KAPITEL EINS

Immer wenn es mir schwerfällt zu atmen, helfen genau zwei Dinge. Ich muss mich hinlegen und ich muss mindestens dreimal tief Luft holen. Da aber sogar ich zu groß bin, um mich auf dem Rücksitz richtig breitmachen zu können, und es viel zu stickig hier hinten ist, sind beide Dinge so ziemlich unmöglich. Mit zitternden Händen versuche ich die Autotür zu öffnen, doch sofort verschließt sie sich mit einem kurzen Klicken.

»Ich kriege hier drinnen keine Luft«, krächze ich und verziehe bei meiner Stimme gleich darauf das Gesicht. Ich höre mich genauso an, wie ich mich fühle.

Doch meine Mum denkt nicht einmal daran, mich aus dem Auto zu lassen, ohne mit mir gesprochen zu haben. Ihrer Meinung nach neige ich dazu, oft zu übertreiben ― genauso wie in diesem Moment. Dabei kriege ich wirklich kaum Luft.

Mein Dad sieht so aus, als wäre er ziemlich enttäuscht von mir. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«

Ich hebe ahnungslos die Schultern und schaue dann aus dem Fenster, weil ich natürlich genau weiß, was mir dabei durch den Kopf gegangen ist. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, sehe ich mir unser Haus und unseren Garten an. Ich bin seit Monaten nicht mehr hier gewesen. Irgendwie frage ich mich, was die Leute, die an dem Haus vorbeilaufen, denken.

Was merkwürdig ist, denn eigentlich interessiert es mich schon lange nicht mehr, wie irgendjemand über meine Familie denkt.

Das Haus ist riesig und eigentlich eine Villa, aber ich weigere mich, es so zu nennen, weil es sich zu protzig anhört. Es ist komplett weiß gestrichen ― so weiß, dass es sogar bei diesem trüben Wetter leuchtet. Die Fenster sind groß und klar, als wären sie erst heute Morgen geputzt worden. Dem Garten jedoch fehlt jegliches Leben, das Gras ist eher braun als grün und hier ist seit Jahren nichts mehr gepflanzt worden. Ich hasse es hier, auch wenn ich mich an Zeiten erinnere, als das Haus noch anders ausgesehen hat.

Aber damals war Lydia noch hier und hat sich wenigstens ein bisschen um dieses Anwesen gekümmert.

Sobald ich an sie denke, wird mir schlecht und die Luft im Auto fühlt sich erneut stickig an. Egal, wie eng es auf dem Rücksitz ist, ich versuche mich ― so gut es eben geht ― hinzulegen. Meine Brust hebt und senkt sich unregelmäßig, als ich zum Autodach starre. Meine Eltern sehen mir währenddessen lieber dabei zu, wie ich mehrmals tief ein- und ausatme, anstatt mich aus diesem Auto herauszulassen.

Als ich mich wieder hinsetze, geht es mir deutlich besser.

Meine Mum schüttelt bloß missbilligend mit dem Kopf. »Hättest du diese Show lieber auch auf der Beerdigung abgezogen, vielleicht wäre dein Benehmen dann besser gewesen.«

»Dad will nicht, dass ich es in der Öffentlichkeit mache.« Ich sehe ihn anklagend an, doch er sagt nichts dazu. Muss er auch gar nicht, weil ich genau weiß, warum er es nicht will. Die Leute sollen nicht wissen, dass das ab jetzt einzige Kind von ihm ebenfalls gestört ist.

Aber im Gegensatz zu meiner großen Schwester habe ich nicht vor, mein Leben zu beenden.

Es fängt schon wieder an, sobald ich an ihren Selbstmord denke. Jedoch spüre ich diesmal, wie zu dem Luftmangel auch noch Tränen hochkommen.

Meiner Meinung nach waren viel zu viele Menschen auf der Beerdigung anwesend. Die meisten davon kannten Lydia nicht einmal, aber sie arbeiten für meine Eltern, also waren sie gewissermaßen dazu gezwungen, zu kommen.

