2 | Waldspaziergänge und Matheklausuren

2.244 Worte

Im Wald liegt der Schnee mehrere Zentimeter hoch und verdeckt die kleinen Pflanzen und Brombeerranken, die man im Sommer normalerweise sprießen sieht. Es sieht aus, als würden die großen Bäume auf einem weißen, unberührten Erdboden stehen. Zumindest so lange unberührt, bis Ernie in vollem Tempo durch den Schnee saust.

Die Hände in den Jackentaschen vergraben laufe ich neben Joel her und beobachte, wie unser Atem weiße Wölkchen in der Luft bildet.

»Und was hat deine Mutter zu deiner Mathenote gesagt?«, fragt er und schaut mich aus seinen dunkeln Augen an. Wie in letzter Zeit so oft fällt mir auf, was für schöne Augen er hat. Warm und geheimnisvoll und umrahmt von solch langen Wimpern, dass jedes Mädchen neidisch wird.

Ich seufze und richte den Blick auf meine Füße, die durch den Neuschnee stapfen, der heute Vormittag während der Schulzeit gefallen ist. »Sie zwingt mich dazu, für die nächste Klausur mit Avril zu lernen.«

»Okay, aber das ist doch nicht das Schlimmste, oder?«

»Es ist eine Katastrophe, Joel. Du weißt, wie wenig Avril und ich uns verstehen. Bevor wir überhaupt mit einem Thema richtig angefangen haben, werden wir uns schon ankeifen, weil sie es einfach nicht lassen kann, mir unter die Nase zu reiben, wie viel besser sie doch in allem ist«, schimpfe ich und kicke etwas Schnee durch die Luft. Darauf reagiert Ernie sofort, schießt an mir vorbei und schnappt nach den herabrieselndeln Bröckchen »Wenn ich mit Avril lerne, wird die nächste Klausur noch viel schlechter.«

Joel schweigt und scheint zu überlegen, dann sagt er: »Und wenn du deiner Mutter anbietest, nicht mit Avril sondern mit mir zu lernen?«

Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm. Seine warmen Augen mustern mich aufmerksam, während seine dunklen Haare unter der blauen Mütze, die ihm so gut steht, hervorschauen. Wann ist mein bester Freund so attraktiv geworden? Der Gedanke geht mir nicht zum ersten Mal durch den Kopf.

Ich zucke mit den Schultern. »Ein Versuch wäre es wert. Würdest du das denn wirklich wollen?«

»Ivy, ich biete dir das doch nicht nur aus Höflichkeit an. Du bist meine beste Freundin und wenn du Schwierigkeiten hast, möchte ich dir helfen. Du vergisst, dass wir achte und neunte Klasse zusammen waren und beide den Martin in Mathe hatten.« Freundschaftlich stupst er mich, die Hände immer noch in den Jackentaschen vergraben, mit seiner Schulter an, während wir aus dem Wald heraus auf eine Lichtung treten.

Traurig lächelnd denke ich daran zurück. Es wäre so viel einfacher, wenn er in Mathe immer noch neben mir säße. »Ja und mein ganzes Wissen aus den Jahren habe ich von dir, weil du mir alles, was er gesagt hat, noch mal erklärt hast.«

»Genau. Wir sorgen dafür, dass du es dem Mistkerl zeigen kannst.«

»Danke.« Ich bleibe stehen, pfeife nach Ernie und lasse mir von Joel die Bürste geben, die er in seiner großen Manteltasche verstaut hatte.

Der helle Labrador hebt interessiert den Kopf und schaut in unsere Richtung. Mit einem auffordernden »Komm« klopfe ich auf meine Oberschenkel und keine Sekunde später saust der Hund freudig durch den Schnee auf uns zu.

Liebevoll kraule ich ihn hinter den Ohren, während er sich im Schnee vor uns wälzt. Sofort ist alle Sorge um Mathe vergessen. »Du bist ein guter Hund, ne, Ernie? Was würde ich nur ohne dich machen.«

Genüsslich lässt Ernie die Streicheleinheiten der Bürste über sich ergehen und ich kämme in der Hocke Gramm um Gramm Haare aus seinem Fell. Als ich fertig bin, sieht es aus, als hätte jemand im Schnee ein Tier gerupft - nur ohne Blut.

