Mitternacht
Noch im Türrahmen ziehe ich meine Schuhe aus, um möglichst leise rauf in mein Zimmer zu schleichen.
Ein paar mal stolpere ich auf den Treppen, schaffe es aber immer noch rechtzeitig mich am Geländer festzuhalten und nicht zu fallen. Oh man, ich habe doch ein wenig mehr getrunken, als gedacht.
"Fuck," fluche ich, als meine Tür laut quietscht, bei dem Versuch sie zu öffnen. Schnell versichere ich mich, dass es keiner gehört hat, bevor ich in mein Zimmer schlüpfe und die Tür möglichst leise wieder schließe. Auf der Stelle öffne ich ein Fenster, ziehe mich um und lasse mich ins Bett fallen. Wiedereinmal holt mich der Schlaf nach nur wenigen Minuten ein.
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Wach werde ich von lautem Gerede. Hört sich ganz nach meiner Mutter und Brandon an. Ich versuche zu lauschen, bekomme aber nur wenige Satzteile mit.
Als plötzlich meine Zimmertür aufgerissen wird, zucke ich erschrocken zusammen. Sowohl Erleichterung, als auch Wut stehen meiner Mutter ins Gesicht geschrieben. "Er ist hier," ruft sie die Treppe herunter, bevor sie wieder zu mir blickt. "Und du mein Freundchen, aufstehen und ab in die Küche. Mit dir hab ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen."
Ein wenig überrumpelt und verwirrt darüber, was ich denn getan haben soll, folge ich ihr eilig. Wie vermutet lehnt mein ältester Bruder an der Küchentheke. Mit seinen zerstrubbelten Haaren und dunklen Augenringen, sieht er ziemlich verkatert aus. Wahrscheinlich wurde es noch etwas länger bei ihm und Tom.
Erwartungsvoll sehe ich zu meiner Mutter, mache mich mental schon mal bereit für eine Moralpredigt. Wofür auch immer.
"Jim Timothy Novak, was denkst du dir bitte dabei, mitten in der Nacht einfach aus irgendeiner Bar zu verschwinden, ohne jemanden bescheid zu geben?! Brandon und Tom haben dich gesucht, dich angerufen und du gehst nicht einmal an dein Handy! Wie bist du überhaupt nach Hause gekommen? Du bist doch nicht etwa alleine gelaufen oder?"
Ich schlucke hart, während ich mir den Nacken reibe. Ich hatte vollkommen vergessen Brandon und Tom bescheid zu geben. Ich dachte, dass sie sowieso nichts mehr merken würden. Verzweifelt suche ich nach einer guten Ausrede. Ich könnte alles auf meine Brüder schieben. Sagen, dass die so blau waren, dass die sich nicht mehr erinnern können, wie ich ihnen gesagt habe, dass ich mit einem Taxi nach Hause fahre. Den Beiden kann meine Mutter schließlich kein Hausarrest oder sonst was geben und die müssen sich auch ihr Gemecker nicht mehr 24/7 anhören.
Kurz erscheint mir das als eine gute Lösung, doch das würde nur Streit mit Brandon und Tom bedeuten.
Seufzend sage ich also die Wahrheit. Die halbe Wahrheit jedenfalls. "Tut mir leid, ich hatte vergessen Bescheid zu sagen. Ich war so müde und wollte einfach nur nach Hause. Und nein, keine Sorge, natürlich bin ich nicht zu Fuß gegangen. Ich weiß doch, dass du das nicht möchtest. Außerdem wollte ich nicht, dass Brandon und Tom mich irgendwie hier her bringen müssen, wenn die doch schon so oder so so einen weiten Weg zurück zum Hotel haben. Tut mir leid."
Quälende Sekunden vergehen, in denen man meiner Mutter ansehen kann, wie sie überlegt.
"Du hättest wenigsten schreiben oder an dein Handy gehen können. Wofür hast du das Teil? Ich bin schon enttäuscht von dir, Jimmy. So oft haben wir dir erklärt, wie das zu laufen hat, wenn du aus bist und ich dachte, du wüsstest das langsam. Anscheinend bist du aber einfach noch nicht reif genug dafür." Natürlich zieht sie wieder diese Karte. Mom ist nie wütend auf mich. Nein, sie ist enttäuscht. Und sie weiß genau, dass das tausend Mal schlimmer ist.
