Sehnsucht
„Es war nicht deine Schuld Lockie" ich stand vor seiner verschlossenen Zimmertür, meine Stirn lag an dem weiß gebeizten Holz. Seit Tagen war mein kleiner Bruder wie ausgewechselt, er sprach kaum, nicht einmal um unsere Eltern zu berichtigen oder um den nicht enden wollenden Besucheransturm, den das Ereignis mitgebracht hatte, zu deduzieren.
Angst saß wie ein kalter Stein in meiner Brust, was wenn er niemals darüber hinweg kam? Seine kleine Welt war zusammengebrochen und ich hatte es nicht verhindern können? War ich nicht der Schlaue? War ich nicht sein Bruder? Es wäre meine Aufgabe gewesen dafür zu sorgen das es nicht geschah, wie hatte ich es nicht kommen sehen?
Dumm.... Schwach.....Hilflos
„Warum quälst du dich?" sagte ich, die Erinnerung riss, plötzlich sah ich auf den pummeligen Jungen herab der ich einst gewesen war, seine Pose betrug den Schmerz in seinem Herzen und die Sorge in seinen Gedanken. Ich stand hinter ihm auf dem altbekannten Flur, neben mir hörte ich plötzlich dieselbe Frage aber gesprochen von einer sanfteren Stimme.
„Warum quälst du dich?" wie unter Trance drehte ich meinen Kopf zu ihr, es war mir als stände ich vollkommen Schutzlos vor ihr, als wäre es mir unmöglich mich zu verstecken oder gar zu Lügen.
„Weil ich es verdiene" war demnach meine Antwort, jede Silbe schnitt mit ihrer Wahrheit tiefer in meine verwundete Seele. Dennoch klang meine Stimme so als wäre mir dieser Umstand gleichgültig, als wäre es nichts anderes als eine altbekannte Wahrheit.
„Oh Mycroft" sagte sie, so hauchzart und ich fühlte ihre Hand an meiner bevor sie ihren Kopf gegen meinen Arm legte, eine Spiegelung der Pose meines jüngeren Ichs. Ich verdiente weder diesen Trost noch die Worte die ganz klar auf ihrer Zunge lagen also zwang ich mich zurück in die kalte Schwärze meiner Erinnerungen.....
*
Ich rief Anthea an und sagte ihr das die britische Regierung für die nächsten Stunden nicht zu erreichen war, natürlich hörte ich das Grinsen in ihrer Stimme als sie den ein oder anderen Kommentar fallen ließ, darüber das sie wusste das man mir nicht wiederstehen konnte oder das sie ebenfalls Zeit hätte wenn ich Einsam werden würde.
Mit einem Versprechen darüber nachzudenken und sie auf dem Laufenden zu halten legte ich auf. Unschlüssig stand ich in dem Wohnzimmer meines.... Nicht zu Hause, ich hatte kein zu Hause, was dem am nächsten käme war kein Ort, es war eine Person und eben jene hatte ich an den Rande eines viel zu frühen Todes geführt und dies nicht zum ersten Mal.
Mein ganzes Leben lang waren Menschen für mich oder wegen mir verletzt worden, einige waren sogar zu meinem Schutz gestorben. In meinem Kopf beschloss ich das dies ein Ende haben würde, ich hatte es Suvi geschworen ab sofort würde ich kämpfen.
Mein Baby brauchte mich so stark wie ich werden konnte in der kurzen Zeit die mir noch blieb bevor aus mir eine Mutter wurde, der Gedanke fühlte sich noch immer surreal an aber er erweckte auch mit jedem Tag mehr von diesem Strahlen das nicht einmal in diesen dunkelsten Stunden ausgelöscht werden konnte.
Sherlock war die Liebe meines Lebens und der einzige Mensch der mich je vollkommen gesehen hatte, mehr als das, er liebkoste jede Facette der Person die er erblickt hatte, in Worten, Taten und Gedanken.
In einem Herzschlag hätte er mit mir getauscht als er mich gefunden hatte, das wusste ich, deshalb hatte ich ihn gebeten stark zu sein, stärker als ich, doch hatte ich unterschätzt was meine Taten in diesem einzigartigen Mann auslösen würden. Ein Teil von mir wollte wütend auf ihn sein, hatte er immerhin völlig selbstsüchtig gehandelt doch ich wusste das ich an seiner Stelle keine Sekunde gezögert hätte ihm zu folgen. Auch deshalb war er ein besserer Mensch als ich es jemals sein könnte.
Er hatte tapfer gekämpft, hatte versucht weiter zu machen aber war an dem Flüstern der Dämonen aus unserer suchtgeplagten Vergangenheit gescheitert. Auch ich hörte ihre Worte, das Versprechen von Erleichterung, den Nebel des Vergessens und dem Rausch des Loslassens. Allein der Herzschlag unter meinem hielt mich an Ort und Stelle statt in einer dunklen Gasse nach dem Nötigen Mitteln zu suchen.