»Wie kann es sein, dass du immer noch so viel Fell verlierst, Ernie? Ich hab dich im Herbst schon x-mal gekämmt.« Kopfschüttelnd zupfe ich die letzten Haare aus der Bürste und lasse sie in den Schnee zu den anderen fallen. Dann reiche ich Joel die Bürste, der sie wieder in seiner Manteltasche verstaut.

Über dies und das redend gehen wir die Runde durch den Wald zu Ende. Ich mag es, mit Joel spazieren zu gehen. Mit ihm kann ich über alles reden und er bringt mich immer auf andere Gedanken. Schließlich laufen wir von hinten in unser Sträßchen. Irgendwie unschlüssig bleibe ich vor dem Weg zu unserer Haustür stehen. Fast bin ich traurig, dass wir schon wieder zurück sind, dabei zeigt mir ein Blick auf mein Handy, dass wir 75 Minuten unterwegs waren.

Avril müsste gleich heim kommen. Dann gibt es endlich Mittagessen.

Einem plötzlichen Impuls folgend frage ich: »Möchtest du mit bei uns essen? Es gibt Pizza.« Eigentlich kenne ich die Antwort schon. Mamas handgemachter Pizza kann Joel einfach nicht widerstehen.

»Es ist beleidigend, dass du überhaupt fragst.«

Ich grinse.

Diesmal denke ich daran, meinen Schlüssel zu benutzen und nicht zu klingeln, als wir vor der Haustür stehen. Obwohl der Hund draußen bei mir ist, würde er anfangen zu bellen. Ernies einzige Disziplin, in der er versagt. Ansonsten hört er auf's Wort. Trotzdem regt Mama das Gekläffe auf. Besonders wenn sie sich nach einem langen Nachtdienst völlig erschöpft ins Bett legt und im Laufe des Tages jemand an die Tür klopft.

Ich habe schon alles versucht. Jeden Tipp im Internet nachgeschlagen - ihn mit Leckerlies belohnt, wenn er still war, mit ihm geschimpft, wenn er laut war oder ihn tagsüber draußen im Garten gelassen. Nichts hilft. Ein paar Tage schafft er es, nicht zu bellen, aber danach geht das ganze Spiel wieder von vorne los und so langsam habe ich Angst, dass Mamas Maß voll ist.

Eigentlich ist Ernie gar nicht mein Hund. Er war der Hund meiner Oma, die vor vierzehn Monaten plötzlich an einem Schlaganfall gestorben ist. Sie war erst 67 Jahre alt und eigentlich topfit. Keiner wusste etwas von dem Aneurysma in ihrem Kopf und als es geplatzt ist, kam jegliche Hilfe zu spät.

Ich war am Boden zerstört, als Mama mich mit geröteten Augen von der Schule abgeholt und es mir erzählt hat. Ernie saß zu dem Zeitpunkt hinten im Kofferraum.

Zuerst war es für Mama keine Frage, dass wir ihn aufnahmen, weil er alles war, was uns von Oma blieb und sie es nicht über sich brachte, ihn in wildfremde Hände abzugeben. Er war Omas Ein und Alles. Aber je öfter er wie ein Wahnsinniger kläffte, desto genervter wurde Mama und sie hat schon mehr als einmal angekündigt, dass ich ihm das endlich abgewöhnen soll oder er eben weg muss.

Ich mag mir gar nicht vorstellen, was ich tue, wenn sie es irgendwann wirklich ernst meint. Ich kann Ernie nicht abgeben.

Im Flur befreien Joel und ich uns von unseren dicken Winterjacken, den Mützen und Stiefeln, die ich zum Abtropfen in die Badewanne stelle, damit nachher nicht riesige Pfützen vom geschmolzen Schnee auf den Fliesen sind.

Ernie schicke ich mit strenger Miene in sein Körbchen an der Heizung im Wohnzimmer. Dort kann sein Fell trocknen, ohne dass er Mama unnötig Dreck im Haus macht.

»Hi Joel, bleibst du zum Essen?«, begrüßt sie ihn, als sie aus dem Keller nach oben kommt.