Abermals entschuldige ich mich, während ich Brandon flehende Blicke zu werfe. Wieso kann er mir nicht einmal helfen?
"Ich denke du solltest erstmal ein paar Tage zu Hause bleiben, Jim. Und da du das Ding ja anscheinend eh nicht benutzt, will ich dein Handy. Beides gilt bis nächsten Sonntag."
Einen Moment überlege ich zu versuchen dagegen zu argumentieren, entscheide mich dann aber dagegen. Das würde nichts nützen. Wenn sie sich einmal eine Meinung gebildet hat, bleibt sie meistens auch dabei.
Stumm verlasse ich den Raum, um mein Handy zu holen. In meinem Zimmer checke ich noch einmal die letzten Nachrichten, setze in meinen WhatsApp Status rein, dass ich nur noch über Facebook erreichbar bin und schalte es aus. Wieder unten angekommen drücke ich meiner Mutter das Handy wortlos in die Hand, während ich Brandon wütend anblicke. Wieso musste er ihr überhaupt davon erzählen?
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Da ich ja wie ein fünf jähriges Kind Hausarrest habe, bleibe ich allein zu Hause und sehe fern, während meine Familie gemeinsam den Tag im Einkaufszentrum verbringt und danach essen geht. Dass ich nicht einmal dahin mit darf, ist wirklich übertrieben. Schließlich sehe ich meine Geschwister auch nur noch zu Weihnachten, Geburtstagen und dieser einjährigen Familien Zusammenkunft.
Während die alle gerade vermutlich saftiges Steak in sich herein schaufeln, muss ich mich mit Tiefkühlpizza begnügen.
Mit der Zeit fange ich mich zudem noch an zu langweilen. Im Fernsehen läuft nichts und zu lesen habe ich auch nichts mehr. Ein Blick verrät mir, dass es bereits zehn Uhr ist und von meinen Eltern ist noch immer keine Spur in Sicht.
Eine Weile lang hadere ich mit mir, eigentlich war ich nie so. Aber irgendwann kann ich den Drang, raus zu gehen, nicht unterdrücken. Es ist einfach so unfassbar langweilig. Unter meine Bettdecke lege ich Kissen, so wie man es immer in Filmen sieht und schalte das Licht aus. Hoffentlich fallen sie darauf rein.
Bevor ich das Haus verlasse, versichere ich mich noch einmal, dass meine Eltern nicht gerade die Straße herunter gefahren kommen und gehe dann schnellst möglichst weg. Ich nehme extra Wege, wo ich weiß, dass sie da nicht lang fahren würden, was mich rund 20 Minuten mehr kostet. Dafür komme ich tatsächlich unentdeckt an meinem Ziel an. Die Bar von vorheriger Nacht.
Da heute Sonntag ist, ist es im Gegensatz zu Gestern etwas ruhiger. Trotz allem sind die meisten Plätze besetzt. Teils von den Eagles, teils von Männern über 50, die hier ihren Frust über ihr erfolgloses Leben ertrinken. Unsicher lasse ich mich auf einem Hocker am Thresen nieder, so dass ein Platz frei ist zwischen mir und dem übergewichtigem Mann rechts und links neben mir nur eine Wand ist.
Ich bestelle mir ein Bier und sehe mich um. Ich suche nach Jensen. Ich hatte das Bedürfnis ihn wieder zu sehen. Vielleicht mache ich mir mal wieder zu große Hoffnungen oder bilde mir etwas ein, aber ein Versuch ist es doch Wert, oder? Den ganzen Tag schon habe ich darüber nachgedacht. Eigentlich sollte ich mich von jemanden wie ihm fernhalten, von einem Eagle, und erst recht nicht seine Stammkneipe aufsuchen. Aber uneigentlich bin ich jung und sollte mein Leben genießen. Andere in meinem Alter hatten schon unendlich viele Beziehungen, waren alleine im Ausland und feiern jedes Wochenende bis zum abwinken.
Natürlich ist es nicht so, dass ich nicht schon das ein oder andere Mal mit jemanden auf einer Party rum gemacht habe oder viel zu betrunken war, aber wirklich etwas besonders Aufregendes habe ich nie getan. Vielleicht sollte ich das alles hier als ein Abenteuer betrachten und als Lebenserfahrung. Muss nicht jeder Jugendliche mal etwas total Dummes und Unüberlegtes tun. Etwas tun, wo von Anfang an klar ist, dass es ein riesen Fehler ist?
