Philip
Philip
"Das darf ich nicht verraten, sonst wird das Ding, das aussieht wie Mami böse."
Misstrauisch beäuge ich meinen kleinen Bruder. Kleine Kinder sind mir schon immer unheimlich. Und Philip ist viel zu schlau für sein Alter. Er behauptet immer, dass seine andere Mami groß gewesen ist, mit schwarzen Haaren und braunen Augen. Unsere Mutter ist klein, mollig, mit roten Haaren und blauen Augen und hat das gütigste Lächeln, das ich kenne. Sie nennt uns Sonnenschein und jeden Abend kuschelt sie mit uns. Ich liebe meine Mutter, auch wenn sie mir vor meinen Freunden peinlich ist. Aber welche Mutter ist das nicht?
Philip ist süß mit seinen strahlend blauen Kleinkind-Augen und den dunkelbraunen Locken, die er von unserem Vater geerbt hat, doch er ist das ernsteste Kind, das ich kenne. Meine beste Freundin Lisa hat auch einen kleinen Bruder. Er ist jünger als Philip und schreit immer, weil er Hunger hat oder seine Windeln voll sind. Philip hat nie geweint. Er hat geschrien, aber nicht geweint. Er hat immer nur sehr ernst geschaut und leise Happ-Happ-Geräusche gemacht, wollte er etwas essen oder geschrien, wenn seine Windeln voll waren. Deswegen fand ich ihn immer unheimlich. Auch die Krankenschwester war bei der Geburt etwas verunsichert über so ein ruhiges Kind.
Sein erstes Wort hat Philip gesagt, als er elf Monate alt war. Es war das übliche Wort, Mama, und meine Eltern sind fast weggetickt. Ich glaube, mir ist es als einziges aufgefallen, aber als er es sagte, hat er unsere Mutter nicht einmal angeschaut. Im ersten Jahr hat er im Schlafzimmer unserer Eltern geschlafen, danach wurde sein Gitterbett bei mir ins Zimmer gestellt.
Zuerst hat es mir nichts ausgemacht, denn obwohl Philip unheimlich ist, ist er noch immer mein kleiner Bruder. Aber er spricht immer wenn es dunkel wird. Nicht mit mir, er spricht vor sich hin. Ein ganzes Gespräch und er sprach mit seinen 15 Monaten schon so klar, dass sich mir die Haare zu Berge gestellt haben. Am nächsten Morgen, nachdem unsere Mutter Philip in den Kindergarten gebracht hatte, habe ich sein Gespräch aufgeschrieben, um es nicht zu vergessen und seitdem kann ich es aus dem Gedächtnis zitieren.
"Mami, warum bin ich bei einer anderen Familie? ... Aber du hast mich doch noch lieb, Mami, oder? ... Aber ich will nicht schlafen, ich bin noch nicht müde! ... Mami, ich vermisse dich. ... Versprichst du mir, bei mir zu bleiben? ... Aber ich werde dich nicht vergessen! ... Dann werde ich eben nicht älter! ... Nein, ich werde für immer zwei bleiben, wenn das bedeutet, dass ich bei dir sein kann! ... Ich hab dich auch lieb, Mami. ... Gute Nacht."
Und jetzt will er mir nicht erzählen, warum er Ronja Räubertochter nicht mag.
"Aber Mami ist doch gar nicht da!"
"Doch, sie sitzt da hinten in der Ecke und hört jedes Wort", erklärt mir Philip mit seinem ernsten, runden Gesicht. Erschrocken fahre ich herum.
"Philip, da ist nichts!" Panik schleicht sich in meine Stimme.
"Doch! Sie schaut mich liebevoll an. Dich mag sie nicht so gerne, aber ich habe ihr schon öfter erklärt, dass sie dir nichts tun darf." Noch immer ist er ernst.
"Philip, zur Hölle! Hör auf damit! Mami ist nicht hier!"
Bedächtig lauscht Philip. "Mami sagt, du sollst nicht in meiner Gegenwart schimpfen. Sie mag dich nicht." Dann schaut er mir über die Schulter und wieder drehe ich mich um. Die Panik fließt kalt durch meine Adern, aber ich kann nichts sehen. In der Ecke steht mein Schreibtisch, mit meinen Schulbüchern obenauf. Im Schatten darunter kann ich nichts erkennen. Was wenn wirklich...
Wie in Trance krabbele ich auf meinen Schreibtisch zu. Was sieht Philip da unten?
"Mara! Nein! Mami mag dich nicht!" Philip versucht aus seinem Gitterbettchen zu klettern. Ich krabbele weiter in die Ecke. Unter dem Schreibtisch ist nichts. Erleichtert wende ich mich um.
Philip liegt still in seinem Bett. Eine Kälte überfällt mich, sie zwingt mich zu Philips reglosem Körper um meine grausige Vorahnung zu bestätigen.
Philip ist tot. Seine ernsten blauen Augen starren an die Decke. Fassungslos starre ich ihn an. In meinem Körper wird eine Blase größer und ich weiß, sobald ich denke, wird sie platzen und mich mit in ihr gefangenem Schmerz überwältigen.
Etwas reißt an meinem Inneren. Mein Herz hört auf einmal auf zu pumpen. Verwirrt drehe ich mich von Philip ab. Hinter mir steht eine eigentlich hübsche große Frau mit schwarzen Haaren und braunen Augen. Sie lächelt gütig, doch in ihren Augen sehe ich meine eigene tote Gestalt.
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