Meine Finger zitterten als ich sie vor meinen Mund presste und auf den Boden sank. Ich wusste das Clean zu werden ein immerwährender Prozess war aber diese Welle des Verlangens war unerwartet. Tränen bildeten sich in meinen Augen als mir klar wurde das ich mich nach den Armen sehnte die mich einst gerettet hatten.
Nichts anderes als seinen Herzschlag unter meinem Ohr und seine Wärme an mir wollte ich, doch was ich hatte war Angst, Einsamkeit und das Wissen das die Zunft ein wankendes Gebilde war.
Meine Finger wollten durch seine Locken fahren doch alles was sie spürten waren meine nassen Wangen. Ich unterdrückte einen Schrei als sich das Gewicht der Situation in meinen Gedanken festsetzte. Niemand war da als ich versuchte mich selbst zu beruhigen, keine Hand lag auf meiner Schulter und es sprach auch keine Stimme von Hoffnung.
Ich wünschte meine Mutter wäre da um mir eine ihrer schmerzlich vermissten Notfall Umarmungen zu geben, sie hatte mich in eben jenen so fest gehalten das ich keinen Muskel mehr rühren konnte, doch es war eine beruhigende Enge gewesen, eingehüllt von ihrem Geruch, ihrer Wärme und ihrer Präsenz waren meine Sorgen geschmolzen ohne auch nur den Hauch eines Rückstandes zu lassen.
Wäre mein Vater hier würde er mit seinen rauen Fingern durch meine Haare fahren während ich mehr oder weniger zusammenhängend mein Herz ausschüttete. Egal wie Zusammenhanglos meine Worte werden würden, er würde zuhören, nicken und am Ende eine Lösung finden die so simpel war das ich nicht in tausend Jahren darauf gekommen wäre.
Sue würde mir zuflüstern das ich sicher war, das sie aufpasste und das alles gut werden würde. Das sie sich um alles kümmern würde und das ich ihr nur vertrauen müsste. Sie würde mich kleine Schwester nennen und sich Geschichten für mich ausdenken bis ich nicht anders konnte als über deren Absurdität zu lachen. Ihr Blick würde dann so sanft werden, als wäre ich es wert.
Ich wollte daran glauben das sie nicht vollkommen fort waren, das sie über mich wachten und das ich ihre Nähe spürte, doch ich fühlte nichts und alles was ich hörte war die Stille geboren aus den Konsequenzen meiner Taten.
*
Ich erwachte Stunden nachdem ich eingeschlafen war, zumindest nach der Position der Sonne die durch das Fenster hinein schien zu Urteilen. Mein Kopf schmerzte und mein Mund war trocken, dennoch fühlte ich mich besser als zuvor. Mit einem Ruck setzte ich mich auf, ich war gekommen um nach Becca zu sehen und nicht um mich von ihr umsorgen zu lassen, das Glas Wasser auf dem Nachttisch sprach von meinem Scheitern in dieser Angelegenheit.
Doch es war auch ein gutes Zeichen, sie hatte daran gedacht es mir zu bringen also war sie zumindest in einem oberflächlich funktionellen Zustand zurückgekehrt. Der Schrecken über ihre Reaktion und meine Unfähigkeit ihr zu helfen lagen noch immer schwer auf meinem Gewissen.
Ich rieb mir über mein Gesicht bevor ich es schlussendlich in meinen Händen versteckte. Was hatte ich getan? Warum schien alles was ich für meinen Bruder tat immer dazu zu führen das es ihm am Ende schlechter ging als zuvor? Alles was ich wollte, was ich immer gewollt hatte, war das es ihm gut ging, das er sicher und ja sogar glücklich war. Doch nun war nichts von all dem der Fall und daran war ich Schuld.
Schlimmer als das hatte ich es sogar noch genossen diese geheime Zeit mit Becca zu haben, hatte mich darauf gefreut, nicht das ich dies jemals zugeben würde, sie zu sehen. War froh gewesen eine Freundin sowie Verbündete zu haben. Alles auf kosten meines kleinen Bruders. Doch selbst in diesem Wissen konnte ich nicht fern bleiben, was machte das mich?
Mit einem tiefen Atemzug beschloss ich das es Zeit wurde zu tun was ich immer tat, weiter. Es gab nur einen Weg und dieser ging nach vorn.
*
„Du hast geweint" ich rollte meine Augen, natürlich sah er es, ein Holmes sah alles. Es war sinnlos auch nur zu versuchen zu widersprechen. Immerhin war ich laut Sherlock eine schreckliche Lügnerin. Ironisch das eben jene ihn am Ende dennoch getäuscht hatte, nicht allein aber dennoch in einer Hauptrolle.
