04 | Abgehoben

Meine Lieben, ich wünsche euch viel Spaß mit dem 4. Kapitel :D

Als Maxim den kleinen Flieger betrat, verschlechterte sich seine Laune augenblicklich noch ein wenig mehr. Ausgerechnet heute musste er in einer Sardinenbüchse fliegen.

Er hielt sich nicht für etwas Besseres, aber er hasste diese winzigen Maschinen. Er stand nicht sonderlich auf körperliche Nähe zu Fremden und durch seinen Job musste er sich häufig genug dazu überwinden, sie zuzulassen. Gerade in diesem kleinen Flugzeug war es unvermeidlich – es sei denn, er hatte Glück und es saß niemand mit ihm auf der rechten Seite in der ersten Reihe des Fliegers.

Da sein Sitzplatz jedoch der letzte und der Flug komplett ausgebucht gewesen war, zerschlugen sich seine Hoffnungen augenblicklich. Außerdem bestand in diesem Flieger die erste Klasse aus den ersten vier Sitzreihen, die lediglich durch einen Stoffvorhang notdürftig vom Rest abgetrennt wurden. Nun verstand er auch, weshalb sein First-Class-Ticket so günstig gewesen war. Genervt wischte er sich über die Augen, dann machte er die letzten paar Schritte auf die erste Reihe zu.

Die Kleine aus dem Wartebereich stand mit dem Rücken zum Gang gewandt leicht nach vorn gebeugt vor ihm. Der Anblick gefiel ihm vor allem deshalb, weil er einen Blick auf ihren Arsch erhaschen konnte. Er hatte Recht behalten. Sie war definitiv heiß.

Erst jetzt bemerkte er die riesige Handtasche, die vor ihr auf dem Sitz lag. Es war jene Tasche, die ihr zuvor heruntergefallen war. Sie schien nach irgendetwas zu suchen. Kein Wunder, dass sie eine gefühlte Ewigkeit brauchte, es zu finden – die Tasche war riesengroß.

Sie schien ihn nicht zu bemerken, also räusperte er sich. Sie fuhr herum und schaute ihn an. Es war das erste Mal, dass er ihr so richtig ins Gesicht blicken konnte. Er war positiv überrascht. So unscheinbar, wie sie vorhin im Wartebereich gewirkt hatte, war sie gar nicht. Sie war genau sein Typ. Sie hatte einnehmende blaugrüne Augen, die gerade aufgeregt flackerten, hohe Wangenknochen und einen herzförmigen Kussmund. Einzig und allein der Knoten auf ihrem Kopf, zu dem sie ihre hellbraunen Haare gebunden hatte, störte das Gesamtbild.

Jetzt, wo er ihr so nah war, konnte er ihre Wahnsinnsfigur unter ihrem hellen Strickpullover, eindeutig sehen. Einzig und allein der große Schal, der ihr Dekolletee ein wenig verdeckte, enttäuschte ihn. Er mochte Frauen, die wussten, was gut an ihnen aussah, welche Farben und Schnitte sie tragen konnten, und die nie over- oder underdressed wirkten. Deswegen störte ihn auch der Knoten. Die Frisur war vielleicht praktisch, doch ihre langen Haare wären natürlich besser zur Geltung gekommen, hätte sie sie offengelassen. Noch immer starrte sein hübsches Gegenüber überrascht in seine Augen. Ein wenig nervte ihn diese Wirkung auf Frauen. Sie schob ihre Finger in die Hosentaschen. In einer Hand baumelten weiße Kopfhörer.

„Du stehst im Weg", sagte er schließlich sachlich, als sie sich nicht mehr bewegte. Sie machte einen Schritt zurück in Richtung Fenster, um ihn vorbeizulassen.

„Entschuldige...", nuschelte sie und strich sich nervös eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.

„Nee, ich sitze hier", sagte er und deutete mit seinem Zeigefinger auf ihre Sitzreihe.

„Oh, okay", antwortete sie mit einem seltsamen Unterton, nahm ihre Handtasche und verstaute sie wieder im Handgepäckfach. Als er jetzt den Trolley entdeckte, der gemeinsam mit ihrer großen Handtasche beinah das gesamte Fach einnahm, begann er unmerklich zu schwitzen. Er musterte sie skeptisch, bevor er versuchte, seine Reisetasche noch irgendwie in der Ablage zu verstauen.

„Typisch Frauen. Immer den halben Hausrat dabei", entfuhr es ihm trocken, während sie am Fenster platznahm. Er registrierte das leichte Zittern ihrer Finger, die sie unter ihrem Pullover zu verstecken versuchte, als er sie durchdringend musterte. Lag ihre Nervosität an ihm oder hatte sie möglicherweise einfach nur Angst vorm Fliegen? „Der Fensterplatz ist eigentlich meiner."

Wie zur Bestätigung fischte er die Bordkarte aus der Tasche und hielt sie ihr unter die Nase. Sie warf einen Blick darauf, dann seufzte sie resigniert. „Willst du tauschen?"

Er schob die Bordkarte wieder an ihren Platz zurück. Als sie Anstalten machte, aufzustehen und sich dabei beinah den Kopf stieß, hob er abwehrend die Hände.

