Kapitel 2

Vor Entsetzen konnte Timotheus nichts dagegen tun, als Balsa ihn mit sich zog. In seinem Kopf drehte sich alles. Natürlich war er auch nicht gerade erpicht darauf gewesen von einem Elfen gekrönt zu werden, aber deswegen gleich die Burg zu stürmen? Das ging ihm dann doch ein bisschen schnell. Wo war all diese Wut hergekommen, die das Gesindel dazu gebracht hatten, gewaltsam in die Regierungsstätte einzudringen?

»Wisst Ihr, wo sie in die Burg kommen?«, fragte Balsa den Diener durch Timotheus wirre Gedanken hindurch.

»Vor allem durch das Haupttor«, keuchte der Diener.

»Was ist mit den Wachen?«, fragte Esmeralda. Sie lief neben Balsa her.

»Hab ich keine gesehen«, antwortete der Diener.

Balsa lief auf eine Treppe zu, die in höhere Teile der Burg führten. »Das bedeutet wohl, dass sie vor allen Dingen in den unteren Geschossen eindringen. Wir sollten also von den höheren Ebenen aus flüchten.«

»Flüchten? Wieso flüchten?«, fragte Timotheus.

»Wegrennen träfe es auch ganz gut«, sagte Esmeralda mit ironischem Unterton, »aber wenn ich vor einem wütenden Mob wegrenne, dann würde ich das schon flüchten nennen.«

»Aber, wieso sollten sie überhaupt...« Timotheus sprach seine Frage nicht aus, in der Hoffnung, dass er vielleicht doch Unrecht hatte. Stolpernd folgte er Balsa die Stufen hinauf und wäre beinahe in seiner Hast ausgerutscht.

Esmeralda schüttelte den Kopf und lachte verbittert. »Natürlich weißt du nichts von den Zuständen, die in der Stadt herrschen.«

Balsa knurrte. »Esmeralda.«

»Was? Ist doch so! Ein König, der keine Ahnung von der Armut seiner Bevölkerung hat, der hat irgendwas falsch gemacht, findest du nicht?«

»Aber ich weiß, dass die Leute arm sind«, keuchte Timotheus.

Vor ihm kam Balsa auf der obersten Treppenstufe zum stehen und auf etwas zu warten. Dann lief er den Gang entlang und den nächsten nach links. Die Truppe folgte ihm, der etwas untersetzte, magere Diener bildete den Schluss. Er konnte kaum Schritt mit Balsa und Esmeralda halten. Hätte ihn Balsa nicht mitgezogen, Timotheus war sich sicher, ihm wäre es ähnlich ergangen. So wurde er mehr hinterhergeschleift, als dass er wirklich selber rannte. Mehr als seine Füße bewegen und aufpassen, dass er nicht irgendwo dagegen gezogen wurde, musste er nicht machen.

»Schließlich war Krieg. Kein Wunder, dass das Land danach erstmal eine Weile braucht, um sich zu erholen.«

»Zwölf Jahre«, zischte Esmeralda, die mühelos mit Balsa Schritt hielt, »sind keine Weile. Das sind zwölf Jahre Unterernährung, Schwerstarbeit und Kinderlosigkeit für die meisten Familien! Wenn es überhaupt noch eine Familie gibt.«

Etwas betroffen schaute Timotheus zu Esmeralda über die Schulter.

In ihren Augen brannte die Wut über die Umstände, in der sich die Leute befanden.

»Und du ignoranter Idiot tust so, als hättest du eine Ahnung, was da draußen in den Menschen vor sich geht, wenn du all die Jahre, von Mami behütet, im Schloss aufgewachsen bist!

»Esmeralda!«, mahnte Balsa.

»Du kannst mir nicht den Mund verbieten, Balsa! Der unfehlbare König hier hat so wenig Ahnung, dass die Wellen mehr über die Zustände seiner Untertanen wissen als er!«, fluchte sie.

»Spar dir deinen Atem lieber für den Aufstieg«, riet Balsa Esmeralda über die Schulter hinweg und steuerte die Gruppe auf eine Wendeltreppe zu, die sich nach oben in den Stein wand wie das schwarz geöffnete Maul eines Berglöwen. Kurz wunderte sich Timotheus, warum er diese Wendeltreppe noch nie gesehen hatte und woher Balsa sie kannte.

»Aber es stimmt doch! Während wir in Armut leben und unsere Rationen drei Mal umdrehen mussten, um überhaupt irgendwie über die Runden zu kommen, hat er die Früchte unserer Arbeit weiterverkauft und sich davon ein nettes Leben gemacht!«

»Wir reden später weiter«, sagte Balsa und es klang mehr nach einem Befehl statt nach einer Bitte.

Die Treppenstufen schienen endlos. Mit jedem Schritt verblasste das ohnehin schon schwache Licht hinter ihnen immer mehr. Immer einen Fuß über den anderen und aufpassen, dass er nicht von den glatten, schmalen Stufen abrutschte. Seine Hände glitten über die glatte Felswand, um den Windungen der Wendeltreppe folgen zu können, die er jetzt mehr fühlte als sah. Es war ein anstrengender Aufstieg.

»Nein! Ich will, dass er sich rechtfertigen muss! Warum hatte er genug zu essen und wir nicht? Warum mussten wir für ihn arbeiten, während er bequem in einem weichen Stuhl an einem Tisch im Trockenen gesessen hat und unsere Produktion weiterverkauft hat? Warum hatte er ein weiches Bett zum Schlafen und wir allerhöchstens Holzpritschen, die nicht ständig unter Wasser standen? Warum ist er König und wir nicht?« Esmeralda redete sich immer mehr in Rage, bis ihr blasses Gesicht ganz rot war.

Timotheus bekam einen Drehwurm. Immer nur ging es nach links und hoch und weiter. Inzwischen sah er gar nichts mehr und die sich im Kreis drehenden Schritte ließen seine Oberschenkelmuskeln schmerzen. Diese Treppe musste doch bald zu Ende sein!

Timotheus merkte, dass Balsa gestoppt hatte, als er in seinen Rücken hineinlief. Nur Balsas Geistesgegenwart und schnellen Reflexe schützten ihn davor, rückwärts die Treppe und in Esmeralda hineinzufallen. Ein Ort, an dem er noch weniger sein wollte, als in dieser Finsternis, ein paar Stufen über ihr stehend, während sie immer noch zeterte. Es hörte sich alles gleich an.

»Verzeiht, mein König«, sagte Balsa förmlich und Timotheus fühlte sich nicht mehr ganz so fremd. Der vertraute Umgangston tröstete ihn. »Aber hier scheint es nicht weiter zu gehen.«

Das brachte Esmeralda dazu, ihre mittlerweile halbherzige Schimpftirade gegen die Königsfamilie und im Speziellen Timotheus zu unterbrechen. »Was? Heißt das, wir sind die ganzen Treppenstufen umsonst hochgestiegen?«

»Nein, das nicht«, beruhigte Balsa sie. »Aber ich finde keine Tür oder irgendeinen Mechanismus, der eine öffnen könnte.«

»Ähm«, keuchte der Diener. »Ich... Ich hätte eine Kerze dabei, falls das hilft?«

»Ja, natürlich!«, sagte Balsa.