Ich sah zu Mycroft welcher sich so repräsentabel wie möglich gemacht hatte aber dennoch sah man ihm die geschlafenen Stunden in seinem Anzug an. Statt einer Antwort schenkte ich ihm das beste Lächeln zu dem ich in diesem Moment im Stande war, es schien ihn nicht vollkommen zu beruhigen aber seine Augen wurden weicher. In diesen Tagen musste man wohl die kleinen Siege feiern.
„Wie geht es dir?" wollte er als nächstes Wissen, seine Augen flogen für einen Moment über meine nackten Unterarme, ich versuchte darin keinen Vorwurf oder bösen Willen zu sehen, er hatte ja Recht, meine Geschichte zeigte deutlich wie schlecht ich mit seelischem Schmerz umgehen konnte.
„Gut" versicherte ich ihm und verschränkte meine Arme, das verkaufte die Idee natürlich eher schlecht als recht aber er sah mich auf diese brüderliche Art aus seinen müden Augen an. „Kannst du bitte noch ungenauer sein, ich habe das Gefühl da waren noch zu viele Informationen enthalten."
Mein Mund öffnete sich leicht als er mir meine Worte von vor ein paar Tagen als Antwort zurückwarf. Ich konnte nicht anders als nunmehr wirklich zu lächeln. Er musste wahrlich unterhaltsame Diskussionen mit Sherlock gehabt haben als die beiden noch Kinder gewesen waren, ich konnte es mir bildlich vorstellen.
Zwei außergewöhnliche Jungen die über ihre Intelligenz gar nicht bemerkten wie kindisch sie sich doch verhielten, wie sehr sie doch nicht umhin kamen trotz all dieser aktiven Gehirnzellen einfach normale Brüder zu sein. Es waren gewiss Auseinandersetzungen auf einem ganz anderen akademischen Level gewesen und doch war es im Zweifel auch nur darum gegangen wer nun bestimmen dufte was gespielt wurde.
Als ich den Mann vor mir ansah wusste ich jedoch das er im Zweifel immer nachgegeben hatte, seine Liebe für Sherlock kam beinah der meinem gleich, wenn auch ihre Farbe eine ganz andere war.
„Nichts von dem ist deine Schuld" sagte ich (erneut?), nach einer kurzen Pause fügte ich an „Das weißt du, oder?" statt mir jedoch zu sagen warum er sich doch schuldig fühlte oder eine andere Argumentation in dieser Richtung zu beginnen sah er mich nur einen Moment lang an bevor er schließlich sprach.
„Ich denke das du diese Worte ebenfalls hören sollest" mit einem stechen in meinem gebrochenen Herzen musste ich zugeben das der Eismann damit ins schwarze getroffen hatte. „Es ist nicht deine Schuld Becca" es tat gut es zu hören, selbst wenn ich es nicht glauben konnte.
Geschlagen sahen wir einander an, wann würde dieser Alptraum aus Schuldgefühlen, Lügen, Anspannung und schlaflosen Nächten nur Enden?
*
„Ich will ihn sehen" war das erste was aus mir herausbrach als Mycroft und ich uns auf das Sofa im Wohnzimmer gesetzt hatten. Wir waren beide an einem Punkt an dem wir nicht sahen oder wussten was dieses Ereignis uns sagen sollte, ob es uns etwas sagen sollte oder ob es einfach ein grausamer Streich des Schicksals war.
Eines Tages würde ich es vielleicht wissen aber bis dahin war meine größte Sehnsucht die Liebe meines Lebens zu sehen, selbst wenn es nur für einen Moment wäre.
„Das ist unmöglich und das weißt du" versuchte Mycroft diesen Gedanken bereits im Keim zu ersticken, sein Ton war fest, wenn gleich er nicht so wirkte als sagte er diese Worte gerne. Ein Umstand den ich wohl zu seinem Bedauern bemerkte, denn er gab mir den Boden weiter zu bohren.
„Er liegt im Koma, er wird es nicht merken" versuchte ich es mit Logik, dies war ein Schritt der bei Sherlock immer geholfen hatte, auch wenn ich realistisch betrachtet bei diesem Holmes nie wirklich um etwas hatte bitten müssen. Sein Bruder jedoch war einer härtere Nuss wie ich feststellen musste.
„Dr. Watson jedoch schon" gab er zu bedenken, ein dumpfer Schmerz pochte in meiner Brust, ich vermisste John, seine ruhige Art, seine einzigartigen Gesichtsausdrücke und die Sicherheit die seine Anwesenheit auslöste. Doch ich wusste das ich ihm nicht begegnen dufte wenn ich ins Krankenhaus wollte.
