Monster

Monster

Ich werde sie nicht töten.

Doch das wirst du. Du hasst sie! Hast du etwa vergessen, was sie dir angetan hat?

Was sie mir angetan hat?! Sie ist meine einzige Freundin! Ich werde sie nicht töten! Du hast nicht die Macht über meinen Körper!

Mein anderes Ich lachte gackernd auf. Es schmerzte mir in den Ohren und in der Brust, meine eigene Stimme klang anders. Brutaler, gewaltbereiter. Blutdurstiger. Ich habe sehr wohl Macht über unseren Körper. Und du weißt es.

Ja, ich wusste es nur zu gut. Und es machte mir Angst. Jede Nacht kämpfte ich mit meinem anderen Ich, dem mordhungrigen Ich, um die Vorherrschaft über meinen Körper. Meistens gewann ich. Doch manchmal war ich zu müde, um etwas gegen die gewaltige Flut kalter Gedanken zu tun, die mich ertränkten. Wenn ich abends in meinem Bett lag, um mich herum die Atemgeräusche der anderen Waisenmädchen hörend, wenn ich müde wurde, weil das Licht aus war und der Mond in dieser Nacht nicht am Himmel stand, dann ertrank ich. Ich wurde ohnmächtig und überließ damit einer Mörderin meinen Körper.

Sie, die andere Seele in meinem Körper, war nie erwischt worden. Aber die anderen Mädchen waren nicht dumm, sie entfernten sich von mir, von Karla, deren Freunde immer starben. Und der Ruf des Waisenhauses verschlechterte sich immer mehr. Selbst der Staat unterstützte kein Waisenhaus, in dem es regelmäßig zu Morden kam. Die Polizei war ratlos, sie hatten versucht mit einem Lügendetektor dem Mörder auf die Spur zu kommen, doch als ich sagte, ich sei es nicht gewesen, da hatte die Nadel nicht ausgeschlagen. Als ich die Wahrheit gesagt hatte, da war die Nadel ruhig geblieben wie mein Herz. Mein zerrissenes Herz.

Ich weiß, dass du Angst vor mir hast, aber das solltest du nicht. Ich tue das für uns, für dich!

Nein! Wenn du das für mich tun würdest, dann würdest du Leah nichts tun!

Aber sie mag dich nicht! Siehst du das denn nicht?! Sie vertraut dir nicht! Sie benutzt dich! Sie wird dich verraten!

Ich vertraue dir nicht! Du benutzt mich! Du verrätst mich! Immer wieder verrätst du mich! Ich hasse dich!

Ich weiß, sagte die Stimme plötzlich traurig. Ich weiß dass du mich hasst. Aber eines Tages vielleicht, eines Tages wirst du aufwachen und erkennen: Es ist nur zu deinem Besten!

Ich glaube dir nicht!

Das macht nichts.

Ich hatte Angst. Ich war hilflos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nur, es musste aufhören. Ich war es leid meine Freunde begraben zu müssen. Ich war es leid, auf karge, schmucklose, kleine Kindersärge zu blicken, die mit krümeliger Erde bedeckt wurden. Ich konnte das einfach nicht mehr. Ich war zu schwach um Sie in meinem Körper gefangen zu halten und ich war zu schwach um mit meinem Versagen und den Konsequenzen umzugehen. Ich konnte das einfach nicht mehr.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich an die Decke über mir. Durch den Türspalt, am anderen Ende des Schlafsaals, sickerte das flackernde Licht einer Öllampe und ließ mich grobe Schemen und schwarze Umrisse erkennen. Das war mir genug. Leise erhob ich mich und lauschte panisch in die Stille, als mein altes, hölzernes Bettgestell ächzte und knarzte und sich über die nächtliche Ruhestörung beschwerte. Als sich nichts rührte, fuhr ich fort aufzustehen und tapste vorsichtig und mit gespitzten Ohren von der Tür weg, auf die Tür zur Treppe zu. Ich wollte hinunter in die Küche. Den Gedanken an mein Vorhaben verbot ich mir selbst. Ich war schwach, das wusste ich, aber ich hatte keinen Grund mehr zu leben, keine Eltern, keine Freunde, wenn ich es nicht selbst zu Ende brachte.