Das ist doch der Sinn vom jung sein. Fehler machen, daraus lernen, daran wachsen, um später als Erwachsener die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Lieber jetzt, als später.
Ich trinke ein Bier nach dem anderen, aber Jensen ist nicht in Sicht. Enttäuschung macht sich in mir breit. Ich war mir so sicher ihn heute hier anzutreffen, aber anscheinend ist er, entgegen meines Glaubens, nicht jeden Abend hier.
Um null Uhr gebe ich es auf. Ich bin sowieso schon viel zu lange weg, dafür dass ich morgen, oder eher heute, Schule habe. Seufzend bezahle ich und verlasse die Bar, und erst da wird mir auch klar, dass ich ohne Handy kein Taxi rufen kann. Also drehe ich wieder um, um den alten Herrn hinter der Theke zu fragen, ob ich einmal telefonieren könnte. Dummerweise habe ich nicht bemerkt, dass hinter mir jemand stand, den ich deshalb anrempel. Schnell entschuldige ich mich, bis ich erkenne, dass es Jensen ist.
Kurz huscht mir ein Lächeln über die Lippen. "Oh hey, J. Was machst du denn hier?"
"J?" Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen über den seltsamen Spitznamen zusammen. "Find ich besser als Jimmy," erklärt er kurz, bevor er wieder nachharkt, was ich denn hier machen würde.
"Ich, naja, ich wollte bisschen raus. Weg von zu Hause," gebe ich ehrlich zu. Den Teil, dass ich darauf gehofft habe, ihn noch zu treffen, lasse ich mal lieber raus.
"Und jetzt willst du schon nach Hause?" Unsicher nicke ich.
"Wie wärs noch mit einer kurzen Spritztour?" Grinsend deutet der Ältere auf seine Harley und Erinnerungen von gestern kommen wieder hoch. Wie ich zwischenzeitlich Todesangst hatte, mich aber auch lebendiger denn je gefühlt habe. Noch einmal gucke ich auf die Uhr, bevor ich seufzend zustimme. Ich sollte wirklich schlafen, andererseits will ich mir nicht die Gelegenheit entgehen lassen, mit Jensen zu fahren.
Diesmal etwas mutiger, setze ich mich hinter ihn auf den Sitz und schlinge meine Arme um seinen Oberkörper. Wieder habe ich seinen Helm auf, während er ohne jeglichen Schutz fährt. Allerdings bezweifle ich, dass er den Helm tragen würde, wäre er allein unterwegs.
"Wo fahren wir hin?" Frage ich über den Fahrtwind hinweg, während er anscheinend recht zielstrebig aus der Stadt hinaus fährt. "Wirst du schon sehen."
Wir sind sicherlich zwanzig Minuten unterwegs, bis mir die Gegend wieder bekannt vor kommt. Hier irgendwo ist das Hotel, in dem meine Geschwister übernachten. Und auch nur wenige Minuten später fahren wir daran vorbei und um den See herum, bis wir auf der anderen Seite sind.
"Was ein schnulziger Ort," scherze ich, während ich zum Ufer des Sees gehe. Dass jemand wie Jensen mich an solch einen Ort bringt, überrascht mich. Und langsam wird mir klar, dass das kein Kerl machen würde, der nur dein Kumpel sein will. Vielleicht will er ja auch mehr?
Halt. Stopp. Ich muss auf dem Boden bleiben. Andauernd mache ich mir viel zu schnell, viel zu viele Hoffnungen.
"Ich mag den Ort hier." Der Biker lässt sich in das Gras fallen, vorsichtig setze ich mich neben ihn. "Hier sucht niemand nach den Leichen."
Mit aufgerissenen Augen sehe ich ihn an, als mein Herz kurz aussetzt. Leichen?
Sein Blick scheint mich zu durchbohren, bevor er laut auflacht. "Oh man, du hättest deinen Blick sehen müssen." Auch ich lache kurz, aber nur halbherzig. Für einen Moment hat er mir wirklich ein wenig Angst gemacht.