Die Kerze wurde mit ein wenig Verzögerung nach vorne gereicht.

»Und Feuer?«, fragte Balsa.

»Das nicht...«, antwortete der Diener.

»Wer hat bitte eine Kerze dabei, aber kann sie nicht anzünden?«, fragte Esmeralda aufgebracht.

»Entschuldigt bitte... vielmals.«

»Dann müssen wir wohl doch im Dunkeln suchen«, entschied Balsa und steckte die Kerze ein. »Esmeralda, hilf mir bitte.«

»Was, wieso ich?«, fragte sie motzig, tastete sich aber die letzten paar Stufen hoch und an Timotheus vorbei, der apathisch an die Wand angelegt dastand. »Wieso muss Timotheus nicht helfen?«

Balsa seufzte entnervt. »Wir haben jetzt wirklich besseres zu tun«, ermahnte er sie.

Sie widersprach nicht laut, brummelte aber leise irgendetwas, das Timotheus nicht verstand.

Balsa schien es da nicht so zu gehen. »Hier wird niemand bevorzugt. Und jetzt hilf mir. Du übernimmst die linke Seite, ich die rechte.«

In Stille und Dunkelheit tasteten die beiden die Wände der kleinen Plattform, die das Ende der Treppe bildete, ab.

Stimmen, Schritte und andere Geräusche echoten gedämpft die Wendeltreppe zu ihnen hinauf. Timotheus Schwindel legte sich und er begann ebenfalls die Wand abzusuchen, allerdings unterhalb des Endes. Vielleicht war der Mechanismus ja hier versteckt?

Nach einer Weile, in der Timotheus' Stresslevel auf einen neuen Höchstwert gestiegen und er sich allerlei Horrorszenarien ausgemalt hatte, was mit ihm geschehen würde, wenn sie gefunden würden, knirschte es.

»Sag mir nicht, dass das die Decke war«, stöhnte sie verärgert.

»Es war die Decke«, bestätigte Balsa ihr ihre Vermutung.

»Wir haben die ganze Zeit die Wände abgesucht, und der Ausgang ist durch die Decke?«

»Es scheint zumindest so.«

»Ganz toll. Erinnre mich nächstes Mal dran, dass ich nicht jedes Wort, was du sagst, für bare Münze nehmen sollte.«

»Ich konnte doch nicht wissen, dass...«, begann Balsa, dessen Stimmung ebenfalls im Keller schien, angefressen zu erklären. »Ist ja auch einerlei. Hauptsache wir haben den Ausgang gefunden.«

»Können wir dann diese Treppe verlassen?«, bat der Diener nervös. »Das hier ist kein Ort, an dem ich länger als nötig verweilen möchte.«

Er sprach es nicht aus, aber die anderen wussten auch so, wovon er sprach. Sie waren hier nicht sicher.

»Vielleicht sollten wir vorher trotzdem sehen, ob wir uns da nicht in die Große Höhle flüchten«, schlug Esmeralda sarkastisch vor.

Timotheus konnte ihr nur zustimmen. Er hatte die Große Höhle zwar nicht oft besucht, aber die paar Male, die er dort gewesen war und die er an einer Hand abzählen konnte, war sie überlaufen gewesen von Menschen. Da hinein zu gelangen, war wahrscheinlich genauso sein Todesurteil wie die Treppen wieder hinunterzusteigen.

»Wenn wir in die Große Höhle gelangen würden, dann müssten wir irgendwo wirklich falsch abgebogen sein«, sagte Balsa überzeugt und beruhigte Timotheus damit ein wenig. »Die Große Höhle sollte irgendwo unter uns sein. Wenn ich richtig liege, dann führt diese Wendeltreppe direkt in die oberen Bezirke.

»Licht. Eine nette Abwechslung«, sagte Esmeralda. «Schau aber trotzdem. Nicht dass wir auf irgendeinem Feld landen, das gerade bestellt wird.

»Das würde ich hören.«

»Tu es einfach.«

»Wenn du darauf bestehst.«

»Das tue ich.«

Balsa drückte eine steinerne Platte weg und spähte hinaus. Ein schmaler Lichtstrahl fiel in die Wendeltreppe und kurz war Timotheus von diesem bisschen Licht geblendet. Dann kam der Gestank zu ihm. Es roch nach Exkrementen und Tieren, Staub und stehendem Wasser. Sein Magen begann zu rumoren.

Beinahe geräuschlos hob Balsa die Platte vom Ausgang weg. Die Geräusche von raschelndem Stroh und großen Tieren, die sich bewegten, machten Timotheus nervös. Er war nicht gut mit großen Tieren.

»Na dann, raus mit uns«, sagte Esmeralda und zog sich über die Kante in den Stall hinein.

Timotheus folgte ihr mit dem Blick. Keine Chance, dass er das schaffte.

»Soll ich Euch beim Aufstieg helfen, mein König?«, fragte Balsa ihn.

Timotheus überlegte nicht lange, nickte und warf damit auch noch den letzten Rest Stolz, den er bis dato gehabt hatte, über Bord.

Balsa fackelte nicht lange, packte Timotheus an der Hüfte und hob ihn aus dem Loch hinaus in den Staub und Gestank eines Stalles.

»Oh, nicht mal allein aus dem Loch klettern kann der werte Herr König«, verhöhnte Esmeralda ihn, die einige Schritte weiter stand und abwertend auf Timotheus hinuntersah, der im Stroh saß.

»Das hat nichts mit Können zu tun, sondern mit Status«, sagte er. Er hatte langsam echt genug von der ständigen Piesackerei. Mit seinem Nicht-Wissen um den Zustand seiner Untertanen mochte sie Recht haben, doch das gab ihr noch lange nicht das Recht, auf seiner körperlichen Kondition herumzuhacken. Dass sie Recht hatte mit ihrem Seitenhieb, hob seine Stimmung ebenfalls nicht. »Ich mach mir nicht freiwillig die Hände schmutzig.«

»Stimmt«, sagte sie mit aggressivem Unterton und ließ ihre Faust in die andere offene Hand fallen, als hätte sie gerade verstanden, was er meinte. »Dafür bezahlst du schließlich Leute, die sich ansonsten nichts leisten könnten.«

Balsa half dem Diener aus dem Loch und zog sich dann selbst heraus. Wobei quetschen der zutreffendere Ausdruck war. Seine breiten Schultern passten gerade so hindurch, was das Hochziehen zusätzlich erschwerte. »Das ist immer noch nicht die Zeit und der Ort, um sich sinnvoll damit auseinanderzusetzen«, ermahnte er die beiden Streithähne, sein Blick aber vor allem auf Esmeralda.

Die verschränkte nur die Arme vor der Brust, warf Timotheus einen letzten bösen Blick zu und stolzierte dann mit erhobenem Kopf den Gang entlang, der von einigen in Holz und Stein gefassten Boxen gesäumt war.

Mit einem lauten Schaben zog Balsa die Bodenplatte, die er zuvor ausgehebelt hatte, wieder zurück an ihren ursprünglichen Platz.

