Kapitel 3

Timotheus und Balsa verließen die Höhle, in der sie einen viel zu langen Tag verbracht hatten, erst wieder, nachdem das Licht langsam schwand. Timotheus Gelenke knackten vom langen Stillsitzen, als er sich versuchte aufzurichten. Balsa ging es nicht anders. Im Dunkel der Nacht dauerte es ein bisschen länger, bis sie die Höhle wieder verlassen hatten.
Mit einem genüsslichen Seufzen streckte sich Balsa und schüttelte seine steifen Glieder aus. Nur spärlich fiel Mondlicht durch das Blätterdach. Timotheus konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Er musste sich langsam voran tasten, um nicht über hervorstehende Wurzeln, morsche Äste oder Steine zu stolpern. Dazu machte er auch noch einen ziemlichen Krach, der etwaige Menschen in der Nähe auf sie aufmerksam machen könnte.

Auch wenn er versuchte leise zu sein, war da irgendwo immer etwas im Weg, sei es ein tiefhängender Ast des nächstgelegenen Baumes oder ein Busch, in der er in seiner Nachtblindheit hineinlief. Jedes Mal zuckte er zusammen und wartete quälend lange ab, ob sich irgendetwas tat, ob jemand ihn gehört hatte und jetzt die Quelle der Geräusche suchte.

In seiner immer wieder auftretenden Panik fiel ihm erst spät auf, dass Balsa, trotz der imposanten Figur und beträchlichten Gewichts, kaum einen Laut machte. Er schien genau zu wissen, wie er laufen musste, um nichts rascheln, knacken oder sonst irgendwelche verräterischen Geräusche machen zu lassen. Oder er hatte sich still heimlich aus dem Staub gemacht.

Es war in einer von Timotheus langen Pausen, in der er nach Balsa flüsterte und tatsächlich eine Antwort bekam.

„Was ist, mein König?"

„In mir kam nur die Frage auf, ob Ihr überhaupt noch an meiner Seite seid. Ihr bewegt Euch so leise", erklärte Timotheus knapp und mit warmen Gesicht seinen Gedankengang.

Balsa versicherte ihm: „Ich würde Euch nicht vollkommen allein nachts durch einen Wald wandern lassen."

Timotheus schwieg, machte einen Schritt und unter seinen Schuhsohlen knackte etwas. Wieder hielt er den Atem an. Hörte er da nicht vielleicht doch etwas? Er lauschte intensiver. Balsa neben ihm sog tief die Luft ein. Da raschelte doch etwas? Oder waren das nur die Geräusche des nächtlichen Waldes? Vielleicht irgendein Tier, das nicht schlafen konnte? Aber nein, das Rascheln wurde lauter. Es hörte sich beinahe an wie Schritte.

„Balsa", flüsterte er dringlich. „Ich glaube, da kommt jemand."

Balsa blieb still. In Timotheus staute sich der Drang zu fliehen, zu rennen so schnell er konnte und nicht mehr zurück zu sehen. Wenn sie ohnehin entdeckt worden waren, dann konnte er so laut sein wie er wollte, dann zählte nur noch die erneute Flucht.

„Mein König, vertraut mir und bleibt hier stehen", flüsterte Balsa und leichtfüßige Schritte, die Timotheus mehr spürte als hörte, entfernten sich von ihm.

Er hatte nicht einmal widersprechen können, da war Balsa schon davongelaufen. Hatte er nicht gesagt, er ließe Timotheus nicht allein? Ein schönes Versprechen hatte er da gemacht.

Timotheus blieb stockstarr stehen. Waren da noch immer Schritte zu hören? Oder waren das nur raschelnde Blätter, die ihm einen bösen Streich spielten. Waren das Stimmen, die da undeutlich flüsterten oder doch nur der Wind, der den Wald murmeln ließ? Er konnte es nicht sagen und er war immer mehr geneigt, einfach loszustürmen und sich querfeldein durch den Wald zu schlagen. Nicht gerade der rationalste Gedanke, aber wenig an Timotheus war in diesem Moment rational. Irgendwie behielt er sich im Griff, vielleicht hatte er auch einfach zu viel Angst vor dem Alleine sein, aber als Balsa wiederkam, schlotterte er noch immer an der gleichen Stelle wie zuvor, seine Ohren versuchten die winzigsten Geräusche aufzunehmen und wandelten sie für ihn in ein absolutes Horrorszenario vor seinem geistigen Auge um, meist mit sehr viel Seil um seinen eigenen Hals.

Damit Timotheus nicht flüchtete wie ein aufgeschreckter Hase, warnte Balsa ihn vor. „Ich bin es nur, mein König. Bitte macht Euch keine Gedanken. Ihr hattet recht, da waren Schritte, aber die gehörten Esmeralda."

Wie eine Blume dem Sonnenlicht wandte sich Timotheus Balsas Stimme zu und sein Puls ging beinahe augenblicklich etwas herunter.

„Esmeralda?", fragte er überrascht.

„Ja, das wäre dann wohl ich", sagte eine bekannte, leicht nasale weibliche Stimme, wegen der sich in Timotheus das große Wort Entschuldigung formte, das er doch nicht aussprechen konnte.

Stattdessen fragte er: „Wie hast du uns gefunden?"

„Ich bin eine Halbelfe", sagte Esmeralda als würde es alles erklären.

Timotheus verstand nicht was sie meinte. „Ja und?"

„Echt jetzt? Du weißt nicht, dass Halbelfen immer ganz genau wissen, wo jedes lebende Wesen ist, das sie jemals getroffen haben?", sagte Esmeralda schnippisch und mit für Timotheus' Geschmack zu lauter Stimme.

„Was? Wirklich?"

„Nein, du Idiot", sagte sie und ignorierte Balsas ermahnenden Kommentar, nicht ein solches Wort an den König zu richten, „ich bin auf gut Glück durch die Weltgeschichte gestolpert und habe gehofft, auf Zufall auf euch zu treffen."

„Und das hat geklappt?" Das wurde ja immer bunter.

Balsa seufzte. „Glaubt nicht alles, was sie sagt", bat er Timotheus. „Die Wahrheit ist, dass Halbelfen einen sehr guten Gehörsinn haben und sie uns schon von weiterweg hören konnte."

„Ich sag doch, ich bin auf gut Glück in die Wälder", murrte Esmeralda. „Warum laufen wir nicht?", beschwerte sie sich dann.

„Ich, ähm...", begann Timotheus, „ich... ich bin nicht besonders schnell. Und ich bin laut."

„Ja, das hab ich auch mitgekriegt", pöbelte Esmeralda. „Wenn Balsa allein durch Wald wäre, hätte ich euch nie gefunden. Aber ihr habt immer wieder angehalten und dann wusste ich nicht mehr, in welche Richtung ihr seid. Ich hätte sehr viel schneller hier sein können, aber nein, Timotheus muss ja vorsichtig sein."

„Natürlich muss ich vorsichtig sein!", sagte Timotheus, „sonst hören uns unsere Verfolger!"

„Du denkst doch nicht ernsthaft, dass diese Menschen die Nacht anders nutzen als zum Schlafen, besonders wenn es so stockfinster ist. Die haben viel zu viel Angst vor den Tieren, die hier nachts jagen und sie fressen könnten."

Timotheus' Herzschlag machten einen Satz. „Was? Wilde Tiere?"

„Esmeralda, hör auf den König so zu ängstigen", ermahnte Balsa die Halbelfe.

Esmeralda lachte gackernd. „Aber er macht es mir doch viel zu einfach. Ehrlich? Wilde Tiere sind das, was du im Moment am meisten fürchtest? Du hast ja keine Ahnung..."