Auch die Presse hat mich und meine Familie nicht in Ruhe gelassen. Die Tatsache, dass Mum keine einzige Träne vergossen hat, verstört mich immer noch und war ein Grund dafür, dass ich es mit meiner Rede ein wenig übertrieben habe.

Nein, eigentlich habe ich weder übertrieben noch gelogen, obwohl Mum es schon die ganze Autofahrt lang behauptet.

»Wer eine Rubens ist, hat es nicht leicht.« Meine Stimme hat so stark gezittert, dass man mich wahrscheinlich kaum verstanden hat. »Ja, vor allem Lydia hatte es nicht leicht. Bereust du, dass du sie wegen der Firma immer unter Druck gesetzt hast, Dad? Findest du es okay, dass du ihr nie ihren Freiraum gegeben hast, Mum?« Ich habe so stark geweint, dass es mir in jedem anderen Moment peinlich gewesen wäre. »Ich kann nämlich verstehen, warum sie nicht mehr hier ist. Ich ―« Das war der Moment, in dem mich meine Eltern vom Podest gezogen haben.

Daraufhin habe ich noch stärker geweint. Vor der Presse und vor den ganzen Leuten, die ich hoffentlich nie wiedersehen werde.

Ich fange an, so stark an der Tür zu rütteln, dass meine Mum mich schließlich doch aus dem Auto lässt, weil sie wahrscheinlich Angst hat, dass ich es noch kaputtmache. Der Wagen ist definitiv neu und sieht teuer aus, aber ich habe keine Ahnung, was für ein Modell es ist. Um ehrlich zu sein, interessiert es mich auch wenig, was meine Eltern alles gekauft haben, als ich in Denver gewesen bin. Mit Sicherheit ist es nicht nur das Auto.

Es regnet nur noch leicht, als ich auf das Tor zulaufe. Ich ziehe kräftig daran, nur damit es sich im nächsten Moment mit einem Quietschen öffnen lässt und ich mit verschränkten Armen vor der Brust unseren riesigen Garten betreten kann. Mir ist eiskalt, als ich vor der Haustür auf meine Eltern warte, aber ich habe nicht die Kraft, mich deswegen zu beschweren.

Behutsam streiche ich das schwarze Kleid glatt, das Lydia so sehr an mir geliebt hat.

Nur ihretwegen habe ich es heute getragen.

Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Hier in der Kälte stehen zu müssen oder meine Zeit in dem Haus vor mir zu verbringen, das ich fast ein Jahr lang nicht betreten habe.

Vor drei Wochen habe ich von dem Selbstmord meiner Schwester erfahren. Zu diesem Zeitpunkt bin ich in Denver bei meiner Tante gewesen, die mit ganzem Namen Jillian Rubens heißt ― von mir aber nur Tante Jill genannt wird ― und die Schwester meiner Mum ist. Doch obwohl die beiden dieselbe DNA teilen, sind sie vom Charakter her völlig unterschiedlich. Tante Jill ist freundlich, liebenswert und fürsorglich, während Ophelia Rubens die Definitionen dieser Wörter scheinbar noch nicht herausfinden konnte.

An meinen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten zu denken, drückt meine Stimmung noch weiter nach unten, weil ich gerade nirgendwo lieber wäre als dort. Stattdessen bin ich in London, meinem alten Zuhause. Und obwohl ich hier aufgewachsen bin, fühlt sich das Wort Zuhause absolut falsch an.

Ich bin mir sicher, Lydia hat auch die Nase voll von dieser Familie und diesem Haus gehabt. Sonst wäre sie doch hier, oder? Sie hat sich in keiner Form von irgendjemandem verabschiedet, was für mich das Schlimmste an der ganzen Sache ist. Ich weiß nicht, ob ich nachts besser schlafen könnte, wenn ich wüsste, was sie dazu bewegt hat sich umzubringen, aber es würde mir vielleicht einige Schuldgefühle nehmen.