Oh nein. Das wirst du nicht tun! Du wirst nicht meine ganze Arbeit zunichte machen! Die andere Stimme schrie mich an, es fühlte sich an, als müsste mein Kopf zerbersten wie Glas. Wie viel einfacher wäre alles, wenn es wirklich so wäre, dachte ich resigniert.

Du hast doch sehr wohl etwas um weiterzuleben. Was ist mit den Vögeln? Du wolltest frei sein! Lass mich dir helfen, gemeinsam kann uns niemand stoppen!

Es gab nie ein Wir! Und es wird auch in Zukunft keins geben! Für keine von uns wird es eine Zukunft geben!

Wenn du deinen Körper tötest, dann ist mir das egal. Ich suche mir einfach mein nächstes Opfer, während deine Seele hinab in die Hölle fährt. Du weißt, dass ich das kann.

Wusste ich das? Ich überlegte. Nein, das wusste ich nicht, entschied ich nach kurzem Nachdenken.

Wenn auch nur eine winzige Chance besteht, dich mit mir zu töten, dann werde ich diese Chance nutzen.

Oh, sieh dich nur an Karla. Verzweifelst suchst du nach Aufmerksamkeit. Du hoffst, dein Tod würde etwas bedeuten, mehr als dein Leben es je könnte. Ich verrate dir eins: Das wird er nicht. Du hast nie etwas bedeutet! Du warst allen egal! Und ich habe dir geholfen. Ich habe dich dort weggebracht, ich habe die Menschen, die dir schaden wollten von dir ferngehalten und wie dankst du es mir?! Du schenkst mir keinen Glauben, das war ich gewöhnt, das war in Ordnung, aber jetzt versuchst du mich zu töten! Du bist genauso verdorben wie alle in deinem Umfeld! Dabei habe ich dich ausgewählt, weil ich dachte, du wärst etwas Besonderes! Ich dachte, ich könnte dich retten! Aber du willst mich töten!

Du willst mich verwirren, ich weiß es. Du kannst mir nicht einreden, dass mich die ganze Welt gehasst hat!

Nein, Karla, es war viel schlimmer. Du warst der Welt egal.

Ich stockte. Konnte das sein? Konnte mich die Welt nicht gehasst haben, sondern nicht beachtet?

„Meine Eltern haben mich geliebt!", schrie ich. Aber mir kamen leise Zweifel.

Haben sie das wirklich? Woher willst du das wissen? Du warst nur ein Baby, als DU sie ermordet hast.

Entsetzt stoppte ich. Mein Fuß hing über der nächsten Treppenstufe in der Luft, bewegungslos. Ich wusste nicht mehr was meine Gedanken waren und was Sie mir eingetrichtert hatte. Ich konnte nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden, die Grenzen waren fließend geworden. War jemals etwas nur Gut gewesen oder nur Böse? Und waren die Erinnerungen wie ich, in meiner kleinen Hand ein viel zu großes Messer, auf den Körper meiner Mutter einhackte, wirklich echt?

DU hast sie ermordet. Nicht ich bin die Mörderin, sondern du!

***

Mama und Papa sind heute Abend nicht nett zu mir gewesen. Sie haben mich ignoriert, haben mich in meinen Hochstuhl gesetzt und sich angeschrien, als ich mir den Spinat über kleckerte. Sie sind böse zu mir gewesen. So böse, dass sie bestraft werden müssen. Ich muss aus meinem Bett raus, aber ich kann nicht, die Gitter sind zu hoch. Warum hat mein Bett Gitter? Haben sie Angst vor mir und sperren mich in mein Bett, weil sie denken, ich bin zu klein um es zu bemerken? Sind sie eigentlich meine Mama und mein Papa? Wenn sie mich einsperren, dann können sie mich ja gar nicht lieben, denn wenn sie mich lieben würden, würden sie mit mir zwischen ihnen eingekuschelt schlafen und mich nicht in ein Gefängnis neben dem Fenster sperren. Neben dem Fenster, das ständig zieht. Keine liebende Mutter würde mich mit vollen Windeln ins Gefängnis bringen und kein guter Vater würde seine einzige Tochter hastig in ein größeres Sammelgefängnis für viele Kinder bringen und sich nicht von mir verabschieden, mich erst nach allen anderen wieder abholen kommen. Ja, meine Eltern lieben mich nicht. Sie müssen bestraft werden. Ich muss hier herauskommen. Ich schreie einfach. Wenn sie kommen, dann werden sie mich hoch- und hier herausheben. Und dann werde ich sie bestrafen. Ich schreie. Ich habe Hunger. Ihr habt mich nicht fertigessen lassen, ich habe Hunger.