Einige Minuten lang verfallen wir beide in Schweigen und blicken einfach auf das stille Wasser. Es ist aber nicht unangenehm, nein im Gegenteil. Kurz sehe ich zu Jensen rüber, als er sich ein wenig umpositioniert und seine rechte Hand nur knapp hinter mir abstützt. Er schenkt mir ein leichtes Lächeln, welches ich erwider. "Weißt du J, du bist gar nicht so spießig, wie deine Familie und dein Haus es vermuten lassen." Ich lache leicht:"Eh danke?"
"Bitte." Kurz erschrecke ich mich, als seine Hand auf meinem Bein landet und er sich etwas mehr zu mir dreht. Entspanne mich aber, als sein Daumen kleine Kreise auf meinem Oberschenkel malt. "Und, weißt du Jensen, eigentlich bist du gar nicht so böse, wie deine Lederjacke es vermuten lässt."
Der Brünette zieht skeptisch eine Augenbraue hoch, "Sicher?" "Sicher." Wiedereinmal hebt er seine Mundwinkel, bevor sein Gesicht sich meinem nähert. Sekunden kommen mir vor wie Minuten, als er mir immer näher kommt, bis ich seinen rauchigen Atem spüren kann. Meine Augen sehen in seine grünen, bevor ich sie schließe und er seine Lippen auf meine legt. Nur kurz, nicht fordernd, küsst er mich. Ich will mehr, als er sich ein paar Zentimeter von mir entfernt. Ich will das Kribbeln wieder spüren, während er mein Gesicht mustert. Ob er versucht, zu erkennen, ob es mir gefallen hat? Oh Himmel, ja, fas hat es. Aber hat es ihm gefallen? Erst jetzt sehe auch ihn genauer an. Er lächelt nicht, aber sein Blick wandert von meinen Lippen, zu meinen Augen, zurück zu meinen Lippen. Und ich würde behaupten genug Erfahrung zu haben, um zu wissen, was das bedeutet und küsse ihn wieder.
Diesmal ist es länger. Intensiver. Während seine eine Hand in meinem Nacken liegt und mich an ihn zieht, streicht die andere weiter über meinen Oberschenkel. In meinem Körper spielt alles verrückt und ich verliere mich in dem Kuss. Ich spüre zwar wie seine Finger immer wieder kurz über meinen Schritt streichen, und ich weiß, dass es falsch ist, aber ich mache auch nichts dagegen. Ich will ihn eigentlich nur küssen. Ich bin keiner, der gleich beim ersten Date aufs Ganze geht, auch wenn ich keine Jungfrau mehr bin. Aber solange er nicht weiter geht, werde ich ihn nicht unterbrechen. Zu schade wäre es, dafür meine Lippen von seinen zu trennen.
Ich spüre wie er sich mehr über mich beugt und mich runter drückt, bis ich im Gras liege, lasse aber auch das zu. Noch ist das alles okay für mich. Ohne unseren Kuss länger als eine Sekunde zu trennen positioniert Jensen sich über mir. Seine Arme stützten sich neben meinem Kopf ab, während ein Bein zwischen meinen liegt. Seine Brust drückt an meine, ohne zu viel Gewicht darauf zu verursachen. Nach einiger Zeit, als meine Lippen ebenso pochen wie mein Herz, löst er sich von mir. Wir beide holen Luft, als wären wir so eben einen Marathon gelaufen.
"Ich könnte die ganze Nacht weiter machen, J. Aber du solltest langsam nach Hause, du musst früh aufstehen." Enttäuscht sehe ich den Älteren an, als er aufsteht und mir die Hand reicht, um mich hochzuziehen. Wieso musste er mich daran erinnern? Wieso hätten wir nicht einfach weiter machen können?
"Komm, ich fahr dich noch."
Bei mir angekommen, steige ich ab. Das Auto meiner Eltern ist noch nicht da. Gut.
"Ruf mich mal an, J." Ich schmunzle auf Grund des Spitznamens, langsam gefällt er mir. Jensen drückt mir einen Zettel mit seiner Nummer in die Hand, bevor wir uns noch einmal küssen und er weg fährt.
Paar Sekunden blicke ich ihm hinterher, bis ich ihn aus den Augen verliere und den Weg zur Haustür entlang gehe.
Ein Motorengeräusch und Scheinwerfer, die unsere Hauswand erhellen, lassen mich allerdings an Ort und Stelle erstarren.
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