Der Stall in dem sie standen war ein kleines Gebäude, der Gang war mit zehn Schritten durchquert und an ihn grenzten sechs Boxen an. Unter dem niedrigen Gebälk konnte Esmeralda kaum gerade stehen, ganz zu schweigen von Balsa, der vornübergebeugt noch immer mit dem Kopf die Balken streifte.

Sie waren im hinteren Teil des Stalles aus dem Boden gekommen, am anderen Ende des Gebäudes führte eine Tür nach draußen. Durch sie fiel Licht in den etwas dämmrigen Bau, der dennoch so viel heller war als die tiefschwarze Wendeltreppe. Trotzdem war Timotheus sich nicht sicher, ob dieser Ort eine Verbesserung ihrer Situation war.

Ein Schnauben neben ihm ließ ihn den Kopf in unguter Vorahnung drehen.

Ja, das war in der Tat ein Pferd.

Timotheus zuckte zurück, versuchte es aber sofort zu überspielen und stand sehr langsam auf, darauf bedacht, keine hastigen Bewegungen zu machen.

»Pferde«, sagte Balsa erfreut und trat zu dem Pferd, das den Kopf über seine Boxentür gestreckt hatte. Das Pferd, ein hübscher roter Fuchs mit einer weißen Blesse auf der Stirn, begann nervös zurück zu tänzeln als Balsa ihm näher kam. »Das erleichtert unsere Flucht natürlich um einiges.«

»So«, sagte Timotheus tonlos. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken bei dem Gedanken auf dem Rücken von so einem Höllenmonster sitzen zu müssen. »Würde es das?«

»Ich kann nicht reiten«, sagte der Diener ein wenig beschämt. Timotheus hätte ihm am liebsten beide Wangen abgeknutscht.

»Das wird kein Problem sein«, sagte Balsa und lächelte freundlich. »Wenn es wirklich hart auf hart kommen sollte, könnt Ihr sicher mit Esmeralda reiten.«

Timotheus schoss einen Blick zu Esmeralda, die aus der Tür hinauslugte. Natürlich musste sie wieder alles kaputt machen.

»Ich will ja niemanden von euch beunruhigen, aber wir sollten uns beeilen«, sagte sie, als sie rückwärts von der Tür wieder in den Gang zurückwich.

»Na das hast du ja toll hingekriegt! Jetzt bin ich sowas von beruhigt!«, giftete Timotheus.

»Wenn du aufgeknüpft im Hafen hängen möchtest, bitte, tu dir keinen Zwang an! Ich würde dir mit Vergnügen zusehen.«

»Immer noch nicht der richtige Zeitpunkt«, unterbrach Balsa die beiden, bevor es zu einem richtigen Streit kommen konnte. »Hier ist der Plan: Esmeralda teilt sich ein Pferd mit...« Er brach ab. »Wie heißt Ihr?«, fragte er an den Diener gewandt, der mit schlotternden Knien neben ihm stand.

»Keg Wilfre, mein Herr«, sagte er. Sein nervöser Blick sprang immer wieder zwischen der Tür, Balsa und Esmeralda hin und her. »A-aber ich äh, ich kann nicht von hier weg. Ihr seht, mein Herr, ich habe Frau und Kinder.«

Balsa klopfte ihm freundlich auf die Schulter und ließ seine Hand dort liegen. »Dann müssen Sie ein glücklicher Mann sein, Keg Wilfre. Allerdings können wir Sie nicht einfach hierlassen.«

Angst trat in Kegs Blick. »Ich schwöre, ich erzähle niemandem, dass ich Euch gesehen habe, mein Herr!«

»Das würde ich gerne glauben, Keg, aber wer weiß, wie sie das in einigen Sonnenaufgängen sehen? Wir können kein Risiko eingehen.«

»Ich-ich werde meine Meinung auf keinen Fall ändern! Ich habe Sie nie gesehen, ich weiß ja überhaupt nicht, wo Ihr hinwollt!«, beteuerte er.

»Es tut mir sehr leid, aber allein Euer Wort reicht leider nicht«, sagte Balsa und sah dabei wirklich traurig aus.

»Nein! Bitte!«, rief Keg.

Balsa schlug zu und Keg sackte bewusstlos in sich zusammen. »Ich hoffe, ich habe das Richtige getan«, murmelte Balsa.

»Darüber können wir uns später Gedanken machen«, ermahnte Esmeralda ihn. Sie war schon im Begriff auf eines der Pferde, einen dunkelbraunen Hengst, der nervös unter ihr tänzelte, aufzusteigen.

»Du hast Recht«, stimmte Balsa ihr zu und öffnete eine der Boxen. Ohne etwas zu sagen, packte er Timotheus und hob ihn auf die rote Fuchsstute, die vor ihm in den letzten Winkel der Box zurückwich.

Timotheus konnte es nicht länger unterdrücken und stieß einen hohen, unmännlichen Schrei aus, sobald er auf dem blanken Pferderücken saß. Automatisch krallte er sich in die Mähne der Stute und klammerte sich mit beiden Beinen fest, bis er beinahe nicht mehr zu sehen war.

Nervös warf die Stute den Kopf herum, als Balsa sich hinter das Pferd stellte und es aus der Box trieb. »Reitet Richtung Süden«, rief er Esmeralda zu, die ihren Hengst mit gezieltem Schenkeldruck aus der Box lenkte. »In den Wald hinein. Ich folge Euch, so schnell ich kann.«

Esmeralda schien empört. »Du lässt mich mit dem Mauskönig allein?«

»Es führt kein Weg dran vorbei«, sagte Balsa und gab der Fuchsstute einen Klapps auf den Hintern.

Sofort brach das Pferd unter Timotheus in einen unregelmäßigen Trab aus, doch sobald sie den Stall verlassen hatten, begann es zu galoppieren. Timotheus wurde ordentlich durchgerüttelt. Mit zugekniffenen Augen saß er auf dem Rücken der Stute, hatte Angst und wunderte sich gleichzeitig, woher er verdammt nochmal wissen sollte, wo Süden war.

Esmeralda folgte ihm auf den Fuß, doch nicht bevor sie Balsa nicht einen besorgten Blick zugeworfen hatte. Sie hoffte wirklich, er würde sich beeilen. Doch ihre Gedanken konnten nicht lange bei Balsa verweilen, weil Timotheus' Pferd geradewegs eine schlammige Straße hinunterpreschte, die geradewegs in die Stadt hineinführte, die sie doch eigentlich verlassen wollten.

»Hey!«, schrie sie, und erschreckte damit ihr Pferd so sehr, dass es einen gewaltigen Sprung machte. Zu ihrem Glück wurde Timotheus Pferd langsamer, da es von seinem Reiter keine Signale bekam, wo es hin sollte. Menschen mussten ihnen aus dem Weg springen. Flüche wurden ihnen hinterhergerufen, aber sie hatten besseres zu tun, als sich zu entschuldigen. So zog sie mit Timotheus' Fuchsstute gleich und trieb sie auf eine Straße mit weniger Passanten, die aus der Stadt herausführte. Ungläubig nahm sie wahr, dass Timotheus sich in Todesangst an sein Pferd klammerte und die Augen geschlossen hielt.