Tränen treten mir in die Augen, weshalb ich meine Hände zu Fäusten balle und mir so über die Augenlider reibe. Ich habe heute schon genug geweint. Andererseits kann ich es mir selbst auch nicht übelnehmen, dass ich bei jedem Gedanken an sie in Tränen ausbrechen muss. Es ist immerhin noch nicht lange her und die ersten drei Tage sind so schlimm gewesen, dass ich mich bei Tante Jill geweigert habe, das Haus zu verlassen.

Gestern musste ich dann von Denver zurückfliegen, da heute die Beerdigung stattgefunden hat. Meine Mum hat mich heute Morgen am Flughafen begrüßt, indem sie mir einfach mein Kleid in die Hand gedrückt hat. Ich sollte es anziehen, um nicht in einer Jogginghose und einem fleckigen T-Shirt bei der Beerdigung aufkreuzen zu müssen. Die ganze Fahrt über wurde dann kaum noch gesprochen, außer wenn es darum ging, wie ich mich bei der Beerdigung und meiner Rede zu verhalten habe.

Und dabei haben mich Mum und Dad monatelang nicht gesehen.

Ich streiche mir die langen Haare aus dem Gesicht, während ich an meine grauenhafte, aber wahre Rede denke. Ich war dabei so aufgebracht, dass von der ordentlichen Hochsteckfrisur, die ich mir geflochten habe, jetzt nicht mehr viel übrig ist.

Seufzend ziehe ich auch die letzten Haarklammern heraus und kämme mir mit den Fingern die Knoten aus den Haaren. Früher haben Lydia und ich beinahe dieselbe Haarfarbe gehabt. Schwarz. Jetzt jedoch sind meine Haare eher dunkelbraun und nicht einmal ansatzweise so lockig und glänzend wie ihre. Eher wellen sie sich an allen möglichen Stellen, sodass man sie weder als glatt noch als lockig bezeichnen kann. Plötzlich frage ich mich, wann das passiert ist, und gerate in Panik. Nicht weil ich eitel bin, sondern weil meine Haare noch dunkler waren, als meine Schwester und ich uns das letzte Mal gesehen haben.

Das ist jetzt elf Monate her.

In den Monaten, in denen ich weg gewesen bin, hat sie mich nicht besuchen können. Oder ist es bloß eine Ausrede gewesen, als sie sich jedes Mal dafür am Telefon entschuldigt hat? Mir wird schlecht.

Die Schuldgefühle bahnen sich zum hundertsten Mal an diesem Tag einen Weg nach oben und ich habe Mühe, richtig atmen zu können.

Seit Lydia tot ist, habe ich das Gefühl, mein Leben wäre auf Pause gedrückt worden. Der Schmerz hört nicht auf, egal, wie sehr ich versuche, an andere Dinge zu denken. Es kommt mir sogar so vor, als würde es immer schlimmer werden.

Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass meine Eltern bereits dabei sind, die Haustür aufzuschließen, weshalb ich ihnen jetzt mit wackeligen Beinen nachkomme. Meinen Koffer haben sie nicht mitgenommen ― das wird wahrscheinlich einer unserer Dienstboten tun müssen. Weil ich damit aber überhaupt nicht einverstanden bin und ich zwei Arme und Beine besitze, nehme ich mir vor, später selbst mein Gepäck zu holen.

Während mein Dad seinen Mantel auszieht, starrt er mich mit diesem Blick an, den ich auch noch nach all den Monaten deuten kann. Es wird gleich richtig Ärger geben, und ich habe das Gefühl, dass es hierbei nicht nur um die Beerdigungsrede geht.

Sofort drehe ich mich um und gehe schnurstracks auf mein Zimmer zu. Ich versuche zu ignorieren, dass so gut wie alles in diesem Haus anders aussieht, weil ich mich sonst nur wieder aufregen würde. Ist das ein neuer Fernseher? Er wirkt irgendwie größer. Und ist das Sofa schon immer beige gewesen? Ich erinnere mich gar nicht mehr daran und schüttle nur augenverdrehend den Kopf, als ich weiterlaufe.

Vor meiner Zimmertür bleibe ich stehen und bin drauf und dran zu klopfen, weil Lydia viel Zeit in meinem Zimmer verbracht hat. Dabei war ihr eigenes zweimal so groß und weitaus schöner eingerichtet.