Balsa stöhnte auf. „Esmeralda, bitte."

Auch wenn es schien, als machte Esmeralda schon wieder nur einen Scherz auf Timotheus' Kosten, so konnte er doch das Gefühl nicht abschütteln, dass sie ihre letzten Worte ernst gemeint hatte. Angstschweiß lief seine Seiten entlang. Wenn sie recht hatte, was meinte sie dann damit?

„Aber ernsthaft, warum laufen wir nicht?", fragte Esmeralda erneut.

„Wir könnten die Verfolger aufwecken, wenn wir zu laut sind, auch wenn sie schlafen", meinte Timotheus und versuchte seine Furcht zu unterdrücken. Esmeralda hatte gewiss nur blöde Faxen gemacht und ihn schlecht dastehen lassen wollen.

„Okay, Schlaumeier", begann Esmeralda und Balsa seufzte, gab es aber auf, sie korrigieren zu wollen, „wie schlafen die Menschen? In Gruppen. Was macht ein Teil der Menschen? Schlafen. Was macht der andere Teil? Wache stehen. Was brauchen sie dafür, weil sie richtige Angsthasen sind? Licht. Siehst du etwas? Nein. Ist hier irgendwo Licht? Nein. Ist hier irgendwo ein Lager? Nein. Schläft hier also irgendwo in der Nähe jemand? Nein? Musst du also stoppen, wenn du durch den Wald stolperst? Nein." Und damit ging sie an Timotheus vorbei, der ein Gesicht zog, das gnädigerweise durch die Dunkelheit verborgen blieb.

„Woher will sie wissen, dass alle schlafen?", fragte er kleinlaut.

Balsa seufzte. „Entschuldigt bitte ihr Verhalten, mein König. Sie ist gewiss nur ein wenig übermüdet, wie wir alle. Aber wenn es Euch beruhigt, könnte ich Euch erneut auf meinem Rücken tragen. Die einzige Unannehmlichkeit, die Ihr dann vielleicht haben werdet, sind die tiefhängenden Äste."

Timotheus überlegte. „Darf ich dieses Angebot wirklich annehmen?"

Esmeralda kam Balsa mit einer Antwort zuvor. „Wenn er es nicht ernst nehmen würde, dann würde er es wohl kaum anbieten!", sagte sie bissig. Unter ihrem Fuß brach ein Ast und Timotheus Kopf drehte sich hektisch in alle Richtungen, in der Hoffnung, nichts zu hören, das irgendwie an Verfolger erinnerte. Er traute Esmeraldas Argumentation nicht ganz.

„Dann nehme ich das Angebot gerne an", sagte er leise zu Balsa.

Es dauerte einen Augenblick, bis Timotheus sich um Balsa herum und auf seinen Rücken manövriert hatte, aber sobald das geschafft war, war die Reise für ihn deutlich angenehmer als zuvor. Balsas Schritte wurden mit Timotheus' zusätzlichem Gewicht nur ein wenig lauter, dafür aber um einiges schneller.

Auch Esmeralda war leise, wenn auch nicht lautlos. „Endlich geht es voran", sagte sie.

Timotheus musste ihr in Gedanken zustimmen. Er hatte Balsa wirklich sehr aufgehalten.

Die Äste waren kein so großes Problem, wie Timotheus sie nach Balsas Worten eingeschätzt hatte, und verbunden mit dem rhythmischen Schaukeln von Balsas Schritten, der Dunkelheit der Nacht, der Stille des Waldes, die nur ab und zu von Esmeraldas schnippischen Bemerkungen unterbrochen wurde, sowie Timotheus Müdigkeit, die vom langen Aufbleiben stammen musste, war Timotheus schnell auf Balsas Rücken eingeschlafen.

***

Als er wieder wach wurde, färbte sich der Himmel über ihm bereits dunkelblau und die Sterne, die mit letzter Kraft zwischen den Wolken hervorblitzten, begannen zu verblassen. In seiner Umgebung standen keine Bäume mehr, stattdessen ragten steile Felswände um ihn herum in die Höhe und bildeten einen natürlichen Kessel, der scheinbar vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten war. Der Großteil des Bodens war Fels, der sich leicht absenkte, doch an der niedrigsten Stelle des Kessels, an der Timotheus lag, war wahrscheinlich über Jahrhunderte Erde eingelagert worden, auf der jetzt spärliches Gras und dornige Sträucher wuchsen. Zwischen diesen lag Timotheus, in eine ihm unbekannte Decke gewickelt. Neben ihm saß Balsa an eine Felswand gelehnt da und schnarchte mit offenem Mund vor sich hin. Es hörte sich an, als würde jemand einen Baum umsägen.

Timotheus zog die Decke enger um sich und stand auf. Neben ihm stoben kleine, plumpe Vögel mit bunten Schnäbeln aus den Dornensträuchern hoch, dessen Bezeichnungen Timotheus nicht kannte. Sie waren lustig anzusehen, wie sie hektisch mit ihren kleinen Flügeln flatterten und sich auf der Kante des Kessels in Sicherheit brachten. Er fragte sich, wie sie so seelenruhig in den Ästen hatten hocken können, wo doch Balsa nur einen Schritt weiter mit seinem Schnarchen wohl eine ganze Lichtung in Wimpernschlägen hätte leer scheuchen können. Andererseits hatte er es ja ebenfalls bis vor einigen Momenten schlafend neben Balsa ausgehalten.

Mit fünf Schritten durchmaß er den Kessel. Gedankenverloren fuhr er mit der Hand über die steinerne Wand. In den kleinen Spalten hatte der Wind Erde und Samen geweht, sodass kleine, kümmerliche Wildblumen in rosa und violett ihre Blütenköpfe nach oben streckten. Einige Kelche waren so schwer, dass die dünnen Hälse sie nicht tragen konnten und nach unten hängen ließen. Außerdem wuchs Moos an den Wänden. Es schien ausgedorrt, von hellgrüner Farbe und bröseliger Konsistenz unter Timotheus' Fingern fielen trockene Kringel aus dem fleckigen Teppich heraus.

Hinter ihm verschluckte sich Balsa, war kurz leise und schnarchte dann weiter. Noch immer schläfrig und langsam drehte Timotheus sich um.

Neben Balsa stand Esmeralda und hielt Balsa die Nase zu. Als sie Timotheus' Blick bemerkte, sagte sie: „Das geht schon seit dem Morgengrauen so. Wenn er noch lange Krach macht, werde ich verrückt!"

Timotheus sagte nichts dazu. Stattdessen fragte er: „Wo sind wir?"

Esmeralda trat Balsa in die Seite, aber der Hüne wachte nicht auf und sein Schnarchen unterbrach er wieder nur für eine kurze Zeit. Esmeralda boxte ihn gegen die Brust. „Noch zwei Tagesreisen von dem Jagdschloss Eurer Königlichen Hoheit entfernt", sagte sie bissig.

Timotheus schien ihren Ton gar nicht zu bemerken. „Aber wo sind wir?"

Sie zog Balsa die Schuhe aus, verzog die Nase, pflückte einen Grashalm und begann seine Fußsohlen damit zu bearbeiten. „Irgendwo mitten in der Pampa, weit genug weg, dass die großen Suchtrupps uns nicht finden werden und versteckt genug, dass niemand aus Versehen über uns stolpern und uns verraten kann."

„Wie habt ihr ihn gefunden?"

