KAPITEL DREI

Französisch ist langweilig wie eh und je. Auch die Stunden danach sind nicht unterhaltsamer. Niemand redet mit mir oder bemerkt mich richtig, was mir nur recht ist. In Geschichte kritzle ich irgendetwas in meinen Block, was mich daran erinnert, dass ich mich später noch im Zeichenkurs einschreiben will.

Lydia meint immer, in Mrs Ortegas Kurs hätte sie alles gelernt, was sie später für ihr Kunststudium gebraucht hat. Meine Schwester war so unglaublich, dass immer noch einige ihrer Bilder in der Schule hängen, dabei hat sie schon vor zwei Jahren ihren Abschluss gemacht.

Ich bin oft eifersüchtig gewesen, wenn sie gezeichnet hat, weil ich mir neben ihr immer viel schlechter vorkam, als ich eigentlich war. Jetzt fehlt mir diese kreative Seite an ihr. Immer wenn sie eine Idee für ein neues Bild gehabt hat, ist ihr Blick richtig aufgeregt und wild geworden. Sie musste jedes Mal sofort einen Stift in der Hand haben, um zu malen, weil sie sonst höchstwahrscheinlich durchgedreht wäre.

Ihretwegen trage ich mich in der Mittagspause im Zeichenkurs und im Schwimmteam ein. Dann aber erinnere ich mich, dass Kaden dort auch ist, also streiche ich meinen Namen sofort wieder durch.

Jetzt stehe ich vor Lydias Zeichnungen, wobei meine Augen feucht werden. Ich versuche, mich so gut wie möglich zusammenzureißen und mich nicht in irgendeine Ecke mit dem Kopf zwischen den Knien zu verkriechen und das Weinen anzufangen, aber es fällt mir zunehmend schwerer.

Meiner Meinung nach ist ihr bestes Werk das Bild mit den zwei Mädchen gewesen. Sie sitzen Rücken an Rücken auf dem Boden, das eine Mädchen lächelt, das andere weint. Die Farben hat sie auf der einen Seite düster gewählt und auf der anderen hell und sofort frage ich mich, ob sie uns beide gemalt hat. Ist sie das unglückliche Mädchen auf der dunkleren Seite gewesen?

»Evelyn Rubens«, sagt auf einmal jemand hinter mir. »Da tauchst du hier einfach wieder auf und sagst mir kein Wort.«

Ich drehe mich um und ziehe die Augenbrauen nach oben, als ich Cassie vor mir stehen sehe. Sie hat mit einem Lächeln die Arme vor der Brust verschränkt, aber es erreicht nicht wirklich ihre Augen.

Trotzdem setze ich einfach genau das gleiche Lächeln wie sie auf und zucke dann mit den Schultern. »Du magst doch Überraschungen. Ich bin seit ungefähr einer Woche wieder in London.«

Sie zieht einen Schmollmund und ich bin mir sicher, dass sie die einzige Person auf dieser Welt ist, an der das gut aussieht. »Du hättest trotzdem Bescheid sagen können.«

»Nachdem du und Noah mich ignoriert habt?«, frage ich und drehe mich wieder zu dem Bild um, in der Hoffnung, dass sie dann zu Noah und den anderen geht und mich in Ruhe lässt. Seltsam, den ganzen Morgen habe ich mir gewünscht, dass irgendwer mit mir redet und jetzt, wo sie es tut, will ich wieder möglichst schnell alleine sein. Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist.

»Wieso schaust du dir das an?«, fragt sie. Ihrem Verhalten nach zu urteilen weiß sie nichts über Lydias Selbstmord, aber ich will es ihr auch nicht erzählen. Erstens geht es sie nichts mehr an und zweitens würde es jeder wissen, sobald sie Bescheid weiß. Cassie konnte Geheimnisse noch nie für sich behalten, und das hat sich mit ziemlicher Sicherheit nicht geändert.

Es ist eigentlich sowieso bloß eine Frage der Zeit, bis sie es über die Schlagzeilen erfährt. Da Cassie aber weder die Londoner Zeitung liest, noch sonst irgendwie an den aktuellen Nachrichten interessiert ist, hoffe ich einfach, dass sie es auch nicht herausfinden wird.

Sie seufzt plötzlich dramatisch auf. »Wieso isst du nicht mit uns zu Mittag? Dann kannst du uns alles erzählen. Ich weiß nicht, ob du mir glaubst, aber ich habe dich wirklich vermisst, Evelyn.«

»Nenn mich bitte Quinn«, sage ich und bete, dass sie es auch macht. »Und danke, aber nein danke. Ich habe keinen Hunger.«

Mir ist wirklich der Appetit vergangen und ich kann mir Besseres vorstellen, als in einer Cafeteria mit vielen lauten Menschen, die alle jemanden zum Reden haben, zu essen.