Ich halte die Luft an, als ich langsam die Tür aufmache und mein Zimmer betrete. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber ganz sicher war es nicht das hier. Es ist aufgeräumt und ordentlich, was ich sicher den Reinigungskräften zu verdanken habe, denn ich bezweifle, dass Mum und Dad einen Schritt durch diese Tür gewagt haben.

Leise schließe ich die Tür hinter mir und Enttäuschung breitet sich in mir aus, weil es hier so leer ist.

Mit zitternden Händen mache ich mich daran, alle Schränke zu durchsuchen. Ich finde nichts, das Lydia vielleicht für mich hinterlassen haben könnte. Kein Abschiedsbrief, kein selbst gezeichnetes Bild von ihr, rein gar nichts.

Etwas Schweres drückt sich auf meine Brust, als ich mich auf das Bett fallen lasse. Ich habe mich noch nie einsamer gefühlt als in diesem Moment.

Schritte nähern sich plötzlich meiner Tür, aber ich rühre mich nicht vom Fleck, als Dad hereinkommt.

Mit meiner Handtasche.

Wenn diese tiefe Falte nicht auf seiner Stirn wäre, die mir zeigt, wie wütend er ist, dann würde ich vielleicht bei dem Anblick lachen müssen. Mit der knallpinken Tasche über der Schulter sieht er nämlich nicht aus wie der seriöse Geschäftsmann, der er sonst immer ist.

»Willst du mir vielleicht irgendetwas sagen?«, fragt er, wobei er sich sichtlich bemüht Ruhe zu bewahren.

»Tut mir leid, dass ich mich vorhin so benommen habe?« Es klingt eher wie eine Frage anstatt einer Aussage.

»Das meinte ich nicht, aber ich nehme deine Entschuldigung trotzdem an.«

»Und was soll ich dann deiner Meinung nach sagen?« Ich werde mit jeder Sekunde, die vergeht, ungeduldiger, während seine Stirnfalten immer tiefer werden.

Wortlos hält er mir meine Handtasche hin, die ich vorsichtig öffne. Ehrlich gesagt finde ich die Tasche furchtbar, obwohl sie mir noch vor ein paar Wochen gefallen hat. Jetzt fühlt es sich falsch an, sie in der Hand zu halten. Diese Farbe entspricht eben einfach nicht mehr meiner Laune.

Ich krame so lange darin herum, bis mir eine kleine durchsichtige Tüte ins Auge fällt und da weiß ich, dass ich so was von tot bin. Für einen Moment halte ich inne und schließe die Augen. Dann sehe ich mir das Tütchen genauer an und unterdrücke ein Fluchen, weil das hier ganz sicher nicht mir gehört, sondern Brianna Martin, meiner besten Freundin aus Denver. Bree ist während meiner Zeit bei Tante Jill auch die einzige Freundin gewesen, die ich dort hatte. Wie ist das in meiner Tasche gelandet, und was für Drogen sind das überhaupt? Bree ist nicht abhängig von dem Zeug, aber ich erinnere mich an ein paar Partys, bei denen sie es etwas übertrieben hat.

»Das gehört nicht mir«, sage ich und sehe ihn so ehrlich an, wie ich nur kann. »Ich weiß nicht einmal, was das genau ist und ich habe im Leben noch nie daran gedacht, so etwas zu nehmen.«

Er glaubt mir nicht, das sehe ich ihm an.

Ich hätte das Tütchen am liebsten quer durch das Zimmer geschleudert, weil ich plötzlich so wütend werde. »Es gehört Bree, Dad. Keine Ahnung, wie es in meine Tasche gekommen ist, aber es ist nicht meins.«

»Evelyn«, sagt er seufzend.