»Bist du komplett bescheuert?!«, zeterte sie los. »Willst du so unbedingt sterben? Du musst doch gucken, wo du hinreitest!«

Timotheus antwortete nicht. Sein Herz schlug schneller als die Hufe der Pferde auf die Straße, seine Ohren rauschten und ihm liefen Tränen über die Wangen. Er wollte nicht sterben. Warum war er auf einem Pferderücken? Warum musste er aus der Stadt fliehen? Das war alles nicht fair! Er wollte wieder ins Schloss. Auch wenn er da nicht sicher war, wenigstens war er da nicht allein mit seinen Problemen und Ängsten. Er wollte zurück zu seiner Mutter.

Als hätte jemand einen Eimer Salzwasser über ihm ausgekippt, saß er plötzlich kerzengrade auf dem Rücken der Stute. Beinahe wäre er runtergefallen. Seine Mutter! Was würden die Revolutionäre mit ihr machen, wenn sie sie in die Finger bekommen würden?

»Wir müssen zurück!«, rief er aufgelöst. Die salzigen Tränenspuren trockneten im Gegenwind und verkrusteten seine Haut.

Entgeistert warf Esmeralda ihm einen Blick zu. »Bist du jetzt komplett verrückt geworden?!«

»Wie hält man dieses Monster an?«, heulte Timotheus mit einer Dringlichkeit, die Esmeralda unvorbereitet traf. Wie wild zog er an der Mähne seines Pferdes, was die Stute dazu veranlasste, zu steigen. Beinahe wäre er runtergefallen, aber die Angst, unter die riesigen Hufe des Tieres zu kommen, ließ ihn sich ganz eng an den Pferderücken pressen.

Nur mit Mühe konnte Esmeralda ihren Hengst anhalten. »Sag mal, bist du jetzt vollkommen durchgedreht?«, schrie sie, ließ ihr Pferd umkehren und zu Timotheus traben. »Du kannst doch nicht einfach dem Pferd an der Mähne rumzerren wie ein Geisteskranker! Und du kannst auch nicht zurück! Schon vergessen, die wollen dich alle tot sehen!«

Ängstlich lugte Timotheus auf den Boden. Warum waren Pferde auch so groß. »Aber meine Mutter ist noch da drin!«

»Und du bist hier draußen, verdammt! Also reiß dich am Riemen!«, befahl Esmeralda und ließ sich vom Rücken ihres Pferdes rutschen, um zu Timotheus zu eilen. Nicht dass der auf dumme Gedanken kam.

»Aber was, wenn sie sie gefunden haben?«, sagte er. In seinem Kopf ratterten unzählige Szenarien vorbei, wie dreckige Menschen in die Gemächer seiner Mutter eintraten und sie, wie sie wehrlos im Bett lag, auf unzählige Arten fortschleiften oder direkt umbrachten. Er kniff die Augen zu. Die Horrorvorstellungen gingen davon nicht weg. »Ich kann sie nicht allein lassen! Wer weiß, was sie ihr antun!«

Esmeralda schaute verbissen Timotheus an, während sie auf ihn zulief. »Was bist du denn für eine Heulboje?! Mein Vater ist auch noch im Schloss und hinter ihm sind diese Typen doch viel mehr her! Siehst du mich heulen und nach meiner Mami schreien? Huh?«

Mittlerweile hatte Timotheus es mehr schlecht als recht geschafft, sich ebenfalls von seinem Pferd hinuntergleiten zu lassen. Die Stute stand zwischen ihm und Esmeralda, als er ihr sagte: »Aber du liebst deinen Vater ja auch nicht, wie ich meine Mutter liebe!«

In der nächsten Sekunde stand Esmeralda Nase an Nase vor ihm, hielt ihn am Kragen und hatte mit einer Faust zum Schlag ausgeholt. »Wag es ja nicht, mir zu unterstellen, dass ich meinen Vater nicht liebe«, knurrte sie. In ihren Augen funkelte feurige Wut. »Du hast keine Ahnung von meiner Familie!«

Entsetzt starrte Timotheus auf ihre Faust. »D-du würdest dich nicht trauen, m-mich zu schlagen!«, brachte er mit dem Mut der Dummen hervor.

Gleich darauf flog sein Kopf nach hinten. Sein Gesicht brannte, als hätte jemand tausende brennende Nadeln hineingestochen. In einem Auge hatten sich Tränen angesammelt und er sah nur noch verschwommen.

»Du weißt nichts über mich.« Esmeralda stieß ihn von sich. Sie deutete auf den Weg, den sie gekommen waren. »Nur zu! Geh doch zurück! Lass dich von ihnen aufknüpfen! Zu was anderem bist du sowieso nicht gut!«

Mit einem letzten hasserfüllten Blick auf Timotheus drehte sie sich um, stieg auf ihr Pferd und galoppierte die Straße hinunter Richtung Wald.

Timotheus verbot es sich zu heulen. Er würde ihr schon zeigen, für was er gut war! Schließlich war er der König! Er würde zurückgehen, seine Mutter da rausholen, jeden, der rebelliert hatte, für seine Taten bestrafen und das Land regieren, genauso, wie es vorgesehen gewesen war! Er würde...

Er brach mitten auf dem Weg zusammen und heulte. Er heulte Rotz und Wasser, weil alles schief gegangen war, er alles noch schlimmer gemacht hatte und er ein Feigling war. Es machte ihm noch nicht einmal was aus, dass die Stute nur fünf Schritte von ihm entfernt ohne Abzäunung neben ihm stand.

Er heulte so lange, bis er Schluckauf bekam. Dann wischte er sich das Gesicht mit seinen dünnen Armen ab und schaute sich hicksend um. Die Gebäude hier waren nicht schäbig und windschief. Die meisten waren aus Stein erbaut und ein oder zwei Stockwerke hoch. Über die Straße hinweg zwischen den höheren Stockwerken waren Leinen voller Wäsche gespannt worden, die in der Meeresbrise flatterten. Der Wind trug den Ruf von Möwen mit sich und das Brechen der Wellen an den Stegen im Hafen. Er trug den Geruch von Salzwasser mit sich, von Dreck und Fisch, von feuchtem Stein, der nie trocken wurde, und Schimmel, der diese feuchten Wände bedeckte. Vor allem trug der Wind das Geräusch von Menschen mit sich, auch wenn Timotheus im Moment nur ein paar Passanten sah, die ihn mieden und nah an den Gebäuden entlang eilten. Er bildete sich ein, sie miteinander flüstern zu hören.

»Hast du schon gehört? Die Burg wurde gestürmt. Der König wurde entmachtet.«

»Wirklich? War nicht heute seine Krönung? Sachen gibt's!«

»Aber geschieht ihm Recht. Jahrelang in Saus und Braus leben und uns im Dreck verhungern lassen? Er kriegt nur, was er verdient!«

Voller Scham stellte er fest, dass er zu viel Angst hatte, um zurückzugehen. Er wollte nicht sterben. War das nicht normal? Trotzdem fühlte es sich an, als würde er seine Mutter im Stich lassen. Als hätte ihn jemand gefragt: Was ist für dich wichtiger, dein Leben oder das deiner Mutter? Und er hätte geantwortet: Meines.

Hufgetrappel in seinem Rücken lenkte ihn ab.

