1 | Geliefert

2.323 Worte

Ich bin geliefert.

Verzweifelt lasse ich die Blätter in meinen Händen sinken und den Kopf hängen. Das ist die zweite fünf in einem Halbjahr. Meine Eltern werden nicht zufrieden sein. Überhaupt nicht zufrieden.

Als ich den Kopf hebe, nimmt der Lehrer, Herr Martin, gerade vor der Tafel wieder Platz, um mit uns die Lösungen der Matheklausur zu besprechen.

Ich hasse ihn.

Obwohl er erst 34 Jahre alt ist, trägt er jeden Tag scheußliche, kackbraune Cordhosen mit völlig unpassend bunt gemusterten Hemden und einer obligatorischen Hornbrille, um uns mit seinen stechenden Knopfäugelchen in jeder Sekunde zu beobachten. Dazu hat er bereits deutlich ausgeprägte Geheimratsecken.

Aber das ist alles nur nebensächlich. Hauptsächlich hasse ich ihn, weil er mich nicht leiden kann und Spaß daran hat, mich vor der Klasse bloßzustellen oder mich mit 0,5 Punkten an der besseren Note vorbeirutschen zu lassen und deshalb jeden einzelnen Elternsprechtag Mama und Papa in die Schule beordert.

Auch jetzt verziehen sich seine Mundwinkel wieder zu einem sadistischen, kleinen Lächeln, als sein Blick auf mich fällt. Grinsend hält er ein Stück Kreide in meine Richtung und sagt: »Ivy, wollen Sie uns nicht die Lösungen von Aufgabe eins präsentieren?«

Nein, das will ich nicht, obwohl ich die Lösung zu Teil a weiß, nur bei den Teilen b, c, d und e bin ich gescheitert.

Die gesamte Woche vor der Matheklausur hatte ich jeden Tag nach der Schule und den Hausaufgaben noch zwei Stunden in meinem Zimmer gehockt und Mathe gepaukt, sodass ich mich am Tag der Prüfung sogar relativ gut gewappnet fühlte, aber ich hatte die Rechnung ohne Herrn Martin gemacht. Der findet nämlich immer die fiesesten Aufgaben für eine Klausur, die denen im Buch kein Stück mehr gleichen.

Und so saß ich in der Klausur, las eine Aufgabenstellung nach der nächsten, während meine Hoffnung schwand und ich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre, weil ich ihm jegliche Formel für Vektorrechnungen hätte hinklatschen können, aber absolut keine Ahnung hatte, wie ich die Textaufgaben vor mir lösen sollte.

Wissend, dass es nichts bringt, mich zu widersetzen, erhebe ich mich von meinem Platz, nehme ihm das Stück Kreide ab, das er zwischen seinen Fingern hält, und gehe nach vorne an die Tafel.

Tief durchatmen, Ivy. Aufgabe a kannst du. Vielleicht hilft dir der Rest der Klasse bei den anderen vier.

Mit zitternden Händen schaue ich auf meine Klausur, die ich mit nach vorne genommen habe, und beginne die Lösung von Aufgabe Nummer eins a an die Tafel zu schreiben. Als ich damit fertig bin, drehe ich mich zur Klasse um. Siebenundzwanzig Augenpaare starren einzig und allein mich an. Mir wird entsetzlich heiß.

Aila, meine beste Freundin, wirft mir einen mitfühlenden Blick zu.

»Und der Rest?«, fragt Herr Martin verständnislos, obwohl er genau weiß, dass ich dazu nichts außer ein paar durchgekritzelten Zeilen auf meinem Blatt stehen habe.

Unbehaglich lasse ich die Blätter sinken und bohre meine rechte Fußspitze in den grauen Linoleumboden. »Dazu habe ich keine Lösungen«, sage ich leise und schaue zu Boden.

Warum hebt denn niemand von den anderen Schülern seine Hand, um mir zur Seite zu springen?

»Nicht mal einen Ansatz?«, fragt er weiter.

Ich schüttle den Kopf.

»Das ist dürftig, Ivy, sehr dürftig. Aber ehrlich gesagt habe ich auch nichts anderes erwartet. Setzen Sie sich. Und richten Sie Ihren Eltern aus, dass bald die nächsten Elternsprechtage anstehen.«

Am liebsten würde ich ihm diesem Kerl eine reinhauen, aber ich bin so froh, mich schnell wieder setzen zu dürfen, dass ich nur mit dem Kopf nicke und mich auf meinen Platz verziehe. Beim letzten Mal hat er mich gezwungen, die Aufgaben doch jetzt zu lösen. Oder es zumindest zu versuchen.

