässt, ich weiß, dass ich das Lesen jetzt definitiv vergessen kann.

»Ich wusste, es war 'ne blöde Idee, dich so anzusprechen, aber ein Versuch war es wert.« Die Lippen des Jungen, der mich ein wenig an Ed Sheeran erinnert, verziehen sich zu einem kessen Grinsen und enthüllen eine Reihe weißer, nicht perfekt gerader Zähne.

»Sorry, aber denkst du nicht, dass die Bibliothek sowieso ein denkbar ungünstiger Ort ist, um jemanden anzuquatschen? Immerhin ist das ein Ruheort.« Das Buch mit einer Hand zuschnappen lassend schenke ich ihm einen meiner besten Ich-hab-keinen-Bock-auf-einen-Flirt-Blicke und mache Anstalten aufzustehen.

Spätestens jetzt sollte er doch schnallen, dass jeder Versuch zwecklos ist. Aber anscheinend glaubt er, dass er den Charme des echten Ed Sheeran hat und kein Mädchen ihm auf Dauer widerstehen kann, denn er erhebt sich ebenfalls aus dem Sitzsack, um mir zu folgen.

»Korrekt. Eben deswegen ist sie der perfekte Ort. Es ist ruhig und man hat die Möglichkeit sich ungestört zu unterhalten.«

Innerlich stöhne ich, dann drehe ich mich ruckartig zu ihm um, sodass er beinahe in mich reinläuft, und sage ihm ganz deutlich, warum ich nicht interessiert bin. Gleichzeitig schneide ich mit meinen Handflächen vor meinem Körper durch die Luft. »Hör zu, spar dir deine Mühe, denn ich habe kein Interesse, weil ich bereits vergeben bin.«

Das ist zwar gelogen, aber das weiß er ja nicht. Außerdem ist das die bessere Methode einen Kerl abzuwimmeln. Manche Jungs akzeptieren ja einfach kein Nein.

Und wenn man bedenkt, dass ich bis vor ein paar Monaten noch in festen Händen war, ist das nur halb gelogen. Doch seine nächste Antwort überrascht mich und lässt mein Herz auf Grundeis sinken.

»Nein, das ist gelogen. Du hast vor drei Monaten mit deinem Freund Schluss gemacht und dabei auch gleichzeitig die Freundschaft zu deiner besten Freundin beendet.«

Ich habe diesen Typen noch nie zuvor gesehen. Woher weiß er das?

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