„Balsa ist vorgegangen und hat auf Anhieb den einzigen, natürlichen Eingang gefunden, ohne dass wir von den Klippen heruntergefallen und uns alle Knochen gebrochen haben."

Timotheus machte ein verstehendes Geräusch. „Er scheint ganz gut im Versteck finden zu sein."

„Jap", machte Esmeralda und widmete sich wieder Balsa. „Jetzt müssen wir nur noch verhindern, dass irgendwer Balsas Schnarchen hört und uns anhand des Geräusches hierher folgt..."

„Vielleicht hilft es, wenn wir ihn hinlegen?", schlug Timotheus vor. Als er Esmeraldas fragenden Blick sah, beeilte er sich zu erklären: „Meine Mutter hat mir nur manchmal Geschichten von meinem Vater, dem König erzählt, wie er an seinem Schreibtisch über einigen Dokumenten eingeschlafen ist und das ganze Schloss wachgehalten hat mit seinem Schnarchen, weil das Geräusch von den steinernen Wänden so oft abgeprallt ist, aber es immer sofort verstummte, wenn er irgendwo lag und in ein leiseres Pfeifen überging." Timotheus ließ den Kopf hängen bei dem Gedanken an seine Mutter. Trostsuchend vergrub er die Nase in der Decke. Sie war noch ein wenig feucht und roch nach Dreck und Morgentau. „Dann hat sie mich immer ermahnt, dass ich nicht im Sitzen einschlafen soll, damit ich nicht das ganze Schloss wachhalte."

Esmeralda schwieg und einen Augenblick lang stand Mitleid und Sehnsucht auf ihrem Gesicht, was Timotheus aber nicht mitbekam, so versunken war er in seinen eigenen Erinnerungen. Sie zuckte mit den Achseln. „Wir können es auf alle Fälle ausprobieren."

„Mmh?" Timotheus sah sie fragend an.

„Na den Fettklops hier", sie deutete auf Balsa, „auf den Rücken zu verfrachten. Alleine schaffe ich das auf keinen Fall."

„Ich weiß nicht, ob ich eine große Hilfe wäre", gab Timotheus zu bedenken.

Esmeralda warf die Arme in die Luft. „Hast du Angst, du könntest dir deine Königlichen Fingerchen quetschen? Jetzt stell dich nicht so an und hilf mir gefälligst!"

Zögernd trat Timotheus auf die andere Seite von Balsa und griff zaghaft nach seiner Schulter. „Und wie soll ich jetzt helfen?"

Esmeralda versuchte Balsas Schulter runterzudrücken, musste aber schnell einsehen, dass das nichts brachte. Sie überlegte. „Versuch mal an den Füßen zu ziehen", sagte sie.

Timotheus folgte der Anweisung.

Gemeinsam schafften sie es, Balsa in eine horizontale Position zu bringen und tatsächlich wurde sein Schnarchen um einiges leiser, bis es nur noch ein lautest Schnaufen war.

Als die Geräuschkulisse kleiner wurde, konnte man Timotheus' Bauch grummeln hören. Peinlich berührt schaute Timotheus auf den Boden.

„Die Königliche Majestät hat Hunger, wie ich höre!", sagte Esmeralda und schnippte mit den Fingern. „Hätte ich doch nur etwas zu Essen dabei, das ich anbieten könnte! Das wäre vermutlich die korrekte höfische Etikette."

Timotheus Bauch rumpelte noch lauter bei der Erwähnung des Wortes Essen. Timotheus musste an die Geflügelsuppe mit Fasan denken, die er vorgestern gegessen hatte. War das wirklich erst vorgestern gewesen? Es kam ihm so viel länger vor. Ein Wunder, dass er noch nicht verhungert war.

„Du hast Glück", sagte Esmeralda und lief auf einen etwa Balsa breiten Spalt in der Felswand zu, der von eingedrückten Dornenbüschen bewachsen war, „dass ich mitdenke und nicht einfach wie ihr zwei Idioten unvorbereitet in den Wald renne, ohne mich vorher mit Essen eingedeckt zu haben." Sie haderte ein wenig mit einer Tasche, die sich in den Dornen eines Busches verfangen hatte, bekam sie aber schließlich frei und präsentierte sie Timotheus. „In dieser Tasche ist alles, was man zum Überleben in der Wildnis für einige Tage benötigt. Nur die frische Trinkwasserquelle war nicht inklusive."

Sie ließ sich auf etwas hervorragenden Felsen sinken und begann ihre Tasche auszupacken.

Timotheus lief ungewollt das Wasser im Mund zusammen, als er sah, was sie da aus ihrer Tasche hervorholte. Ein eingeschnürtes Paket entpuppte sich als mehrere Stapel getrocknetes und gesalzenes Fleisch, das einen leichten Seetanggeruch verströmte, in einem Beutel wartete getrockneter und gestampfter Maniko auf die Zugabe von Wasser, um zu einem nahrhaften Brei zu werden, und neben Schüsseln für genau diesen Zweck zog Esmeralda als letztes, sehr zu ihrem eigenen Vergnügen, einen Trinkschlauch mit aus Maniko gewonnenem Alkohol aus ihrer Tasche.

„Worauf wartest du?", fragte Esmeralda und klopfte neben sich auf den Stein. „Das alles isst sich nicht von selbst."

Timotheus kam der Aufforderung nur allzu sehr nach, und auch wenn das Essen nicht das war, was er eigentlich von der Schlossküche erwartet war, die hauptsächlich nahrhafte cremige Suppen für die königliche Tafel kochten, so war es doch etwas, was das große Loch in seinem Bauch, das sich über die letzten zwei Tage aufgetan hatte, füllte, und damit war er im Augenblick mehr als zufrieden.

Während die beiden aßen, war die Luft erfüllt von hungrigem Schmatzen, dem sich auch Timotheus nach einigen Augenblicken vollkommen hingab, wenn es bedeutete, dass das Essen schneller in seinem Magen landete. Außerdem konnte er mit getrockneten Wildstreifen und Brot nicht kleckern und sich die Klamotten versauen, wie es bei Suppe der Fall war. Mittlerweile war die Kunst des Suppe essens zwar für ihn zur Selbstverständlichkeit geworden, aber er erinnerte sich an die Flecken auf seinen feinen Oberteilen, die er für den Rest des Tages voller Scham durch das Schloss tragen musste, weil seine Mutter es den Zofen verboten hatte, ihn umzuziehen. Hier hatte er weder Suppe noch Zofen, nur ganz viele Krümel, die einfach zu Boden fielen, sobald er aufstand und sein Hemd sowie Hose abklopfte.

Als sie ihr Essen beendet hatte, war nichts mehr von dem Laib Maniko Brotes übrig und nur wenige Wildstreifen hatten ihren Weg nicht in Esmeraldas oder Timotheus nun endlich wieder vollen Bäuche geschafft. Das bedeutete für Esmeralda, dass sie den Trinkschlauch entkorkte und einen ordentlichen Zug daraus nahm, bevor sie ihn Timotheus hinhielt.

Skeptisch schnüffelte Timotheus an der Öffnung. Ein faulig-süßlicher Geruch schlug ihm entgegen und stach in seiner Nase. Er verkniff das Gesicht. „Was ist das?", fragte er.

Esmeralda sah ihn entgeistert an. „Sag mir nicht, du weißt nicht, was Manikogeist ist."

Timotheus schüttelte den Kopf. „Riecht nicht wie etwas, das man in einem langen Zug runterschlucken sollte, wenn es nicht direkt wieder rauskommen soll."