Mir ist der kalte Schweiß ausgebrochen, während mein Hirn völlig den Dienst versagt hat und ich einfach reglos mit dem Rücken zur Klasse gestanden habe, unfähig auch nur eine Zahl an die Tafel zu schreiben. Fünf Minuten hat er mich in völliger Stille da vorne stehen lassen ohne auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben. Man hätte eine Feder auf den Boden fallen hören können, so leise war es im Klassenzimmer.

»Luca, bitten stellen Sie uns den Rest von Aufgabe eins vor«, nimmt er nun wie immer seinen Lieblingsschüler dran, der die Lösungen innerhalb von Sekunden an die Tafel schreibt.

Hastig versuche ich mitzukommen und alles abzuschreiben, um die Aufgaben vielleicht zu Hause nachvollziehen zu können.

Als die Stunde endlich endet, packt Aila schnell ihre Sachen zusammen und kommt zu mir. Zu Beginn des neuen Schuljahrs hat Herr Martin uns auseinandergesetzt. Ohne Grund. Einfach weil er es kann und mir eins reinwürgen wollte.

»So schlimm?«, fragt sie mitfühlend.

»Eine glatte Fünf. Die zweite für dieses Schuljahr.«

Froh, diesem Mistkerl endlich entkommen zu können, nehme ich meinen Rucksack und verlasse mit ihr die Klasse, um zur letzten Unterrichtsstunde für heute zu gehen.

»Kannst du nicht mit deinen Eltern reden und fragen, ob du den Kurs wechseln könntest? Ich meine, das Arschloch macht dich ganz offensichtlich fertig.«

Ich grinse. »Also wirklich, Aila.«

»Sorry, ich weiß, du magst solche Worte nicht, aber alles andere ist einfach viel zu harmlos für ihn. Wie kann man in dem Alter schon dermaßen verbittert sein?«

Ich schüttle grinsend den Kopf. Aila weiß einfach immer, was sie sagen muss, um mich aufzumuntern.

»Also, kannst du?«

»Ich weiß nicht.« Hilflos zucke ich mit den Schultern, während wir durch die Flure zum nächsten Kurs gehen. Meine Mutter ist immer noch sauer, dass das Küchenfenster wegen mir einen Sprung hat, und momentan echt fertig wegen der ganzen Nachtschichten, die sie im Krankenhaus schieben muss, deshalb ist es vermutlich gerade keine gute Idee, sie wegen einer weiteren Fünf anzusprechen.

Außerdem würde ich es auch als persönliches Versagen empfinden, jetzt den Kurs zu wechseln. Ich weiß, ich kann Mathe eigentlich. Ich bin nicht doof. Es müsste mir von einem Lehrer nur mal anständig erklärt werden. Ich werde diesen Kurs schaffen und dann werde ich den Ausdruck auf Herrn Martins Gesicht genießen, wenn er zähneknirschend feststellt, dass er mich diesmal nicht bloßstellen kann.

Aila nickt und presst die zarten, schmalen Lippen aufeinander, als wüsste sie, was gerade in meinem Kopf vor sich geht. »Wir zwei schaffen das schon. Wenn ich es mir recht überlege, will ich auch gar nicht, dass du den Kurs wechselst. Du kannst mich mit dem Dreckskerl doch nicht alleine lassen.«

Ich lache. »Was hast du eigentlich?«

»Eine Vier plus. Haarscharf an der glatten Vier vorbei.«

»Hey, das ist doch super. Wie machst du das bloß?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ehrlich? Ich habe absolut keine Ahnung. Ich bin nur froh, nicht durchzufallen.«

Beim Geschichtsraum angekommen gehen wir zu unseren Plätzen auf der Fensterseite des großen U, das die Tische bilden. Keine zwanzig Sekunden später trudelt Joel, mein bester Freund und quasi Nachbar, ein und setzt sich auf die andere Seite von mir.

»Und? Klausur zurück?«

Ich winke ab. »Frag besser nicht.«

»So schlimm?«

Ich stütze die Ellenbogen auf die Tischplatte und fahre mir mit den Händen durch die kraus gelockten, braunen Haare, wobei ich mich beinahe verheddere. »Glatte Fünf, wie ich dir nach der Klausur gesagt habe.«

»Oh Mann, Ivy, das tut mir echt mega leid.« Mitfühlend legt er mir eine Hand auf den Oberarm.