„Nee, lass. Ist mir eh zu eng", gab er entschieden zurück, ehe er sich unter dem Gepäckfach wegduckte und sich schließlich neben sie auf den freien Sitzplatz fallen ließ. Einen Moment schaute er nach draußen auf das Rollfeld, beobachtete sie jedoch dabei unauffällig aus dem Augenwinkel. Sie strich ihren Pullover glatt und sank wieder in den Sitz zurück. Die anderen Passagiere hatten offensichtlich inzwischen ihre Plätze gefunden, denn die Stewardessen begannen bereits damit, die Handgepäckfächer zu schließen.

Anschließend setzte sich das kleine Flugzeug langsam in Bewegung in Richtung Startbahn. Währenddessen begann eine der Stewardessen mit den Sicherheitshinweisen. Er ignorierte sie und schaute aus dem Fenster. Er flog gefühlte tausend Mal im Jahr und kannte das Gequatsche schon in- und auswendig. Seine Sitznachbarin schnallte sich währenddessen an, steckte sich die kleinen Kopfhörer in die Ohren und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Als der Flieger schließlich die Startbahn erreichte und sich die Stewardessen für den Take-Off vorbereiteten, versteifte sie sich in ihrem Sitz und krallte die Fingernägel in die Lehne. Sie hatte also tatsächlich Flugangst. Er flog so häufig, dass er sich kaum in ihre Bedenken hineinversetzen konnte. Aber sie war ihm sympathisch und außerdem war ihm nicht damit geholfen, wenn sie ihm während dem Flug auf die Füße kotzte.

„Entspann dich, wir fliegen immerhin nicht mit Ryan Air", machte er einen Versuch, sie aufzuheitern, und schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln. Sie drehte ihm angespannt den Kopf zu. Ihre Augen schimmerten nervös und ihre Wangen waren leicht gerötet, während sie ihre schönen Lippen zu einem Strich zusammenpresste.

„Ich bin entspannt", log sie, zuckte jedoch zusammen, als ein Ruck durch den Flieger ging und er schließlich losrollte.

„Was hast du in Zürich gemacht?", fragte er neugierig, während sie sich tief in den Sitz drückte.

„Ich hatte ein Shooting", presste sie hervor, die Hände noch immer so fest um die Handgriffe geschlossen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

„Bist du Model?", bohrte er weiter und fixierte ihre schönen Augen mit seinem Blick, während die Maschine über die Startbahn raste.

„Nein, ich hab die Fotos gemacht."

„Also bist du Fotografin?", hakte er nach.

„Ja", nickte sie hektisch, als der Flieger schließlich den Boden unter den Rädern verlor und abhob.

„Was für Fotos machst du am liebsten?"

„Zurzeit mache ich viele Kinder- und Pärchen-Shootings."

Während die Landschaft unter ihnen zu schrumpfen begann, entspannten sich ihre Gesichtszüge allmählich. Die Armlehnen ließ sie dennoch nicht los.

„Wäre beides nichts für mich. Ich stehe weder auf Kinder noch auf verliebte Pärchen", erwiderte er ehrlich. Schließlich konnte er sich ein klassisches Familienleben derzeit nicht vorstellen. Dabei hatte er jedes Kind seiner Freunde ins Herz geschlossen. Aber wenn er selbst einmal Vater werden würde, dann nur mit der richtigen Frau an seiner Seite. Diese jedoch zu finden, schien in dieser schnelllebigen Zeit eine unlösbare Challenge zu sein. Dazu kam, dass er seit Jahren nicht wirklich ernsthaft danach gesucht hatte. Er war viel zu beschäftigt gewesen, seine dunkle Vergangenheit hinter sich zu lassen, doch so wirklich gelang es ihm nicht. Immer wieder holte sie ihn ein, in den ungünstigsten Gelegenheiten, dabei meisterte er den Drahtseilakt inzwischen recht gut und hatte seit Jahren keine Scheiße mehr gebaut.

Die meisten Frauen, die er kennenlernte, konnten entweder nicht damit umgehen, wer er einmal gewesen war, oder fühlten sich gerade deshalb von ihm angezogen. Sie waren nicht an seiner Person interessiert, sondern an dem, was er verkörperte; sowohl damals wie heute. Doch ihn reizte es nicht, mit einer von ihnen etwas Ernsthaftes anzufangen, denn sie brachten nicht das Potenzial mit, das er sich von seiner Partnerin wünschte. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, sodass die Verabredungen stets nur auf Sex hinausliefen.

„Was ist denn eher was für dich?", riss ihn die neugierige Stimme seines Gegenübers aus den Gedanken. Die hübsche junge Frau musterte ihn aufmerksam. Kurz überlegte er, ob die Situation einen frechen Spruch vertragen konnte, beließ es jedoch dabei und schenkte ihr stattdessen ein Lächeln.

„Da gibt es viel, aber Fotos gehören nicht dazu. Ich hasse Shootings", gestand er. Erst jetzt realisierte er, dass er sich tatsächlich mit ihr unterhielt, obwohl er unfassbar schlechte Laune hatte. Er hatte sie freiwillig in ein Gespräch verwickelt, um sie von ihrer Flugangst abzulenken, dabei hasste er es, mit Fremden zu reden und strahlte meist absichtlich eine gewisse Unnahbarkeit aus, um in Ruhe gelassen zu werden. Mit einem mal fühlte es sich seltsam an, nicht einmal ihren Namen zu kennen.

„Wie heißt du eigentlich?"

„Leticia."

Hm, meint ihr, das harmoniert zwischen den beiden oder sind da doch irgendwie seltsame Vibes? Und wenn ja, wieso?

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