»Ivy hat mir erzählt, dass es selbstgemachte Pizza gibt. Da konnte ich nicht Nein sagen«, sagt er charmant und wuschelt sich mit einer Hand durch die dunklen, von der Mütze leicht plattgedrückten Haare.

»Das freut mich. Es ist auf jeden Fall reichlich da. Ich habe drei große Bleche gemacht.« An mich gewandt fügt sie hinzu: »Würdest du schon mal den Tisch decken? Avril müsste auch bald heimkommen, dann können wir essen.«

Ich nicke, während Joel mir durch die Küche ins angrenzende Esszimmer folgt, in dem ein großer Glastisch steht, an dem acht Personen Platz finden.

Zusammen verteilen wir Teller und Gläser auf dem Tisch und legen in der Küche Topfuntersetzer auf der Arbeitsplatte bereit, auf denen wir gleich die Pizzableche ablegen können.

Wir sind gerade fertig, als ich höre, wie im Flur ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt wird. Avril kommt heim.

Keine zehn Minuten später sitzen wir zu viert gemeinsam am Esstisch mit je zwei Stücken Pizza auf unseren Tellern. Avril erzählt von ihrem Schultag und dass sie später noch zu Nik fahren wird. Ich schüttle mich.

Ich verstehe nicht, wie sie in so einen Typen verliebt sein kann. Er ist ein Ekelpaket wie er im Buche steht. Bei ihr ist er der süße, charmante Kerl, der alle Mädchenherzen weich werden lässt, aber er vergisst oft, dass Avril eine Schwester hat. Mehr als einmal habe ich erlebt, wie er hemmungslos mit anderen Mädchen aus seiner Stufe oder einer Stufe unter ihm flirtet, wenn sie nicht in der Nähe ist.

Und das Schlimme ist: Sie weiß, dass er das tut.

Deswegen kommt sie auch regelmäßig heim und faucht jeden an, der sie auch nur schief anschaut, weil die beiden mal wieder gestritten oder Schluss gemacht haben. Trotzdem kommt sie immer wieder mit ihm zusammen.

Zu sagen, dass meine Schwester und ich kaum etwas gemeinsam haben, ist noch untertrieben.

Als Avril fertig erzählt hat, ergreife ich die Gelegenheit beim Schopf und versuche, Mama von Joels Vorschlag zu überzeugen. »Was würdest du davon halten, wenn ich statt mit Avril mit Joel für die nächste Matheklausur lerne? Ich meine, er ist in der gleichen Stufe wie ich, wir hatten zwei Jahre zusammen den Martin und er hat gerade das gleiche Thema.«

Höhnisch zieht Avril eine Augenbraue nach oben. »Heißt das etwa, dass du diese Matheklausur auch wieder vergeigt hast? Keine Ahnung, was du falsch machst. Ich war eine seiner Lieblingsschülerinnen.«

»Halt die Klappe«, zische ich und werfe ihr einen scharfen Blick zu. Ihr besserwisserisches Gehabe kann ich gerade gar nicht gebrauchen.

Meine Mutter scheint leider nicht wirklich überzeugt von dem Vorschlag zu sein. »Der Kompromiss war eigentlich, dass du diese Klausur schaffst oder du lernst mit Avril und jetzt soll ich mich auf einen neuen einlassen?«

Ich lasse die Schultern hängen und schnippe mit dem Finger gegen mein zweites Stück Pizza, aber noch habe ich nicht alle Karten ausgespielt. »Es war ja nur ein Vorschlag, weil Joel und ich sowieso viel Zeit zusammen verbringen, er in Mathe echt gut ist und Avril bestimmt nicht darauf verzichten möchte, so viel wie möglich mit Nik zusammen zu sein.«

Sie seufzt »Ivy, ich weiß, dass du nicht der glücklich darüber bist, mit deiner Schwester zu lernen - «

»Weil sie nicht erklären kann! Und es auch gar nicht richtig versucht«, falle ich ihr aufgebracht ins Wort.