»Das ist so unfair. Du bist gut in Mathe. Warum bekommst du den Weiters-Hagen und ich den Martin? Der Weiters-Hagen ist nett, kann erklären und achtet darauf, dass ihm alle Schüler folgen können. Du hast den gar nicht nötig, du verstehst Mathe auch so. Es müsste Sanktionen dafür geben, wenn alle Kurse eines Lehrers chronisch schlecht sind. Echt, ich hatte so gehofft, den Martin nach der achten und neuten Klasse los zu sein, aber nein, natürlich habe ich ihn auch noch in der zehnten an der Backe«, mache ich meinem Ärger Luft und krame in meinem Ranzen nach den Unterlagen für Geschichte. Ich finde sie ganz am Boden, zerdrückt von meinem fetten Philosophiebuch.

Das hat man davon, wenn man keine ordentlichen Hefter führt, sondern einfach alle Blätter lose oder nur durch ein paar Büroklammern zusammengehalten in den Rucksack schmeißt.

»Ivy, du weißt, du kannst mich jederzeit fragen, wenn du Schwierigkeiten in Mathe hast«, sagt Joel noch, bevor die Lehrerin den Raum betritt und die Schüler um Ruhe bittet.

Ich folge dem Unterricht kaum. Die ganze Zeit grüble ich darüber nach, wie ich meinen Eltern beibringen kann, dass ich wieder eine Fünf in Mathe geschrieben habe. Leider hat Mama heute einen Frühdienst im Krankenhaus, sodass sie zu Hause sein wird, wenn ich komme. Und nach zweieinhalb Jahren weiß sie leider auch genau, wie lange der Martin braucht, um eine Klausur korrigiert zurückzugeben.

Wahrscheinlich wird sie fragen. Und wahrscheinlich wird sie es Papa dann beim Abendessen erzählen.

Es ist nicht so, dass meine Eltern ausrasten würden, wenn ich eine schlechte Note mit nach Hause bringe. In den meisten Fällen - was nicht heißt, dass ich pausenlos schlechte Noten schreiben würde - heben sie einfach eine Augenbraue, schauen mich tadelnd an und sagen bloß »Die nächste wird aber wieder besser, okay?«.

Nur nicht in Mathe. Dafür hat der Martin gesorgt mit seinem ständen Hinzitieren zu den Elternsprechtagen und der vorgetäuschten Besorgnis um meine Leistungen. Er wolle schließlich nicht, dass ich sitzenbleibe. Von wegen.

Deshalb machen sie in Mathe ein Drama. Obwohl ich noch nie einen blauen Brief nach Hause bekommen habe. Dieses Halbjahr könnte es allerdings das erste Mal soweit sein, wenn ich die dritte Klausur auch noch in den Sand setze.

Als es zum Stundenende klingelt, bin ich nicht erleichtert. Während Aila noch die siebte und achte Stunde hierbleiben muss, habe ich heute meinen kurzen Tag und gehe mit Joel heim. Er wohnt in der gleichen kleinen Straße wie ich, die lediglich aus fünf Häusern besteht - zwei auf der rechten und drei auf der linken Straßenseite. Seins ist die Nummer eins ganz vorne, meins die Nummer vier dreißig Meter weiter am Ende des Gasse.

Ich rede nicht viel, während wir nebeneinander durch den Schnee, der in den letzten paar Tagen gefallen ist, nach Hause stapfen und Joel drängt mich nicht. Er weiß, wie sehr mich die Fünf niederschmettert, weil er weiß, wie viel ich dafür gelernt habe. Und trotzdem weiß er nicht, was alles davon abhängt.

Als wir vor seiner Haustür ankommen, bleibt er stehen und dreht sich zu mir um. In der weißen Landschaft fällt er mit seiner schokoladenfarbigen Haut und den schwarzen Haaren auf wie ein Schneehase auf einer saftigen grünen Wiese. »Du schaffst das schon. Für die nächste Klausur lernen wir zusammen. Lass den Kopf nicht hängen.«

Mir ein Lächeln abringend hebe ich zum Abschied die Hand und laufe weiter zu meinem Haus. Der Wagen steht nicht vor der Garage, aber das ist unerheblich, weil Mama zu Fuß in 18 Minuten am Krankenhaus ist. Papa benutzt das Auto.