»Wie oft soll ich heute noch sagen, dass ihr mich Quinn nennen sollt?«

Er ignoriert mich. »Deine Mum weiß nichts hiervon, aber wenn du mit mir nicht darüber redest, werde ich mit ihr deswegen sprechen müssen. Es ist ganz normal, dass du um Lydia trauerst, aber das hier ist der falsche Weg und das weißt du eigentlich auch.«

Ungläubig sehe ich ihn an. Er glaubt mir nicht? Gut, ich kaufe ihm den Teil mit Mum auch nicht ab. Er würde ihr so oder so davon erzählen, egal was ich jetzt sage.

Meine Eltern denken, seit ich heute Morgen angekommen bin, dass ich kurz davor bin, zusammenzubrechen. Ich kann es ihnen nicht verübeln, denn ich benehme mich ganz anders als bei unserer letzten Begegnung vor ein paar Monaten. Aber was erwarten sie auch? Dass ich mich freuen würde, wieder hier sein zu müssen? Ohne Lydia? Sie sind verrückt, wenn sie wirklich gedacht haben, ich würde ihnen ab jetzt alles erleichtern.

»Evelyn?«

Ich sehe auf und verkneife mir, meine Mum zu verbessern, indem ich sage, dass sie aufhören sollen, mich so zu nennen. Mit dem Namen Evelyn wurde ich angesprochen, bevor Lydia gestorben ist und damit meine Welt aus den Fugen gerissen hat. Außerdem hat meine Schwester mich auch immer Quinn genannt, obwohl es bloß mein Zweitname ist.

Sie fand, dass er einfach besser zu mir gepasst hat.

»Was ist hier los?« Meine Mum erscheint im Türrahmen und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Sie steht irgendwie da, als hätte sie einen Stock verschluckt, und ich frage mich, wie sie das macht. Nicht einmal am Tag der Beerdigung kann sie ein bisschen Schwäche zeigen, stattdessen wirkt sie noch beherrschter als sonst.

»Dad unterstellt mir, Drogen zu nehmen«, antworte ich ganz direkt und schüttle dabei den Kopf. Kurz erschreckt es mich, wie wenig es mich interessiert, dass jetzt auch meine Mum Bescheid weiß. »Er hat sie in meiner Tasche gefunden, wobei ich mich frage, wieso er in meinen Sachen herumwühlt. Jedenfalls gehören sie nicht mir, sondern Bree.«

Meine Eltern werfen sich ein paar Blicke zu, die ich nicht so ganz deuten kann. Können sie es überhaupt selbst? Es sieht aus, als würden sie auf irgendeine Art und Weise telepathisch miteinander kommunizieren.

Schließlich atmet Mum tief durch und sieht mich an. Sie hat noch immer keinen Schritt durch diese Tür gemacht.

»Wir möchten wirklich, dass hier bald wieder Ordnung herrscht, und ich weiß, dass wir das auch ohne deine Schwester schaffen werden.«

Kann sie nicht einfach Lydia sagen? Ich habe sie heute noch kein einziges Mal ihren Namen aussprechen hören.

»Was heißt das?«, frage ich verwirrt. Warum bleibt sie trotz der Drogen-Sache so ruhig? Sie macht nämlich den Eindruck, als würde sie immer noch denken, diese kleine Tüte gehört mir. Ist ihr nicht klar, dass ich damit ihre ›Ruhe‹ und ›Ordnung‹ offiziell ruiniert habe?

Mum räuspert sich kurz. »Ich möchte dich zum Beispiel nie wieder so schlecht wie auf der Beerdigung über diese Familie reden hören. Und diese Tüte will ich auch nicht mehr sehen.« Sie zeigt auf die Packung in meiner Hand, die ich daraufhin wieder in der pinken Tasche verschwinden lasse.

»Okay«, sage ich. »Dann werde ich eben all unsere Familiengeheimnisse wie immer für mich behalten.« Es ist nicht wirklich schlau von mir, meine Eltern so zu provozieren, aber ich kann mich einfach nicht bremsen.

»Wie habt ihr Lydias Tod eigentlich vertuscht? Von Selbstmord ist heute nämlich nicht die Rede gewesen, deshalb nehme ich an, ihr habt die Presse angelogen. Also, was habt ihr stattdessen gesagt?«

Mum antwortet nicht.