Esmeralda kam auf ihrem Hengst herangeritten, nicht schnell, es war mehr ein zaghaftes Traben.

Timotheus sprang auf und wischte sich erneut über sein Gesicht. Konnte man noch sehen, dass er geweint hatte? Er musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen, als der Hengst direkt neben ihm zum Stehen kam. Nicht einmal sah er zu Esmeralda hoch.

»Steig auf«, sagte sie.

»Ich komm nicht hoch.«

Sie streckte eine Hand für ihn aus.

Kurz zögerte er, griff dann aber danach und ließ sich von ihr auf den Rücken ihres Hengstes ziehen.

»Halt dich fest«, sagte sie.

Diesmal verlor Timotheus keine Zeit.

Es war nicht so schwer, sich an Esmeralda festzuhalten, wie Timotheus gedacht hatte. Solange er sie nicht ansah, konnte er sogar noch so tun, als wäre er sauer auf sie. Entschuldigen konnte er sich dennoch nicht. Er war sich bewusst, dass er eine Grenze überschritten hatte, aber sein Stolz hielt ihn davon ab, sich bei ihr entschuldigen zu können. Sein vermaledeiter Stolz.

Sie waren bereits aus der Stadt und ritten einen sanften Abhang hinunter in ein Tal hinein. Auf dem gegenüberliegenden Berghang begannen die Ausläufer eines Mischwaldes und zogen sich bis ganz zu seiner Spitze. Timotheus musste einfach fragen.

»Warum bist du zurückgekommen?«

Esmeralda schwieg. Solange, dass er dachte, dass sie ihm nicht mehr antworten würde. Dann sagte sie: »Balsa hätte mich umgebracht, wenn er mich ohne dich angetroffen hätte.«

Timotheus behielt es lieber für sich, dass Balsa ihm nicht wie die Art Mann vorkam, die jemanden deswegen töten würden. Stattdessen beschränkte er sich nur auf ein Nicken. Was wusste er schon? Das war die Lektion, die er an diesem Tag gelernt hatte. Was wusste er schon.

***

Die Stadt war hinter einer Bergkuppe verschwunden, als sie anhielten, und die Nacht brach herein.

»Damit sich das Pferd nicht die Beine bricht, wenn es über irgendeinen Stein stolpert, sollten wir für die Nacht hierbleiben«, sagte Esmeralda und war schon vom Pferd gerutscht, noch bevor sie den Satz beendet hatte.

Sie redeten nicht, während sie weiterliefen. Es dauerte noch eine Weile, bis sie eine Kuhle fanden, die Esmeralda als annehmbares Nachtlager auswählte. Die natürliche Mulde war auf der einen Seite von Büschen bewachsen und bot ein wenig Schutz vor dem an den nächtlichen Bergen abfallenden Wind. Sie hatte kein Seil, um das Pferd anzubinden, also schickte Esmeralda es mit einem Klapps auf den Hintern fort. »Wir müssen nicht noch ein Pferd mit hineinziehen«, murmelte sie. Timotheus war still geblieben.

Erst als sie in der Kuhle lagen und der sternenklare Nachthimmel über ihnen hing, sagte er etwas. »Wie will Balsa uns hier finden? Sollten wir ihm nicht vielleicht eine Art Zeichen geben.«

Esmeralda gähnte. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Mauskönig. Wenn Balsa etwas sucht, dann findet er es auch. Und jetzt versuch etwas zu schlafen. Morgen müssen wir weiter in die Berge hineinlaufen.«

Timotheus verkniff sich die Frage nach dem Warum, die automatisch in ihm hochgestiegen war. Je weiter sie von der Stadt entfernt waren, desto besser.

Die Nacht war angenehm mild und trotz des harten Bodens fiel es Timotheus nicht schwer, einzuschlafen, zu viel war an diesem Tag passiert. Er hoffte noch immer darauf, dass alles nur ein böser Traum war, er aufwachen und feststellen würde, dass die Burg nicht überrannt und er nicht von seiner Mutter getrennt worden war.

Am nächsten Morgen weckten ihn die ersten Sonnenstrahlen aus seinem unruhigen Schlaf. Die Sonne hatte sich gerade erst über den Horizont geschoben.

Timotheus zitterte. Seine Haare und Kleidung waren klamm von den winzigen Tröpfchen Raureif, die sich über Nacht auf das Tal gesenkt hatten. Die letzten Sterne funkelten im noch dunklen Teil des Firmaments, als er sich die Feuchtigkeit und Kälte aus den Knochen zu reiben begann. Sein Blick fiel wie von selbst auf den Berg, hinter dem die Stadt versteckt lag. So nah und doch so fern. Hoffentlich fern genug, dass sie nicht eingeholt wurden. Er sah zumindest keine verräterischen Anzeichen.

Dann fiel ihm auf, dass Esmeralda fehlte. Das Gras war platt gedrückt an der Stelle, an der sie gelegen hatte, doch von ihr selbst fehlte jede Spur. Hatte sie ihn allein gelassen, weil sie doch beschlossen hatte, er war es nicht wert, gerettet zu werden? Angst kroch in ihm hoch. Vielleicht war ihr aufgegangen, was für ein Feigling er war. Vielleicht hatte sie gemerkt, dass er es nicht wert war, dass sie ihr Leben für ihn aufs Spiel setzte, wo sie ihn doch nicht mal leiden konnte. Das hatte sie schließlich ganz klar gemacht. Überhaupt war es ihm noch immer ein Rätsel, warum sie um sein Wohlergehen besorgt sein sollte, außer dass sie Balsa den Gefallen tun wollte. Aber einen so großen Gefallen, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzte? Das kam Timotheus nicht nur ein bisschen seltsam vor, jetzt wo er so drüber nachdachte.

Er wanderte für einige Minuten durch die Gegend, doch behielt immer die Mulde im Blick. Vielleicht tauchte Esmeralda ja doch wieder auf.

Sein Magen knurrte. Er hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Und auch wenn er nicht übermäßig verfressen war, er war es einfach nicht gewohnt für längere Zeit nichts zu essen zu haben. Ein Wunder, dass er gestern einfach einschlafen konnte, ohne in warme Decken gehüllt in einem weichen Bett mit gefülltem Magen zu liegen. Leider war das alles doch kein Traum gewesen. Dass das nun aber seine Realität war, wollte ihm auch nicht so wirklich in den Kopf. Es war alles so schnell gegangen...

Sein Blick schweifte wieder in die Richtung, aus der sie gestern gekommen waren. War da etwas auf der Hügelspitze? Es bewegte sich auf jeden Fall etwas. Panisch versuchte er sich auf die kleinen Punkte zu konzentrieren. Waren sie gekommen, um ihn zu holen?

Kopflos rannte er los auf den Wald zu. Seine Kondition war unterirdisch, aber seine Panik verlieh ihm die Kraft, die er brauchte, um den steilen Aufstieg hinaufzurennen und zwischen den Bäumen unterzutauchen. Hinter ihm wurden Rufe laut. Er riskierte einen Blick zurück. Der Hügelkamm wurde zunehmend dunkler von kleinen Miniaturmenschen, die alle den Abhang hinunter- und auf ihn zuliefen. Seine Beine wollten einige Male unter ihm wegrutschen, als er über Wurzeln und Steine die Bergseite hinaufkletterte. Die Bäume standen zunehmend enger zusammen und das Unterholz wurde weniger.