„Oh, ihr Könige gönnt euch wirklich nichts." Esmeralda deutete auf die Flasche. „Trink und du wirst alle Vorbehalte, die du je Arbeitern gegenüber hattest, über Bord werfen."

Timotheus roch nochmal an der Schlauchöffnung. „Aber es riecht wirklich nicht gut. Fast schon giftig."

„Jetzt sei kein Baby und nimm einen Schluck wie ein Mann. Wenn ich dich hätte vergiften wollen, dann hätte ich wohl kaum einen Schluck vorher genommen."

Zaghaft sippte Timotheus am Trinkschlauch. Sofort verzog sich sein Gesicht. Die wenige Flüssigkeit brannte in seinem Mund und Rachen wie Feuer. Er hustete. „Was zur Hölle ist das für ein Zeug?"

Esmeralda sah liebevoll die Flasche. „Das, mein Freund, ist flüssiger Stahl. Scharf wie die Klinge eines handgeschmiedeten Degens und mindestens genauso wertvoll wie einer. Und am richtigen Ort, zur richtigen Zeit kannst du damit viele Probleme lösen, genauso wie du am falschen Ort zur falschen Zeit mindestens genauso viele Probleme entstehen lassen kannst."

Timotheus Erziehung verbot ihm, den widerlichen Geschmack auszuspucken. Er wünschte, er hätte Wasser bei sich, der den süßlichen, pelzigen Geschmack, den der Manikogeist hinterließ, wegspülen zu können.

Esmeralda nahm einen Schluck nach dem anderen und mit jedem hob sich ihre Stimmung immer mehr. Als der Schlauch leer war, hampelte sie vor Timotheus hin und her und forderte ihn auf, mit ihr zu tanzen. „Hörst du nicht die Melodie des Windes und die Begleitung, die die Natur ihm bietet? Zu einem solchen Lied muss getanzt werden!"

Einige Zeit, einige philosophische Phrasen und viel Gestolpere später lag sie neben Balsa auf dem Boden und schlief.

Währenddessen hatte Timotheus herausgefunden, dass Esmeralda und Balsa sich erst seit einigen Jahren kannten und Balsa in dieser kurzen Zeit zu Esmeraldas engstem Vertrauten geworden war, sogar noch vor ihrer Schwester, von der Timotheus noch nie etwas gehört. Er hatte herausgefunden, dass Esmeraldas Mutter bei ihrer Geburt gestorben war und dass ihr Vater deswegen, wann immer er da war, überprotektiv war, was Esmeralda tierisch auf die Nerven ging. Sie sei schon im Kopf schon ganz erwachsen, auch wenn ihr Vater ihr einreden wolle, dass er noch Einfluss auf sie habe. Und dann hatte er sich noch seltsame Sätze über Balsas Dasein als Bär anhören müssen, dass Balsa so übertrieben natürlich war, dass es Esmeralda regelmäßig aus den Schuhen haute. Oder dass die Felsen mit ihr redeten und ihr von Zwergen erzählten, die tief in ihrem Bauch lebten und sich vor den Menschen in Acht nahmen. Oder dass Ziorbal einen bösen Masterplan ausheckte, um Sincan durch dessen Unterbauch zu übernehmen und das alles nur durch eine Person. Lauter so abstruses Zeug, das Timotheus doch sehr den übermäßigen Konsum von Alkohol anzweifeln ließ, den Esmeralda an den Tag gelegt hatte. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte gedacht, der Trinkschlauch enthielte Wasser, so kippte Esmeralda das Zeug weg.

Für Timotheus bedeutete Esmeraldas spontane Schlafeinlage zweierlei: Erstens war er eine zwar nettere aber auch nervtötendere Version von Esmeralda los, zweitens fiel er in einen Zustand der Paranoia zurück, der ihn schon gestern geplagt hatte. Was passierte, wenn die Revolutionäre sie doch entdeckten? Was passierte wirklich mit seiner Mutter? Was wenn er sie nie wieder sah und so weiter. Er war wieder einmal gefangen in einer Abwärtsspirale der schlimmen Gedanken. Er konnte den Kessel nicht verlassen, weil vielleicht war das genau der Augenblick, in dem ein Suchtrupp am Eingang vorbeilief und ihn auflas, genauso wie Balsa und Esmeralda, die für Vergehen wie Hochverrat gehängt würden, nur weil sie ihm eine helfende Hand ausgestreckt hatten. Balsas Güte war noch immer etwas, was Timotheus nicht vollkommen verstand, was sie für ihn aber nicht weniger ehrenvoll machte. Im Gegenteil, er war Balsa dankbar bis ans Ende der Welt und wieder zurück. Trotzdem krochen zum ersten Mal Zweifel in seinen Kopf, ob Balsa wirklich so lautere Absichten hatte, wie er es vorgab. Warum sollte er sein Leben für Timotheus aufs Spiel setzen, jemanden, den er nicht kannte und für dessen Unterstützung er das ganze Land gegen sich hatte. Was hatte ihn dazu bewegt, Timotheus helfen zu wollen.

Er dachte an die erste Begegnung mit Balsa zurück, als dieser ihn vor dem Attentäter seiner Mutter geschützt hatte, bevor es die Königliche Garde hatte tun können. Wie war er es ihm möglich gewesen, Timotheus so schnell und geistesgegenwärtig zu schützen, während alle anderen noch in Schockstarre gefangen waren? Hatte er vielleicht von dem Anschlag gewusst? Ihn womöglich mitgeplant, um Timotheus als Geisel für Lösegeld oder ähnliches zu entführen? Vielleicht war er ja gar nicht der Ritter in goldener Rüstung, für den Timotheus ihn hielt, sondern in Wirklichkeit der Bösewicht, der ihn gefangen hielt und Timotheus spielte ihm direkt in seine uneinsehbaren Karten. Vielleicht war er in Gegenwart von Balsa mehr in Gefahr als er ahnte. Woher wusste er überhaupt, dass Balsa ihm etwas Gutes wollte? Bisher hatte es immer so ausgesehen, als hätte Balsa ihn aus scheinbar ausweglosen Situationen gerettet, aber stimmte das wirklich? Balsa hatte ihm all diese Sachen über die Revolutionäre erzählt und dass sie die Burg gestürmt hatten, aber außer von einem Diener war diese Geschichte nie bestätigt worden. Ein Diener, den Balsa als möglichen Zeugen unschädlich gemacht hatte. Timotheus dachte an die Situation im Stall zurück. Er hatte angenommen, dass Balsa den Diener, dessen Namen ihm entfallen war, nur bewusstlos geschlagen hatte, aber warum war er sich da so sicher? Er hatte nicht nachgeprüft, ob der Diener nach Balsas Schlag noch am Leben war. Er hätte nicht einmal gewusst wie. Hatte Balsa den Mann umgebracht, weil er zu viel wusste? Obwohl dieser Mann Familie hatte? War Balsa in Wirklichkeit ein eiskalter Mörder, der alles nur so kalkuliert hatte, damit er vor Timotheus wie ein Held dastehen konnte? Um ihn auf diese Reise zu entführen, ohne ihn wirklich zu entführen? Die Möglichkeit bestand und je länger Timotheus darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien sie ihm. Die Männer, die nach ihm gesucht hatten am Tag nach ihrer Flucht, hatten weder Waffen dabeigehabt noch sonst etwas. Sie hatten nur nach ihm gesucht. Er war vor ihnen weggelaufen, weil er angenommen hatte, dass sie hinter ihm her waren, aber am Ende war es Balsa gewesen, mit dessen Hilfe er entkommen war. Oder Balsa hatte ihn nur ein weiteres Mal entführt. Vielleicht war alles, was er Timotheus über eine Revolution erzählt hatte, nur Humbug und seine Mutter saß weinend in ihren Gemächern und machte sich Sorgen um ihn, weil er entführt worden war!