Sofort feuert meine Schwester eine giftige Antwort zurück. »Du konzentrierst dich einfach nicht richtig. Ich könnte die beste Lehrerin der Welt sein und du würdest es nicht raffen.«

Ich will gerade zu einer neuen Erwiderung ansetzen, als Mama mir ins Wort fällt. »Schluss damit. Sofort. Nicht beim Essen.«

Etwas Unverständliches brummend wende ich mich wieder meiner Pizza zu und beiße ein Stück ab, während Joel neben mir versucht nicht zu grinsen. Er kennt die Auseinandersetzungen mit meiner Schwester schon zur genüge und zieht mich immer wieder damit auf, wie wenig wir uns verstehen.

Ich sage dann immer, dass er das nicht verstehen kann, weil er Einzelkind ist.

»Was ich sagen wollte«, fährt meine Mutter fort, »Ich weiß, du bist nicht glücklich darüber, mit deiner Schwester zu lernen, aber dieses Halbjahr schreibst du nur noch eine Matheklausur und ich möchte, dass du dich zusammen mit Avril darauf vorbereitest, weil sie den Stoff schon kennt. Und tut mir leid, Joel, du nun mal nicht.«

Freundlich lächelnd winkt er ab. »Keine Sorge. Das verstehe ich schon.«

Frustriert gehe ich nach dem Mittagessen mit Joel hoch in mein Zimmer. »Das ist so gemein. Bloß weil Avril vor zwei Jahren gut war, heißt das nicht, dass sie mir den Stoff besser erklären kann.«

»Ach komm, reg dich nicht auf. Wir können ja trotzdem zusammen lernen.« Aufmunternd stupst er mich mit seiner Schulter an, während mir der frische, männliche Duft seines Deos entgegenschwebt.

Ich seufze und lasse mich längs auf mein Sofa plumpsen, das auch gleichzeitig als mein Bett funktioniert, wenn ich es ausklappe.

Mit einem Grinsen im Gesicht tritt Joel an meine Seite, sieht auf mich herab und zieht amüsiert eine Augenbraue nach oben. »Muss ich jetzt auch Mitleid mit dem Sofa haben, wie ich es eben mit dem Stück Pizza hatte, das du so aggressiv gegessen hast?«

Gegen meinen Willen muss ich grinsen und schüttle den Kopf. »Du bist unmöglich.«

»Ich weiß. Wollen wir zusammen die Hausaufgaben für Geschichte machen?«

»Nur wenn du mir vorher hilfst, meine Matheklausur zu verstehen«, necke ich ihn und stehe vom Sofa auf, um sie aus meinem Ranzen zu kramen.

»Weil du es bist.«

Wir sitzen geschlagene 75 Minuten an meiner Matheklausur, bis ich das Gefühl habe, die Aufgaben so weit zu verstehen, dass ich sie alleine lösen könnte. Joel erklärt mir die Dinge viel einfacher als Herr Martin, während ich immer mal wieder innehalte und sein Profil betrachte, wie er mit gegenüber auf dem Teppichboden sitzt, einen Arm aufgestützt und mit dem anderen verständliche Lösungswege für mich am schreiben. Dabei hat er eine seiner fein geschwungenen Augenbrauen nach oben gezogen und tippt sich mit dem Stift hin und wieder gegen die schöne, gerade Nase.

Nachdem wir jede einzelne Aufgabe der Matheklausur durchgegangen sind, lasse ich mich erledigt nach hinten auf den Boden fallen.

»Komm schon, wir müssen noch Geschichte machen.« Ich höre förmlich das Schmunzeln in seinem Gesicht, bleibe aber trotzdem liegen. Auch, als ich seinen Fuß spüre, der gegen meinen Oberschenkel tippt. »Ich pikse dich in die Rippen, wenn du nicht aufstehst.«

Sofort richte ich mich auf. »Das wagst du nicht.«

»Und wie ich mich das wage.«

Meine Lippen verziehen sich zu einem diabolischen Grinsen.

Joel, da hast du die Rechnung ohne mich gemacht.

A./N.: Tadaa, Kapitel 2 :D Wie gefällt es euch? Mögt ihr Joel auch schon so sehr wie ich? xD

Seht ihr das? 0Reveuse0 hat ein Fancover zu WEUW gemacht und, meine Güte, ich bin verliebt. Wie die Silhouette sich im Wasser spiegelt, einfach großartig 😍😍 links daneben seht ihr noch mal meins, nur halb so schön 😂😂

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