Unter dem Blätterdach herrschte noch ein diffuses Dämmerlicht, das einige Stolperfallen vor Timotheus verbarg. Mehr fiel er den Berg hinauf, als dass er ihn bestieg, doch irgendwelche tief in ihm verborgenen Reflexe verhinderten immer wieder, dass er sich den Kopf anschlug oder sonst irgendwelche schlimmeren Wunden davon trug als bloß Kratzer oder Schürfwunden. Trotzdem war er nicht schnell. Er konnte sich an keinen Tag in seinem Leben erinnern, in dem er wirklich gerannt war und das war sein Nachteil.

Er hörte, wie die Rufe in seinem Rücken zunehmend lauter wurden.

»Er ist in die Bäume!«

»Hinterher!«

»Teilt euch auf und übernehmt mehr Fläche!«

»Weit kann er nicht gekommen sein!«

Plötzlich packte ihn eine starke Hand am Arm und zog ihn hinter einen Baum. Er wollte aufschreien, doch auf seinen Mund wurde eine weitere Hand gepresst. Er zappelte und trat, aber der Griff löste sich nicht.

»Ssch«, flüsterte sein Angreifer. »Beruhigt Euch bitte, mein König! Ich bin es!«

Timotheus drehte sich um und sah in Balsas braune Augen. Vorsichtig nickte er und Balsa nahm ihm seine Hand vom Mund.

»Wie habt Ihr mich gefunden?«, fragte er ebenfalls leise.

Balsa schüttelte den Kopf. »Wir müssen von hier fliehen.«

Äste knackten und Blätter raschelten, als die Suchtruppen näher kamen.

»Ich bin zu langsam«, gestand Timotheus Balsa ein.

»Dann erlaubt mir, Euch zu tragen«, bat Balsa.

»Aber dann halte ich Euch zurück.« Timotheus schluckte den Kloß runter, der sich in seinem Hals bildete, bei dem Gedanken, gehangen zu werden. Allerdings war der Kloß noch größer, wenn er sich vorstellte, Balsa mit hineinzuziehen. Der Hüne war nichts als freundlich und ehrerbietig ihm gegenüber gewesen und nicht nur wegen seiner Größe war er wie ein Fels in der Brandung für Timotheus. Immer wenn Balsa in der Nähe war, fühlt er sich ein wenig sicherer, egal wie einfältig und naiv das klingen mochte. Ihn wegen seinem Großmut mit in den Tod zu reißen, war keine Option. »Ich möchte nicht, dass Ihr wegen mir sterbt.«

»Ich werde nicht sterben. Und schon gar nicht wegen Euch. Wenn ich tatsächlich gefasst werden sollte, dann bin ich dieses Risiko aus eigenen freien Stücken eingegangen und Ihr konntet nicht dagegen tun.«

Die Schritte kamen näher. Balsas Stimme wurde noch leiser und eindringlicher. »Aber jetzt müssen wir uns beeilen. Bitte erlaubt mir, Euch zu tragen, sonst muss ich Euch mit Gewalt mitnehmen.«

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, den Timotheus nutzte, um sich zusammenzureißen. So viel Herzensgüte hatte er nicht erwartet. Dann nickte er. »Bitte tragt mich.«

Balsa lächelte, half Timotheus auf seinen Rücken und sprintete los, den steilen Berghang hinauf. Die Bäume und Wurzeln benutzte er als Trittsteine, um sich schnellstmöglich nach oben zu arbeiten. Timotheus klammerte sich an seinen Rücken, als hinge sein Leben davon ab. Leider tat es das.

»Da sind sie!«, ertönten Rufe hinter ihnen und die Schritte in ihrem Rücken wurden schneller.

»Wo?«, wurde von weiter weg gerufen und der Mann hinter ihnen antwortete.

Die Schritte wurden zahlreicher.

Timotheus wagte einen Blick zurück. Hinter ihnen rannten drei Männer den Berg hoch und mehr gesellten sich zu ihnen, hingen aber weiter zurück. In ihren Gesichtern stand verbissene Entschlossenheit und ihre Augen schienen alle auf Timotheus fixiert zu sein, auch wenn er sich das vermutlich einbildete.

Der Abstand zwischen ihnen und den Verfolgern wurde nicht kleiner. Balsa war gerade schnell genug, sodass er außer Reichweite blieb, aber auch keinen Vorsprung aufbauen konnte. Ein schlechtes Gewissen befiel Timotheus, dass er versuchte zu verscheuchen. Das hier war Balsas freie Entscheidung gewesen. Niemand hatte ihn dazu gezwungen. Umso dankbarer war Timotheus ihm.

Zu Anfang der Verfolgung riefen die Männer Timotheus und Balsa noch Beleidigungen hinterher, doch bald waren sie so außer Atem, dass sie keinen Ton mehr herausbekamen, ohne zu husten anzufangen. Balsa hingegen zeigte stählerne Kondition. Abgesehen vom Schweiß, der schon bald sein Gesicht hinunter lief und dem minimalen Verlangsamen seiner Bewegungen, war er noch so gut wie neu. Als das Terrain an der Kuppe des Berges etwas abflachte, und Balsa nicht mehr klettern musste, begann er parallel zum Abhang zu rennen. Und Balsa konnte rennen. Es kam Timotheus beinahe ein bisschen so vor, als ritte er auf einem Pferd, nur dass er nicht eine Unendlichkeit über dem Boden hing und dass er keine Heidenangst vor seinem Reittier hatte. Aber Balsa war schließlich kein Reittier, auch wenn seine Bewegungen in ihrer Schnelligkeit und Ausdauer beinahe animalische Züge hatten. Timotheus hatte zumindest noch keinen Menschen so schnell und so lange rennen sehen. Ein Glück, dass Balsa auch für zwei rennen konnte, sonst wäre er schon lange gefangen genommen worden.

Es war überhaupt ein Glück, dass Balsa zu der rechten Zeit am rechten Ort war und Timotheus konnte sein Glück noch nicht recht fassen.

Balsa wurde erst wieder langsamer, als er den Berg wieder hinunterlief. Die Höhle, auf die er zusteuerte, sah Timotheus erst, als sie im Unterholz davor standen. Der Eingang war recht klein, von einem steinernen Überhang überdacht und von einem dichten Farngewächs verdeckt. Vielleicht hätte er sie nie gesehen, wenn Balsa ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.

»Hier hinein«, sagte Balsa und strich die Farnwedel zurück.

Timotheus kletterte von seinem Rücken und krabbelte in die Höhle. Er hatte keinerlei Problem hineinzukommen, während Balsa einen Augenblick brauchte, um seine breiten Schultern durch den schmalen Eingang zu schmuggeln. In einer unbequem aussehenden Haltung schaffte er es schließlich hinein, der Farn schnappte zurück und filterte das hereinströmende Licht grün. Timotheus konnte das Ende der Höhle nicht sehen und setzte sich nahe des Eingangs an die Wand. Stille umschloss ihn, abgesehen von Balsas stoßweiser Atmung. Die Flucht hatte ihn wohl doch angestrengt. Irgendwie erleichterte Timotheus das. Es machte Balsa menschlicher. Auch er hatte Grenzen. Zwar Grenzen, die bei weitem nicht mit denen von Timotheus übereinstimmten - er hätte solche Geschwindigkeiten nie erreichen können -, aber auch seine körperlichen Fähigkeiten waren nicht unendlich.