Und Esmeralda? Die steckte ja wohl mit Balsa unter einer Decke, auch wenn sie unsicher geschienen hatte, als sie auf den Pferden aus dem Stall geflohen waren. Sie hatte ihn zuerst zurückgelassen, ein Zeugnis dafür, dass sie mit dieser ganzen Entführungssache nicht vollkommen übereinstimmte und noch einige letzte Gewissensbisse erlitt. Als sie wiederkam, folgte sie Balsas Befehlen, ihn aus der Stadt zu bringen, war dabei aber so still, dass Timotheus sich nicht daran erinnerte ein einziges Wort mit ihr gewechselt zu haben. Bestimmt war sie in ihren Gedanken darüber in Zwiespalt geraten, ob seine Entführung rechtens sei und hatte ihm erneut die Chance zur Flucht gegeben, als sie am nächsten Morgen verschwunden und er alleine gewesen war. Eine Flucht, die von Balsa schnell verhindert worden war. Und auch wenn er diesen Tag mit Balsa verbracht hatte und sich in seiner Gegenwart wohlgefühlt hatte - konnte er solchen Gefühlen wirklich trauen? Er hatte sich wahrscheinlich in seiner Einsamkeit und Hilflosigkeit an die Person gebunden, die ihm gegenüber am freundlichsten gewesen war: Balsa. Und der hatte seine durch ihn selbst heraufbeschworene Schwäche ausgenutzt und ihn von sich abhängig gemacht. Timotheus konnte bildlich vor sich sehen, wie Balsa sich ins Fäustchen lachte, jedes Mal wenn er sich von ihm wegdrehte.

Aber damit war jetzt Schluss! Er würde ihn nicht so mit sich umspringen lassen! Sie waren beide am schlafen und das war die perfekte Möglichkeit zur Flucht - vielleicht sogar die letzte, jetzt da Balsa wieder da war und Esmeralda keine Zeit zum Zögern an der Mission ließ. Wenn er fliehen wollte, musste er es jetzt tun. Und zwar leise.

Ein Blick zu seinen beiden Entführern zeigte ihm, dass sie noch immer so ruhig und selig schliefen wie zuvor, auf ihren Gesichtern ein Ausdruck vollkommener Unschuld, der ihn nicht mehr täuschen würde. So ruhig zu schlafen bei den Gräueltaten, die sie vollbracht hatten - ihre Seelen mussten so schwarz wie eine Nacht bei Neumond sein.

Als er ging, nahm er den letzten Rest des getrockneten Wildfleisches mit, stopfte die Decke, in der er geschlafen hatte, und den leeren Trinkschlauch, der noch auf dem Felsen lag, ebenfalls in Esmeraldas Tasche und schwang sich diese über die Schulter, um den Kessel so schnell wie möglich zu verlassen. Die Dornenbüsche knackten, als er hindurchlief, doch anstatt anzuhalten und zu sehen, ob Balsa oder Esmeralda ihn gehört hatten, begann er zur rennen.

Hinter den Dornenbüschen ging es steil bergab und beinahe wäre er den Berghang hinabgeschlittert. Ein schmaler Pfad schmiegte sich an den Hang und führte nach rechts und links an dem versteckten Eingang zu dem Felsenkessel vorbei. Balsa hatte wirklich ein Talent dafür, versteckte Plätze zu finden. Wäre er da nicht gerade heraus hervorgestolpert, er hätte den Eingang nicht gesehen.

Durch den spärlichen Baumbewuchs sah er wie sich der Pfad zu seiner Linken den Berg hinunterschlängelte und auf einen breiteren Weg mündete. Ein breiterer Weg bedeutete mehr Benutzung bedeutete mehr Menschen bedeutete er könnte eher erkannt werden.

Er wandte sich nach rechts und folgte so schnell wie er konnte, ohne den Hang zu seiner Rechten hinab zu stürzen. Der Pfad wurde mal schmäler mal breiter, manchmal war er kaum mehr als eine Kante, die Timotheus' Gewicht gerade so hielt. Er umrundete den Berg, manchmal fragte er sich wirklich, ob es das wert war, seine Entführer zu verlassen, wenn es doch nur darin endete, dass er in den Abgrund stürzte und beim Aufprall starb.

Umso glücklicher war er, als der Pfad in ein Tal führte und dort ebenfalls in einen breiten Weg endete. Angestrengt von dem Auf- und Abstieg des Bergpfades, lief Timotheus den Weg entlang. Zu seinem Leidwesen wuchsen hier wenig Bäume am Wegesrand, die keinen guten Blickschutz und er folgte dem Weg nur, weil es keine bessere Möglichkeit gab. Der Weg war vielleicht gerade breit genug für einen Ochsenkarren. Zu seinem Entsetzen, kam ihm ein eben solcher entgegen, auf dem Kutschbock ein alter Mann mit schwarzem Bart und grauem, lichten Haupthaar, über seiner Ladung ein Tuch gespannt. Die Ladung schepperte bei jeder Unebenheit des Bodens verräterisch metallisch.

In einer solchen konfrontalen Situation bröckelte Timotheus' Sicherheit, dass die Revolution wirklich erfunden war und kurz schaute panisch auf den Boden. Er musste sich seines ganzen Mutes bedienen, um seine Schultern zurückzunehmen und den Blick geradeaus zu lenken, anstatt in sich selbst zu versinken.

Zu seiner maßlosen Erleichterung stoppte der Karren nicht plötzlich und der alte Mann wollte ihn auch nicht direkt mitnehmen und den Revolutionären in Reidro übergaben. Weil es die nämlich gar nicht gab! Er fuhr einfach vorüber, als wäre es ganz normal den König mit verdreckten Klamotten, stinkend und ohne Hofstaat in einem Gebirgstal anzutreffen.

Jetzt war sich Timotheus ganz sicher: Balsa und Esmeralda hatten sich die Revolution nur ausgedacht, um ihn aus dem Schloss und in ihre eigene Gewalt zu bekommen. Im nächsten Dorf konnte er fragen, wo er war und wie er nach Reidro zurückkommen konnte. Außerdem konnte er mit seinem Status als der König von Sincan eine gute Mahlzeit und Schlafstätte verlangen, sowie einen Badezuber mit warmem Wasser und neue Kleidung und niemand würde ihn irgendjemandem ausliefern. Er würde all diese Sachen kommentarlos gestellt bekommen und die Leute würden sich auch noch geehrt fühlen, ihm persönlich dienen zu können.

Mit dieser neugefundenen und bestätigten Gewissheit machte Timotheus sich daran, das nächste Dorf zu erreichen. Der Ochsenkarren musste ja irgendwoher gekommen sein. Seine Schritte waren beschwingter und ausladender, ohne dass er etwas dagegen unternehmen wollte.

Er lief lange, der Weg schien gar nicht mehr aufzuhören. Nur die langsam, wie riesige Schnecken vorbeiziehenden Berge ließen Timotheus wissen, dass er sich tatsächlich fortbewegte und vom Fleck kam und es sich nicht nur einbildete zu laufen.