Sie hören mich nicht, sie selbst brüllen zu laut. Sie lieben mich nicht, sie hören mich nicht. Ich hasse sie! Es ist so, als wären sie nie da! Sie sind nicht meine Eltern! Sie gehören bestraft! Ich muss sie bestrafen. Ansonsten kümmert sich niemand darum, es ist meine Aufgabe, meine verhassten Nicht-Eltern zu bestrafen. Wenn es sich so anfühlt, als wären sie nie da, dann würde es auch keinen Unterschied machen, wenn sie wirklich nicht da wären. Es würde mir nichts ausmachen.

„Papa!"

Papa fragt, warum ich nicht im Gitterbett bin. „Ich mochte mein Gefängnis nicht. Und ich mag dich nicht, Papa. Ich hasse dich."

Er röchelt. Die Frau, die sagt meine Mutter zu sein, schreit. Der Mann, den ich hasse, liegt mit mir auf der Brust auf dem Küchenfußboden. Die Frau ist panisch. Sie hat ein Messer. Sie versucht mich umzubringen.

„Mama, ich bin es Karla."

Sie schreit, ich sei nicht ihre Tochter. Sie hat Recht. Ich bin nicht ihre Tochter. Aber ich werde nicht gnädig sein, weil sie mir die Wahrheit gesagt hat. Eine Wahrheit, die ich schon kenne, bringt mir nichts. Die Frau muss auch sterben. Sie hat das Messer. Ich verstecke mich hinter dem Mann. Das Messer bleibt in seiner Seite stecken. Ich beiße der Frau in den Arm, sie muss das Messer loslassen. Das Messer ist so schwer, mein Arm wird müde, wenn ich es nur halte. Aber die Frau muss für ihre Lügen bestraft werden. Die Strafe des Mannes war langweilig. Ich will Spaß haben.

„Mama, wird es Spaß machen dich zu töten?"

Sie schreit ich sei ein Monster. Das gefällt mir. Ich bin ein bluthungriges Monster, das seine Mama tötet, die gar nicht seine Mama ist. Wenn ich ein Monster bin, dann macht es Spaß zu töten.

Es macht Spaß ihr das Messer in den Bauch zu stechen. Ich lache. Die rote Farbe an meinen Händen ist also Blut. Es ist so schön warm. Und es riecht so gut. Ich will mehr davon. Gib mir deine Liebe, indem du für mich blutest, Mama!

***

Ich zitterte. Ich erinnerte mich wieder. Ich war ein Monster. Ich hatte meine Eltern getötet. Ich hatte es gemocht, hatte es genossen mich in ihrem Blut zu baden. Ich hatte Papa auch gestochen, aber sein Blut war nicht so schön rot gewesen wie Mamas, es war nicht so schön warm gewesen wie Mamas.

Ich mag Mama lieber als Papa, ihr Blut war so schön warm.

Ja, das war es. Komm, Monster, wir gehen Leah töten.

Sie mochte mich nicht, oder?

Nein, aber du magst ihr Blut.

Ist es denn genauso schön warm, wie das von Mama?

Ja, das ist es. Das Blut von allen Menschen ist so schön warm, aber erinnerst du dich noch, was danach geschehen ist?

Ihr Blut ist kalt geworden und es hat sich braun gefärbt.

Genau. 

Dann werden wir einfach immer wieder töten. Komm, Monster, wir gehen das Waisenhaus töten.

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