»Seid Ihr wohlauf, mein König?«, fragte Balsa leise, nachdem er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war.

Timotheus nickte und umarmte seine angezogenen Knie. Der Stein, an dem er lehnte und auf dem er saß war kühl und er noch immer dünn angezogen. Seine Arme überzog eine Gänsehaut. »Ja«, flüsterte er. »Glaubt Ihr, sie werden uns hier finden?«

»Nicht, solange sie nicht unglaublich gute Nasen haben«, sagte Balsa scherzend. »Und solange wir ruhig sind. Der Eingang liegt so gut versteckt, dass sie einfach daran vorbeilaufen werden, ohne uns zu bemerken.«

»Gut«, sagte Timotheus. »Das ist gut.«

Wieder Stille. Der Farn raschelte ein wenig, wie er im Wind gegen den Stein schabte und jedes Mal fürchtete Timotheus, eine dreckige Hand würde ihn beiseiteschieben, entschlossene Augen würden ihn sehen und rissige Lippen würden rufen, dass sie ihn gefunden hätten.

Lange Zeit tat sich nichts und Timotheus Gedanken drehten durch. Malten sich die tollsten Gefahren aus. Wenn von draußen nichts kam, dann war auf einmal ein Drache im finsteren Teil der Höhle und wartete nur darauf, dass er sich bewegte, um ihn dann mit Haut und Haaren zu verschlingen.

Er wusste nicht, wie lange er schon regungslos dagesessen hatte, sein Po war kalt und tat weh, seine Muskeln und Glieder steif vom langen Warten, als Balsa sich bewegte. Er stand auf, sofern er sich unter der niedrigen Decke aufrichten konnte, und linste aus der Höhle hinaus. Nervös beobachtete Timotheus ihn dabei.

»Es scheint alles vorbei zu sein«, sagte Balsa und die plötzliche Lautstärke ließ Timotheus zusammen zucken. Paranoid, wie er war, rechnete er noch immer damit, dass Balsa jeden Moment zusammengeschlagen und aus der Höhle gezerrt würde.

Doch nichts geschah.

»Seid Ihr Euch sicher?«, wagte Timotheus sich zu fragen.

»Ja«, antwortete Balsa. »Die Sonne ist schon über ihren Zenit hinaus gewandert, wenn ich das richtig sehe. Wenn sie uns bis jetzt noch nicht gefunden haben, dann sollten wir sicher sein.«

Timotheus nickte zu sich selbst. Wenn Balsa das sagte, dann sollte das schon seine Richtigkeit haben.

»Trotzdem schlage ich vor, dass wir noch bis zum Einbruch der Nacht hier verweilen. Vielleicht durchkämmen noch immer Streifen den Wald und in der Nacht können wir ihnen besser aus dem Weg gehen. Ich hoffe, Ihr ertragt diese Höhle noch ein wenig länger? Ich weiß, sie ist kein Ort, an dem man gerne länger verweilt...«

»Nein, Ihr habt recht. Es ist wahrscheinlich das Beste zu warten.«

Balsa seufzte erleichtert. »Ich bin froh, dass Ihr das auch so seht, mein König.«

Timotheus lächelte schwach und zog seine Beine noch ein wenig näher zu sich. »Wenn wir allerdings etwas gegen die Kälte tun könnten...«

Betroffen sah Balsa zu ihm. Es schien, als registriere er erst jetzt, was für Klamotten Timotheus trug. »Oh, ja! Natürlich! Verzeiht bitte, dass ich nicht schon früher etwas dagegen unternommen habe...«

Timotheus winkte ab. »Ihr hattet wichtigere Dinge im Sinn, wie zum Beispiel unser Überleben.«

»Aber wenn Ihr an einer Unterkühlung sterben solltet, dann sind alle meine bisherigen Rettungen dennoch umsonst gewesen.« Balsa lächelte, stand auf und deutete auf den Boden neben Timotheus. »Darf ich mich zu Euch setzen?«

»Natürlich, bitte.«

Balsa nahm neben Timotheus Platz und auch, wenn er weiter weg saß, konnte Timotheus doch ein bisschen seiner Körperwärme spüren. Seine gefrorenen Knochen saugten sie auf wie Schwämme Wasser. »Ich habe leider nicht viel mehr anzubieten, als was ich am Leibe trage«, sagte Balsa und zog sich einen Überwurf aus grober Wolle über den Kopf, »aber wenn es Euch genehm ist, dann gebe ich meine Kleidung gerne her.« Er reichte Timotheus den Wollstoff, in den Timotheus sofort hineinschlüpfte.

Was für Balsa eine Art Poncho war, war für Timotheus eine kleine Decke und spendete ihm genug Wärme, dass er nicht mehr zitterte. Dass die Wolle fürchterlich kratzte war in diesem Augenblick mehr als sekundär.

»Danke«, sagte Timotheus und vergrub das Kinn im Stoff. Er roch trocken, nach Salz und warmem Körper.

»Mit Vergnügen«, sagte Balsa und die beiden verfielen wieder in Stille.

»Wie habt Ihr diese Höhle überhaupt gefunden?«, fragte Timotheus nach einer Weile. Schließlich hatte er Zeit totzuschlagen und allein mit seinen Gedanken zu sein, machte ihm Angst und schlafen konnte er nicht.

»Oh, äh... Ich bin zufällig hineingestolpert«, erklärte Balsa.

Timotheus kniff die Augenbrauen zusammen. »Hineingestolpert? Verzeiht mir, wenn ich das bei Eurer Größe schwer begreiflich finde.«

»Nun ja, ich bin auf der Suche nach Euch ein wenig zu weit gewandert und bin in meiner Unaufmerksamkeit über eine Baumwurzel gestolpert, glücklicherweise direkt in den Farn hinein.« Er strich sich mit einer Hand die Haare aus der Stirn. Kurz unter dem Haaransatz konnte Timotheus im dämmrig grünen Licht etwas Dunkles sehen. »Ich hab mir beim Fallen allerdings den Kopf angeschlagen. Es hat eine Weile lang gebrannt, aber jetzt tut es nicht mehr weh. Und irgendwie waren meine Schmerzen ja doch für etwas gut.« Er zuckte mit den Achseln.

»Ja...«, stimmte Timotheus zu. Er wollte sich lieber nicht ausmalen, wie alles ausgegangen wäre, hätte Balsa diese Höhle nicht gefunden. »Oh, das soll aber nicht bedeuten, dass ich Euch Schmerzen wünsche! Es wäre natürlich besser gewesen, Ihr hättet Euch nicht verletzt, aber im Endeffekt war Eure Unachtsamkeit doch zu etwas gut«, versuchte er sich zu rechtfertigen.