Ihm kamen noch allerhand Gestalten entgegen, darunter eine Gruppe Frauen, die mit großen leeren Körben bewaffnet zielstrebig den Weg entlangliefen, noch mehrere Ochsenfuhrwerke, dessen Kutscher allesamt ihre Brust entblößt dösend auf dem Kutschbock saßen, und auch ein weiterer, einsamer Wanderer wie er, der sich mit einem riesigen Rucksack auf einen Wanderstock gestützt den Weg entlangschleppte. Sie alle würdigten Timotheus keines zweiten Blickes, die Frauen schnatterten munter weiter, die Kutscher der Ochsenfuhrwerke bemerkten ihn nicht einmal und der einsame Wanderer war zu damit beschäftigt sich aufrecht zu halten, als dass er Timotheus mehr als einen Blick hätte schenken können.

Timotheus Herz wurde von Mensch zu Mensch, die ihn nicht erkannten, leichter.

Als er kurz vor Sonnenuntergang ein kleines Dorf mit notdürftigen Holzhütten und festgetrampelten Pfaden erreichte, brannten seine Waden und Oberschenkel als stünden sie in Flammen. Er hatte Blasen an den Unterseiten seiner Füße und der Schweiß hatte seine Haare miteinander verklebt wie der süße, klebrige Saft einer reifen Nandufrucht. Er roch streng. Im Schloss wäre er nie solchen Strapazen ausgesetzt gewesen, aber da war er wohl selbst schuld. Wer gab auch so auffälligen Lügen nach wie denen, die Balsa ihm aufgetischt hatte, ohne gute Beweise? Das hatte er jetzt von seiner Leichtgläubigkeit und daran war niemand anderes Schuld als er selbst.

In dem kleinen Dorf gab es nur ein Haus, das zweistöckig war und aus Stein gebaut zu sein schien. Das Gasthaus lag direkt am Weg. Ein altes Holzschild klapperte in seinen Scharnieren und in grob hineingeschnitzten Buchstaben stand darauf „Dorfvorsteher". Ein komischer Name für eine Schenke.

Die Tür quietschte in ihren nicht geölten Angeln, als Timotheus sie öffnete. Der Schankraum war dunkel und ein Schwall abgestandener, von Alkohol und Körperausdünstungen angereicherter Luft schlug Timotheus entgegen. An einer Seite des langgezogenen Gebäudes war eine hölzerne Theke errichtet, hinter der ein dünner, langer Mann mit dreckiger Schürze und unproportional großen Händen stand und sich mit einem kleinen Mädchen unterhielt, das auf einem wackligen Barhocker saß, den kleinen Kopf mit den wild abstehenden Haaren in zwei kleine Hände gestützt. Hinter dem Barmann lagerte ein Fass mit Zapfhahn und ein Kessel, in dem ein dünner Eintopf zu köcheln schien. Der Rest des Raumes war mit Stroh ausgelegt und mit groben Schemeln an langen Tischen bestückt. In einer Ecke führte eine schmale hölzerne Treppe, die eher ein Leiter war, in das obere Stockwerk, an der Wand gegenüber der Theke führte eine weitere Tür aus dem Schankraum hinaus.

An den Tischen saß nur wenig Kundschaft. In einer Ecke sabberte ein Mann in seinen Bierkrug, auf dem er schlief, am anderen Ende des gleichen Tisches, das sich näher an der Bar befand, saß eine Gruppe von drei Leuten, die aufschauten, als Timotheus eintrat, dann aber erachteten, das ihr Würfelspiel und ihre gefüllten Humpen interessanter war, als der barfuß gehende Fremde. Mit dem Barmann und dem kleinen Mädchen, waren das die einzigen Menschen in dem Raum.

Timotheus rang für einen Augenblick mit sich. Die Spelunke entsprach auf keinen Fall den Standards der Räumlichkeiten, die er sonst gewohnt war. Kein einziger Raum im Schloss war mit Stroh ausgelegt, das gehörte in seinem Verständnis ausschließlich in die Box eines Pferdes. Zu seinem Entsetzen war das Stroh auch noch nass und piekste ihn, wenn er barfuß darüber lief - ein beinahe unmöglicher Zustand, besonders mit Blasen an den Füßen. Und der Gestank war auch eher etwas, was er in einem Pferdestall erwartet hätte.

Aber das Dorf war klein und er hatte kein anderes Gasthaus gesehen. Und draußen schlafen war keine Option. Außerdem braucht er ein Bad und ein anständiges Abendessen. Die Streifen getrockneten Wildfleisches hatte er während einer kleinen Pause im Schatten eines Baumes vernichtet.

Was ihn schließlich in den Raum trieb, war der Durst. Er hatte über den ganzen Tag nichts getrunken und nur am Vormittag hatte er einen kleinen Bach gesehen, aus dem er ein paar Schlucke getrunken hatte. Das Fass hinter dem Barmann versprach zumindest etwas Flüssigkeit.

Als er auf die Bar zuging, verstummte das Gespräch zwischen dem kleinen Mädchen und dem Barmann. Mit einer Handbewegung verscheuchte der Mann das Mädchen, welches durch den Raum lief und ihn durch die kleine Tür bei der Leiter verließ.

Timotheus ließ sich auf einen Barhocker fallen. „Ich hätte gerne etwas zu trinken, wenn es Euch nichts ausmacht", verlangte er.

Der Barmann musterte Timotheus skeptisch, sagte aber nichts, als er einen Humpen nahm und seinem skurrilen Gast ein Bier zapfte. Den Humpen stellte er vor Timotheus auf die Theke und hielt ihm die Hand hin.

Timotheus griff nach dem Bier, doch der Barmann zog es zurück und wedelte mit der anderen Hand. „Erst zahlen, dann trinken", sagte er.

Timotheus lächelte ihn milde an. „Ich muss Euch nicht bezahlen, denn meine Anwesenheit ist Euch schon Bezahlung genug", sagte er und wollte erneut nach dem Humpen greifen.

Der Barmann fand das nicht so lustig. „Ohne Bezahlung keine Bedienung", brummte er und verzog das Gesicht.

„Bedienung, Ormi? Welche Bedienung?", fragte ein Mann in der Würfelspielrunde den Wirt und er und einer seiner Kumpels begannen zu lachen.

„Halt die Klappe, Snieke."

Timotheus drehte sich um und musterte den Mann. Snieke war dreckig, das fiel ihm zuerst auf, seine Hände schwielig und seine Haut wettergegerbt. Sein Hemd starrte vor Dreck. Hoffentlich sah Timotheus selbst nicht so aus. Wofür hatte er sich all die Jahre seine hoheitliche Blässe kultiviert. Dann fragte er: „Ihr findet also auch, dass man hier nicht zu bezahlen braucht?"

„Natürlich! Freibier für alle!", rief er und prostete dem leeren Schankraum zu.

Der Mann in der Ecke wachte auf und stieß sein Glas vom Tisch. „Was?", fragte er verschlafen. „Freibier? Wer spendiert Freibier?"

Snieke deutete auf Timotheus. „Der Kerl da will, dass Ormi einen für Umme ausgiebt."

Ein wenig Leben kam in den Betrunkenen und er schwenkte seinen Humpen, dass das Bier darin überschwappte und ihm Stroh versickerte. „Ein Freibier aufs Haus hat noch niemandem geschadet!", lallte er.

„Dir schadet's ganz sicher", brummte der Barmann, und beäugte danach Timotheus. „Wenn du mir mein Geschäft verderben willst, dann scher dich woanders hin."

„So habt Ihr nicht mit mir zu reden", ereiferte sich Timotheus. „Und nun gebt mir das Bier. Ich bin durstig."

„Hah!", machte Snieke und deutete auf Timotheus. „Was ist das denn für ein Vogel! Redest du immer so hochgestochen?"