„Wir warten bis John gegangen ist" schlug ich hoffnungsvoll und mit mehr Energie vor als ich für möglich gehalten hatte. Es war eine gute Idee, immerhin hatte ich wortwörtlich nichts besseres vor mit meinen Tagen und so sehr sich der Arzt auch um seinen besten Freund sorgte, er war gewiss nicht jede Minute, jeden Tages an seiner Bettseite, demnach gab es ein Zeitfenster das wir nutzen könnten.
Man müsste nur herausbekommen wann er anderweitig beschäftig war aber das wäre eine Kleinigkeit für die britische Regierung deren Hobby sowie so das Stalken seines Bruders und dessen Freunden war. Also gab es kein Problem, meine Haare waren gefärbt und meine Kontaktlinsen verdeckten meine ungewöhnlichen Augen.
Doch mein „Niemand sonst wird mich erkennen" wurde zeitgleich mit seinem „Nein" gesprochen. Mit zunehmender Frustration sah ich ihn an, ich war bis zu diesem Punkt eine wirklich nette Geisel in seinem Haus gewesen aber nun wollte ich wirklich gehen, doch ich würde sogar zurückkommen, freiwillig.
„Es ist zu gefährlich" versuchte es der Eismann in einem ungewohnten Ton, nicht sanft, nicht genervt aber auch nicht wirklich gleichgültig.
„Bitte" versuchte ich es erneut auf die diplomatische Art, ich rieb mir mit meinen unruhig werdenden Händen übers Gesicht. Ich wusste das er mich beschützen wollte aber ich war dennoch eine eigenständige Person, meine Wünsche und Entscheidungen sollten eine Rolle spielen.
In meinem Inneren spürte ich ein altbekannten Gefühl der Hilflosigkeit. Wie oft hatte ich schon dasitzen müssen nur um anzusehen wie andere Menschen bestimmten was mit mir geschah, was ich tat oder auch nicht tat. Mein Leben war für den größten Part von fremden Händen geformt worden.
Meine Eltern hatten den Anfang gemacht, sie hatten mich beschützen wollen aber im Endeffekt begannen sie die lange Liste an selbsternannten Autoritätspersonen die mir meine Selbstbestimmung aberkannt hatten. Ich hasste es aber als ich darüber nachdachte stellte ich fest das jeder Mensch dem ich je begegnet war auf dieser Liste stand.
Und auch wenn ich sie liebte und dankbar für ihre Hilfe war so musste ich doch feststellen das auch John, Mrs. Hudson, Mycroft und ja auch Sherlock nicht gefragt hatten als sie beschlossen mich aufzubauen. Ich hatte sterben wollen, zu meinen Bedingungen, keine kluge Entscheidung aber es war die meine gewesen, doch wie so oft war alles anders gekommen.
„Es geht ihm gut, die Ärzte sagen er wird bald aus dem Koma geholt" unterbrach Mycroft meine rasenden Gedanken. Ich schüttelte meinen dröhnenden Kopf und kam auf das aktuelle Problem zurück.
„Ich muss ihn dennoch sehen" blieb ich hart und ungewollte Tränen bildeten sich in meinen Augen.
„Warum ist dir dies so wichtig?" wollte der angeblich klügste Mann im Lande wissen, ich glaubte kaum das er es fragen musste. Ich liebte seinen Bruder, er lag in einem Koma, hilflos, allein und das bei seiner Abneigung gegen Krankenhäuser. Es war natürlich das man einem geliebten Menschen in solchen Umständen nahe sein wollte. Doch dann erkannte ich das dies nicht der einzige Grund war und dies war es wohl was die britische Regierung gemeint hatte.
„Ich muss sehen das ich ihn nicht auch getötet habe" gestand ich also, mein Blick lag auf meinen Händen und ich konnte beinah das Blut an eben jenen kleben sehen.
„Becca" nun war seine Stimme sanft, zaghaft sah ich zu ihm auf. Ich wollte kein Mitleid oder falsche Worte der Beruhigung doch was ich in seinen Augen sah war die unendliche Geduld eines großen Bruders und dessen Liebe.
„Diese Drogen zu nehmen war Sherlocks Entscheidung. Er ist ein erwachsener Mann und er sollte es besser wissen als dem Ruf seiner Sucht zu folgen, ganz gleich der Umstände." Das war das nächste zu dem er kam zuzugeben das sein kleiner Bruder Schuld an dieser Situation war, doch ich wusste es besser, selbst wenn ein Teil von ihm es glaubte so sah ich das er sich dennoch nicht reinwaschen konnte von seinem Gefühl des Versagens.
Vielleicht fügte er auch deshalb an „Außerdem kenne ich meinen Bruder, selbst wenn dem so wäre, selbst wenn es deine Schuld wäre, was es nicht ist, für dich zu sterben käme ihm wie eine Ehre vor."
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