Ich klingle und sofort beginnt der Hund hinter der Tür zu bellen und ich sehe seinen Schatten durch das mattierte Glas der Haustür im Flur auftauchen. »Ernie, aus! Sei still!«, schimpft meine Mutter auch sofort, während sie zur Tür kommt.

Ich beiße mir auf die Lippe. Ich hätte besser den Schlüssel benutzen sollen. Jetzt ist Mama auch noch wegen des Hundes sauer.

»Hey, mein Schatz«, öffnet sie mir die Tür, nachdem sie den Hund zurück in sein Körbchen geschickt hat, und verschwindet dann schnell wieder in die Küche, aus der mir ein herrlicher Duft nach selbst gebackener Pizza entgegenkommt. »Wie war die Schule?«, ruft sie.

Ich seufze, ziehe Schuhe, Schal, Mütze und Jacke aus und beschließe, ihr sofort reinen Wein einzuschenken. Besser ich sage es ihr jetzt, als dass sie gleich beim Essen danach fragt. »Geht so.«

In der Küche ist Mama gerade dabei ein zweites Blech Pizza zu belegen, während das erste schon im Ofen backt. »Was heißt das?«

Ich hole tief Luft. »Ich hab Mathe zurück.«

Sofort hält sie damit inne, die Pizza mit Käse zu bestreuen und wendet sich mit zu. »Und?«

»Es ist wieder eine Fünf.« Kleinlaut richte ich den Blick auf den Boden und warte auf die folgenden Worte.

»Wieder? Ich dachte, du wärst so gut vorbereitet gewesen?«

»Ja, war ich auch, aber Herr Martin stellt einfach super gemeine Fragen.«

»Die anderen scheinen sie aber ja lösen zu können. So gemein können sie also gar nicht sein. Außerdem hat Avril die Klausuren bei ihm damals auch bestanden.«

Ich wusste es. Natürlich vergleicht sie mich wieder mit Avril. Bei jedem Lehrer, den wir gemeinsam haben, macht sie das und fast immer schneide ich schlechter ab, weil Avril einfach alles in den Schoß fällt.

»Ja, aber - «

»Kein Aber, du weißt, was das heißt.«

»Aber Mama, ich kann das schaffen. Für die nächste Klausur lerne ich einfach noch mehr. Ich brauche niemanden, der mir hilft. Bitte, ich will keine Nachhilfe von Avril haben«, flehe ich.

»Ivy, das hast du beim letzten Mal auch gesagt und ich habe mich darauf eingelassen, unter der Bedingung, dass du dieses Mal wenigstens eine drei schreibst, aber das hast du nicht, also wird Avril dir helfen.«

Ich bin den Tränen nahe. Ich hasse Nachhilfe und habe mir geschworen, niemals welche zu brauchen. Das kommt mir vor, als hätte ich versagt und sei zu dumm, um die Dinge selbst zu verstehen, aber das bin ich nicht. Ich kann Mathe!

Und ich brauche keine Hilfe von Avril. Sie hält mir sowieso schon immer unter die Nase, dass sie in der Schule so viel besser ist als ich und bei den Jungs auch viel besser ankommen würde. Als würde mich das Zweite überhaupt interessieren.

Von ihr Nachhilfe zu bekommen, würde in einem Desaster enden. Warum sieht Mama das denn nicht?

Ehe ich weitere Widerworte geben kann, sagt Mama: »Geh bitte vor dem Mittagessen noch mit dem Hund. Er winselt schon seit einer halben Stunde immer wieder. Und nimm die Bürste mit. Er verliert immer noch sein Sommerfell und haart mir das gesamte Haus voll.«

Ergeben nicke ich, gehe in den Flur, greife nach meinem Rucksack und stelle ihn nach oben in mein Zimmer. Dann schicke ich Joel eine WhatsApp-Nachricht.

Ich: Lust, zusammen mit Ernie spazieren zu gehen?

A./N.: Willkommen zu ›Wie Eisberge unter Wasser‹. Was haltet ihr vom Titel und vom Cover? Und viel wichtiger, was haltet ihr vom ersten Kapitel? Habt ihr Lust auf mehr und seid neugierig, was Ivy so alles erleben wird? Lasst es mich wissen. Ich freue mich immer über Kommentare.

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