„Natürlich", nickte Timotheus. „Die Pflege der höflichen Umgangsformen mit allen Bevölkerungsschichten ist die Pflicht eines jeden..."

Snieke brach in Gelächter aus, so sehr, dass er Lachtränen weinte.

Ormi brummte und setzte den Krug an die Lippen. In einigen großen Zügen hatte er den Humpen leer getrunken. Noch immer finster starrte er Timotheus an. „Hörst du schlecht? Ich hab gesagt, du sollst dich vom Acker machen!"

„Und ich sagte, so habt Ihr nicht mit mir zu reden!", gab Timotheus zurück und hielt hielt die Tasche auf seinem Schoss ein bisschen fester. „Schließlich bin ich König Timotheus II.!"

Ormi antwortete nur grimmig: „Es ist mir schnuppe, wer du bist. Das hier ist meine Schenke und ich hab gesagt, du sollst dich davonmachen."

Snieke musste erneut losprusten „Habt ihr das gehört?", fragte er völlig außer Atem. „Der Vogel sagt, er wär der König! Hah! Ich krieg mich nicht mehr ein! Das ist ja zu komisch!"

Sniekes Gefährte, der bisher nur grübelnd über den Tisch gebeugt dagesessen hatte, horchte auf und drehte sich zu Timotheus.

„Der König!", rief Snieke aus und lachte noch mehr.

„Was daran erheitert Euch so sehr, dreckiger Trunkenbold?", fragte Timotheus Snieke ehrlich verwirrt.

Snieke hörte schlagartig auf zu lachen. „Wie war das?"

„Hört Ihr schlecht?", fragte Timotheus und wiederholte lauter: „Ich habe Euch gefragt, was Euch an meiner Identität so erheitert!"

Snieke griff sich in die Hosentasche und stand langsam auf, sein Blick starr auf Timotheus fixiert. „Du weißt wohl wirklich nicht, was gut für dich ist, Bübchen." Er zückte ein Klappmesser.

„Regelt das draußen, Jungs", sagte Ormi und deutete auf Timotheus. „Und schafft mir den da vom Hals."

„Nur zu gern", sagte Snieke und hielt auf Timotheus zu. „Komm mit, Bleichgesicht, ich will hier auch weiterhin abends noch mein Bier trinken können.

Timotheus war beim Anblick des Messers zusammengezuckt und seine Finger krallten sich in die Tasche, während er stocksteif auf dem Barhocker saß.

„Ja, da hältst du deine große Fresse, nicht war, Bleichgesicht? So ein Messer tut echt weh, wenn es in deinen Eingeweiden steckt!" Snieke grinste fies. Seine beiden Kumpels waren ebenfalls aufgestanden.

Timotheus Knie schlotterten. Mit hoffnungsvollen Augen sah er zu Ormi. „Wollt Ihr wirklich zulassen, dass diese drei Flegel mir etwas tun?"

Ormi zuckte mit den Schultern. „Mir kann es egal sein, was sie mit dir machen. Hauptsache du bist mir aus den Haaren. Ein Verrückter weniger, der denkt, er kann hier antanzen und mich über'n Tisch ziehen."

Timotheus halbwegs aufrechterhaltene Fassade fiel in sich zusammen und er sprang vom Barhocker, um aus der Tür zu rennen. Jeder Schritt tat weh, seine Fußsohlen waren voller Schnittwunden und Blasen, noch immer brannten seine Beine, doch es war besser, als ein Messer im Bauch stecken zu haben, so wie Snieke es ihm angedroht hatte. Die Sonne war inzwischen ein wenig weiter dem Horizont entgegengesunken und der Himmel war über den Bergen in ein wartendes Dunkelblau übergegangen. Die Tasche hielt Timotheus fest umklammert, als er einen gewundenen Trampelpfad auf einen Berg zu aus dem Dorf hinausrannte. Ihm war egal, wohin der Weg ihn führte, Hauptsache weg von Ormi, dem gleichgültigen Barmann und Snieke, der brutale Mann mit dem Messer. Beinahe bereute Timotheus es, aus Balsas Klauen geflüchtet zu sein. Immerhin war er von dem noch nie mit einem Messer bedroht worden. Zumindest noch nicht, wer wusste schon, zu was für Mitteln Balsa greifen würde, wenn er Timotheus jetzt erneut in die Finger kriegen würde.

Timotheus Atem rasselte und seine Waden krampften. Er musste weiter. Einfach weg. Weg von diesem Albtraum, in dem er anderen Menschen egal war. Weg von dem Messer und dem Menschen dahinter.

„Wo willst du denn so schnell hin, Bleichgesicht?", rief eine heisere Stimme, die Timotheus nicht kannte. Vielleicht war es jemand, der ihm helfen wollte!

Er machte den Fehler über die Schulter zu schauen. Hinter ihm rannten Snieke und seine drei Freunde, der eine hinter den anderen beiden abgeschlagen, und holten langsam aber sich zu ihm auf.

Steinchen bohrten sich schmerzhaft in Timotheus Fußsohlen, als er gegen den Hang den Berg hinauf rannte, den Schleifen folgend, die der schmale Wildpfad schlug. Nirgends war mehr als ein wenig Unterholz, in dem er sich hätte verstecken können. Doch seine Verfolger waren so nah, sie hätten es gesehen, wenn er sich hinter einen Busch gerettet hätte. Verzweifelt holte Timotheus alles aus sich selbst raus und verwendete die letzten Kraftreserven, die ihm noch zur Verfügung standen. Seine Kehle war rau und trocken, seine Zunge nicht mehr als ein Stein in seinem Mund, der seine Atmung blockierte. Er hustete. Sein Körper wollte, dass er stehen blieb. Timotheus wollte aber nicht stehen bleiben und rannte weiter. Der Husten wurde schlimmer, er rappelte in Timotheus' Brustkorb, rüttelte an seinen Rippen wie an den Eisenstangen einer Kerkerzelle. Timotheus gab dem Drang nicht nach. Wenn er doch nur weit genug kommen würde.

„Gib es auf, Bleichgesicht", rief Snieke. „Du bist ein Schwächling und Taugenichts. Nicht einmal vor deinem Tod kannst du wegrennen!"

Timotheus wollte nicht auf ihn hören. Er konnte nicht. Er konnte nicht sterben. Wenn er jetzt starb, dann konnte er nicht zurück nach Hause! Dann konnte er nicht seiner Mutter sagen, dass er in Ordnung war, dass alles gut war, dass er ganz allein nach Hause zurückgefunden hatte!

Eine Hand packte ihn am Arm und riss ihn zurück. Die Tasche fiel ihm aus den Händen und schlug auf dem Boden auf und ihr Inhalt entleert sich auf den Boden, die Gegenstände rollten den Hang hinunter. „Hab ich dich!", raspelte Sniekes Kumpel, der zuvor mit ihm gemeinsam über Timotheus gelacht hatte.

„Nein!", schrie Timotheus und versuchte sich aus dem Griff zu befreien. Er wurde von Husten geschüttelt, röchelnd holte er zwischen den Anfällen Luft. Mit der freien Hand griff er sich an den Hals.

„Du hörst dich ja schon fast an, als würdest du abnippeln", lachte Snieke, der hinter seinem Kumpel langsam und bedächtig herantrat, das Messer in seiner Hand zeigte mit der Spitze auf Timotheus. „Da muss man dir ja nur noch ein Loch in den Hals schneiden, dass du auch wirklich krepierst!"

Er griff Timotheus in die Haare und bog seinen Kopf zurück. Timotheus röchelte. Er bekam nicht gut Luft! Die Klinge kam Timotheus Hals gefährlich nahe, als Snieke zum Schnitt ansetzte.