Jetzt lacht sie plötzlich. »Okay, wie du meinst.«

Verwirrt drehe ich mich zu ihr um und schiebe mir dabei die dunklen, gewellten Haare hinter die Ohren. »Warum lachst du?«

»Ich hätte nur gedacht, du würdest das hier genießen«, entgegnet sie lächelnd. »Die vielen Menschen, die Aufmerksamkeit ... jedenfalls mochtest du es früher. Und du hättest niemals abgelehnt, mit uns zu essen.« Sie sieht an mir herunter. »Bist du auf einer Diät oder so? Du hast echt abgenommen.«

»Nein, bin ich nicht. Ich will einfach nicht in die Cafeteria gehen. Außerdem sind wir keine Freunde, Cassie.« Ich sage es weder wütend noch verletzt, es ist einfach die Wahrheit. Und ich bin froh darüber.

Cassie sieht trotzdem traurig aus, jedoch nicht überrascht. »Ja, ich dachte mir, dass unser erstes Gespräch so aussehen würde. Können wir vielleicht darüber reden?«

»Warum?«

»Weil ich dir eine Menge zu sagen habe.«

Ich will nicht mit ihr sprechen, gleichzeitig interessiert es mich aber natürlich, was der wahre Grund für unseren Kontaktabbruch gewesen ist. Besser ich bringe dieses Gespräch gleich hinter uns, anstatt es ewig vor mir hinzuschieben.

»Okay, du hast genau zehn Minuten, Cassie.«

Sie nickt erleichtert. »Gut. Aber zuerst muss ich dir etwas beichten.«

»Ich weiß von dir und Noah«, werfe ich ein, bevor sie weiterreden kann. »Ich habe euch heute Morgen vor der Schule gesehen und konnte eins und eins zusammenzählen, als ihr so eng nebeneinanderstandet.«

Und euch die Zunge in den Hals geschoben habt, will ich hinzufügen, aber ich lasse es lieber.

»Ach so. Bist du deshalb wütend auf uns?«, fragt sie.

»Nein, Cassie, ich bin wütend, weil ihr euch monatelang nicht gemeldet habt.« Und weil es immer noch weniger weh tut, wütend zu sein, als traurig zu sein.

Cassie spielt nervös mit ihrem blonden Haar und weiß scheinbar nicht, was sie sagen soll. »Es war nicht meine Idee, Quinn. Kurz nachdem Noah und ich zusammengekommen sind, wollte er sich nicht mehr bei dir melden und der Grund klang für mich ziemlich plausibel.«

»Was denn für ein Grund?«, hake ich verwirrt und ungeduldig nach.

Sie sagt nichts, was wohl bedeutet, dass sie mir den Grund nicht nennen will. Oder darf.

Plötzlich tritt Macey neben Cassie und legt freundschaftlich einen Arm um sie. Dann sieht Macey mich an und ihre Miene verdüstert sich so schnell, dass ich es kaum mitbekomme. »Evelyn ... Rubens.«

»Macey ... Robinson«, entgegne ich in genau demselben drohenden Ton.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich wieder nach London trauen würdest.« Macey verzieht die Lippen zu einem fiesen Lächeln. »Immerhin ging es dir damals mit dem ganzen Luxus und Geld deiner Eltern doch so unglaublich schlecht. Da ist es natürlich verständlich, wenn man für ein Jahr einfach verschwinden will.«

Cassie sieht ihre Freundin mahnend an.

Doch Macey beachtet sie nicht und rümpft stattdessen die Nase. »Nur damit du es weißt: Ich freue mich wirklich nicht über deine Anwesenheit, Evelyn.«

»Da bist du nicht die Einzige«, murmle ich so leise, dass nur ich es verstehe, und muss sofort wieder an Kaden denken.

Macey schnaubt. »Was ist? Hast du deine große Klappe in Denver vergessen?«

»Nein.« Ich unterdrücke ein Augenverdrehen. »Du bist achtzehn, Macey, also hör auf dich wie eine unfreundliche, alte Oma zu benehmen.«

»Ich würde an deiner Stelle aufpassen, was du sagst. Ich weiß nämlich ganz genau, warum du wieder hier bist.«

Ich habe vergessen, wie sehr ich Macey eigentlich verabscheue. »Tust du das?«, gebe ich gespielt desinteressiert zurück.

Innerlich bin ich wachsam. Weiß sie von Lydia?

Wenn ja, dann habe ich wirklich keine Lust dabei zu sein, wenn sie Cassie davon erzählt. Als ich mich umdrehe und weggehe, höre ich Macey jedoch noch laut meinen Namen rufen.

Ich wirble herum und hebe fragend die Augenbrauen.

Macey grinst mich triumphierend an. »Sag doch deiner Schwester Hallo von mir.«

Perplex starre ich sie für zwei, drei Sekunden an, dann kann ich meinen Weg erst fortsetzen. Zunächst laufe ich in normalem Tempo, doch irgendwann laufe ich schneller, bis ich ganz außer Atem durch die Korridore der Schule renne.

An einer Ecke bleibe ich stehen, weil mir eine Glasvitrine ins Auge fällt, auf der ein Bild von Lydia zu sehen ist. Sie trägt einen Preis in der Hand, den sie im Zeichenkurs gewonnen hat und lächelt breit und glücklich in die Kamera.

Die ersten Tränen bahnen sich einen Weg aus meinen Augenwinkeln heraus. Denn jetzt bleibt nur noch die Frage, wie viele bald davon Wind bekommen werden, wenn Macey sich dazu entschließt, es nicht für sich zu behalten.

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