»Wir haben die klassische Todesursache genommen«, sagt mein Dad. Er klingt dabei so beiläufig, als würde er über das Wetter sprechen. »Lydia hatte einen tragischen Autounfall.«

Ich zittere vor Wut. »Wieso? Was bringt euch das? Ihr solltet allein aus Respekt zu Lydia die Wahrheit sagen, anstatt Lügen zu verbreiten.«

Mum geht überhaupt nicht darauf ein, was ich sage. »Du wirst wieder hier wohnen, ob du willst oder nicht. Ich habe mit deiner Tante geredet und sie ist einverstanden damit.«

Weil Tante Jill wohl eher kein Mitspracherecht hat. Wenn Mum etwas will, dann bekommt sie es auch ― meistens ist dabei Geld im Spiel.

»Wie viel hast du ihr gegeben?«, frage ich also.

Mum geht nicht auf die Frage ein. Natürlich nicht. »Ich meine es ernst«, sagt sie mit Nachdruck. »Du wirst dich hier wieder eingewöhnen müssen, ob du willst oder nicht. Das hier ist nun mal dein Zuhause und wir sind deine Familie.«

Jetzt meldet sich Dad wieder zu Wort. »Deshalb wollen wir auch, dass du wieder zur Schule gehst.«

Ich sage nichts, obwohl mir eine Menge einfällt, was ich ihnen an den Kopf werfen will.

Nach fast einem Jahr wieder auf die Woldingham School gehen zu müssen, ist ja wohl jetzt die Krönung von alldem.

Ich bin mir sicher, dass mich auf dieser schnöseligen Privatschule niemand mit offenen Armen empfangen wird, wenn man bedenkt, dass ich während meiner Schulzeit dort nicht wirklich die Netteste zu jedem gewesen bin. Meine besten Freunde haben den Kontakt zu mir bereits nach ein paar Monaten abgebrochen und ich weiß bis jetzt nicht, warum. Cassie und Noah haben von einem Tag auf den anderen weder auf meine Nachrichten noch auf meine Anrufe geantwortet, also denke ich nicht, dass sie persönlich mit mir reden werden.

Kopfschüttelnd halte ich inne. Ich sollte wirklich anderes im Kopf haben als meinen ersten Schultag, denn egal wie allein ich dort sein werde, hier in diesem Haus bin ich deutlich einsamer.

»Mehr musst du gar nicht machen.« Mum sagt es so, als wäre ich nicht imstande, mich an diese einfachen Dinge halten zu können. »Schließlich haben wir dir lange genug erlaubt, bei deiner Tante zu bleiben. Das hat den Umständen entsprechend jetzt ein Ende.«

Meine Eltern haben mich nur gehen lassen, weil ich sie gewissermaßen dazu gezwungen habe. Ich bin sehr manipulativ vorgegangen, weil ich anders meinen Willen nicht bekommen hätte, und ich es hier keine Sekunde länger ausgehalten habe.

Ich will Mum wirklich so vieles fragen. Ob sie mich auch nur ein bisschen vermisst hat, oder was ich alles verpasst habe, als ich nicht hier gewesen bin. Ob sie Lydias Tod genauso traurig macht wie mich, weil ich ihr kaum etwas davon ansehe. Ich will von ihr in den Arm genommen werden und ihr alles von meiner Zeit mit Bree und Tante Jill erzählen. Sie soll mir dabei wie früher beruhigend über die Haare streichen und mir sagen, dass irgendwann wieder alles gut werden wird.

Aber stattdessen schlucke ich all diese Worte und Gefühle einfach hinunter und sage gar nichts.

»Warte«, rufe ich dann doch, als meine Eltern die Tür hinter sich zu machen wollen. »Gibt es ganz sicher keinen Abschiedsbrief von Lydia? Oder irgendetwas anderes, das sie mir hinterlassen hat?«

Meine Mum schüttelt den Kopf und zum ersten Mal an diesem Tag meine ich, Trauer in ihren Augen erkennen zu können. »Nein, sie hat sich nicht verabschiedet.«

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