„Halt!", schrie ein dritte männliche Stimme, die Timotheus nicht kannte. Sie schien sehr außer Atem zu sein und war ein wenig nasal. „Nicht... töten!", keuchte die Stimme und der dritte Mann aus der Würfelrunde, der so desinteressiert auf den Holztisch geschaut hatte, kam den Hang hochgelaufen.

Ungehalten drehte Snieke sich zu dem Mann um. „Was redest du da, du Oberpflaume?"

„Den Typen nicht töten", hechelte der Mann und hielt eine Hand austreckt Snieke hin.

„Ich soll ihn nicht töten?" Snieke ließ Timotheus los und baute sich stattdessen vor dem Mann auf. „Hast du noch alle Latten auf'm Dach oder was? Der Kerl hat mich beleidigt! Und du sagst mir ich soll ihn nicht töten?!" Leiser fügte er hinzu: „Ich hätte ihn nur angeritzt und ihm die Tasche abgenommen. Der Typ macht sich ja sowieso schon vor Angst fast in die Hose."

Der Mann schüttelte heftig den Kopf, atmete tief ein, schluckte und sagte: „Auch nicht anritzen. Ich glaub, der Kerl hat recht."

Sniekes Augenbrauen schoben sich bedrohlich zusammen. „Beleidigst du mich etwa auch, Ivar?"

„Nein, nein, nicht das", verneinte Ivar. „Ich mein, dass er der König ist!"

Snieke starrte ihn an und begann laut zu lachen. „Hat dir dein Hokuspokus jetzt endgültig das Hirn vernebelt oder was? Das hier?" Er drehte sich um und trat Timotheus in die Magengrube. Stöhnend vor Schmerz rollte dieser sich zusammen. Ihm war egal wie dreckig der Boden war und wie dreckig er war. Er wollte, dass dieser Albtraum endete und er zuhause in seinem weichen Bett aufwachte. „Der König? Dass ich nicht lache. Das nächste Mal, wenn du mich unterbrichst, hast du besser eine Ausrede, die mehr Sinn macht als dein dummes Gefasel." Er spuckte Ivar vor die Füße und drehte sich zu Timotheus um.

„Nein, Snieke, glaub mir!" Ivar hielt Snieke an der Schulter zurück.

Snieke wirbelte herum und bedrohte jetzt Ivar mit dem gezückten Messer. „Fass. Mich. Nicht. An", knurrte er bedrohlich.

Ivar streckte die Hände in die Höhe. „Snieke, glaub mir. Ich bin mir absolut sicher, dass das der König ist! Er hat die richtige Haarfarbe, die richtige Statur. Außerdem, überleg doch mal! Wer würde sich denn im Moment freiwillig als der König ausgeben, wenn er jeden Moment abgemurkst werden könnte, nur weil er den Namen in den Mund nimmt? Und wer spricht so geschwollen, wenn er nicht von hohem Stand ist? Er muss es sein!"

Snieke kniff die Augen zusammen und ließ das Messer sinken. „Selbst wenn er der König ist, na und?" Er fuchtelte mit dem Messer herum und Ivar wich einen Schritt zurück. „Du hast doch selbst gesagt, dass er jeden Augenblick abgemurkst werden könnte, wenn er weiter so rumläuft. Also warum soll ich es nicht machen? Auf die paar Tage früher oder später kommt es doch jetzt auch nicht an."

„Aber denk doch an die Belohnung", sagte Ivar, seine Augen folgten eingeschüchtert der Messerspitze, die ihm Licht der Abendsonne schimmerte.

Sniekes Augen wurden groß und dann bildete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht. „Ahh, natürlich. Die Belohnung", sagte er selbstzufrieden.

Timotheus wurde von dem Dritten im Bunde auf die Beine gezogen, sodass er einem zufrieden grinsenden Snieke gegenüber stand, der mit dem Finger an der Klinge seines Messers entlang fuhr. „Welche Belohnung?", fragte er ängstlich.

Snieke sah von seinem Messer auf. „Heute ist dein Glückstag, Bleichgesicht!", sagte er und schnitt sich in den Finger. Kurz zuckte er zusammen, dann klappte er das Messer zusammen und steckte es wieder weg. Einige hellrote Blutstropfen quollen aus dem Schnitt an seinem Daumen hervor und fielen auf den Boden. Timotheus wurde ein bisschen schwindelig. Ob es vom Wassermangel kam, von der Hitze der Sonne, die sein Gehirn über den Tag hinweg gebraten hatte, oder vom Anblick des Blutes konnte er nicht sagen. Schwarze und weiße Punkte begannen in seinem Gesichtsfeld zu tanzen, das zunehmend kleiner wurde. „Anstatt zu sterben, wirst du leben - bis wir dich den Rebellen übergeben haben. Oder nennt man sie jetzt Revolutionäre, wo du verschwunden und die Königin tot ist?", fragte Snieke schelmisch grinsend.

„Ich dachte, man nennt sie die Anti-Monarchie-Gegner?", warf der Mann, der Timotheus festhielt, ein.

„Klappe, du Idiot!", herrschte Snieke ihn an. „Das war Ironie!"

„Haha!", lachte der Mann. „Ironie ist lustig!"

Snieke schnaubte. „Ich habe nicht versucht lustig zu sein, du Flachpfeife."

„Nein?", fragte der Mann.

„Nein!", erwiderte Snieke. „Und ich hab gesagt, du solltest die Klappe halten!"

„Die Ironie war nicht lustig?", fragte der Mann erneut.

„Jetzt halt deine Fresse, Mavin!", herrschte Snieke Mavin an.

„Was?", hauchte Timotheus, seine Augen waren weit aufgerissen, aber er sah nicht mehr als Sniekes ungewaschenes Gesicht. Vielleicht war es auch Sniekes Mundgeruch. Selbst die Sonne schien sich vor dem Gestank, der seinem Rachen entkam, zu fliehen.

„Oh, wusstest du das nicht?", fragte Snieke scheinheilig. „Tja, dann erfährst du es zumindest, bevor du mit ihrer Leiche ins Meer geworfen wirst - Königin Hilda ist tot."

„Wie?", fragte Timotheus. Beinahe sein gesamtes Sichtfeld war jetzt schwarz und tanzte.

Snieke winkte ab und kam Timotheus nochmal besonders nahe. „Wie ist doch nicht wichtig. Wichtig ist doch das Ergebnis: Sie ist tot. Mausetot. So tot wie der Eintopf, den Ormi kocht. So tot wie meine Schwiegermutter. So tot wie dein Vater."

„Das war Ironie!", sagte Mavin und lachte glucksend.

Snieke blinzelte langsam und ballte seine Hände zu Fäusten, um sich davon abzuhalten, Mavin an die Kehle zu gehen. „Was sagt Mama immer?", fragte er Mavin gepresst verständlich.

„Mama sagt immer", sagte Mavin eifrig wie ein kleines Kind, „dass ich still sein soll, wenn die Großen reden."

„Und was machst du grade?", fragte Snieke, noch immer genauso bemüht ruhig.

„Ich rede!", sagte Mavin stolz.

Da wurde es Snieke scheinbar doch zu viel. „Aber warum redest du?!", begann er zu schreien.

„Weil der hier nicht groß ist", sagte Mavin und deutete auf Timotheus, dem langsam das Bewusstsein entglitt. Die Stimmen der Männer wurden immer dumpfer und verschmolzen langsam aber sicher zu einem statischen Rauschen, das vollkommener Stille sehr nahe kam.

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