Balsa lächelte. Es war nicht so ein Lächeln mit geschlossenen Lippen, wie er es Timotheus zuvor immer geschenkt hatte, dieses hier war anders und es machte Timotheus ein wenig befangen. »Ich weiß schon, wie Ihr das meint.«

Erleichtert ließ Timotheus die Schultern fallen.

Balsa kratzte sich etwas unbehaglich am Kinn, als er fragte: »Wo wir gerade schon dabei sind, Fragen zu stellen: Wisst Ihr wo Esmeralda ist?«

Timotheus schüttelte den Kopf. »Als ich heute Morgen aufgewacht bin, war sie nirgendwo zu sehen.«

»Ah«, machte Balsa und verfiel in nachdenkliche Stille.

»Wisst Ihr vielleicht wo sie sein könnte?«, hakte Timotheus betont uninteressiert nach. Schließlich war Esmeralda nicht unbedingt die netteste Person ihm gegenüber gewesen, seit er sie kennengelernt hatte, aber sie hatte ihn gerettet. Zwar nicht seinetwillen, aber er verdankte ihr dennoch sein Leben. Das allein war schon mehr, als er es wagte, laut einzugestehen.

»Vielleicht ist sie zurück in die Stadt, um Informationen zu bekommen. Ihr Vater ist wohl auch kein ganz uninteressanter Mann für die Revolutionäre. Ich hoffe, sie bekommt mehr raus als ich.«

»Wie meinen?«

»Ich habe gestern, nachdem Ihr mit Esmeralda geflohen seid, ebenfalls versucht, Informationen zu den Zuständen, die im Moment im Schloss herrschen, zu bekommen. Oder irgendetwas in Erfahrung zu bringen.«

»Wisst Ihr etwas über meine Mutter?«, fragte Timotheus und Hoffnung gemischt mit Furcht vor der Antwort stieg in ihm hoch.

Zu seiner Enttäuschung schüttelte Balsa den Kopf. »Leider nein. Es war wohl noch zu früh, niemand der üblichen Verdächtigen wusste etwas.«

Timotheus kam sich dumm vor. »Übliche Verdächtige?«

»Die Schankbesitzer. Sie sind sowas wie das Infonetzwerk für diejenigen, die den richtigen Preis bezahlen können. Es gibt viele Leute, die nur allzu gerne ihre Sorgen wegtrinken oder ein wenig mehr wissen als andere. Und Alkohol löst ihre Zungen, bis sie reden wie ein Wasserfall. Aber niemand konnte mir etwas sagen.«

»Das heißt, wenn man den richtigen Preis zahlt, kann man alles in Erfahrung bringen?«, fragte Timotheus. Seine Augen leuchteten. »Auch, ob meine Mutter noch am Leben ist?«

Balsa nickte. »Das liegt durchaus im Rahmen der Möglichkeiten.«

»Dann müssen wir dahin und sie fragen!«, sagte Timotheus aufgeregt und sprang auf die Füße. Seine Muskeln protestierten gegen die plötzliche Bewegung.

Balsa sah nicht so begeistert aus. »Das halte ich für keine gute Idee. Ihr seid noch immer in Gefahr, mehr noch sobald ihr die Stadt betretet. Jeden Augenblick könnte jemand erkennen, wer Ihr seid. Und selbst wenn Ihr es schafft, an einen Informanten heranzukommen, habt Ihr, wenn Ihr nicht zufällig bei unserer Flucht Vorräte aus Eurer Küche oder Kleidung aus Euren Quartieren oder sonst etwas von materiellem Wert mitgenommen habt, nichts, was Ihr gegen die Informationen tauschen könntet.«

Timotheus wollte zwar nicht, musste aber einsehen, dass Balsa recht hatte. Außer seinem Titel als König, der wohl mittlerweile eher Fluch als Segen war, und dem was er Leibe trug, hatte er nichts. Wobei der Überwurf ebenfalls nicht ihm gehörte. Er hatte nichts. Also was tauschen?

»Habt Ihr denn etwas, das man tauschen könnte?«, fragte er Balsa nach einer Weile und mit gesenktem Blick.

Balsa schien zu überlegen. »Nichts, was genug wert wäre, um Informationen über die Königin zu bekommen. Abes er ließe sich bestimmt etwas finden«, sagte er dann vorsichtig. »Korrigiert mich bitte, wenn ich falsch liege, aber die Burg in Reidro ist nicht der einzige Sitz Eurer Familie, oder?«

Timotheus nickte langsam. »Ja, in unserem Jagdschlösschen ließe sich durchaus etwas finden.«

»Gut, dann sollten wir uns in Richtung des Jagdschlosses aufmachen, sobald Esmeralda zu uns gestoßen ist«, schlug Balsa vor.

Fragend sah Timotheus zu seinem großen Gefährten und setzte sich wieder, diesmal wieder mit neuem Tatendrang. Er musste seine Mutter noch nicht vollkommen im Stich lassen. Das schlechte Gewissen, dass zuvor an ihm genagt und ihn schlecht hatte schlafen lassen, ließ etwas nach. »Wie soll Esmeralda uns hier finden, wenn Ihr auch nur von der Existenz dieser Höhle wisst, weil ihr buchstäblich mit dem Kopf darauf gestoßen seid?«

»Macht Euch darum keine Gedanken. Wir werden sie unterwegs auf jeden Fall treffen.«

»Die Frage des Wie bleibt dennoch bestehen.«

»Nennt es Intuition, wenn Ihr wollt, oder Instinkt. Das Einzige, was ich Euch sagen kann, ist, dass wir sie finden werden.« Balsa machte auf Timotheus nicht den Eindruck, als würde er nachgeben wollen.

Timotheus wollte allerdings auch nicht noch einmal nachhaken. Unter anderen Umständen hätte er Balsa vielleicht gedroht, aber er stand zu tief in Balsas Schuld, als dass er eine Drohung ohne Scham über die Lippen gebracht hätte. Stattdessen lenkte er seine Gedanken auf die Situation, die vor ihnen lag. »Wie viel könnte die Information nach dem Wohlergehen der Königin denn kosten?«, fragte er. »Vielleicht Mahlzeiten für einen Monat?«

»Das könnte noch zu wenig sein. Ihr seht, die Revolution war mehr als nur eine plötzliche Antwort auf Eure Krönung durch Hohepriester Sugil. Von einem solchen Ereignis allein begehrt das Volk noch nicht auf. Die Königin hat viele Familien in die Armut gestürzt, weil sie zu viel ihrer harten Arbeit in den Minen und Schmieden für zu wenig an Ziorbal verkauft hat. Das hat schon vor einem Jahrzehnt für Unruhe gesorgt. Eure Krönung durch die Handelsmacht, die zu wenig zurückgibt für das, was sie bekommt, war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Und die Königin hat in der Entstehung dieser Revolution eine nicht unentbehrliche Rolle gespielt, weswegen die Revolutionäre Informationen über ihren Standort und ihre Verfassung sehr gut unter Verschluss halten werden.«

»Aber auch die Revolutionäre müssen hungern, oder etwa nicht? Wenn man ihnen genug Mahlzeiten anbieten würde, dann würden sie doch sicherlich einknicken, oder?«

Balsa schüttelte den Kopf. »Damit würde ich nicht rechnen. Die Revolutionäre sind Idealisten, die die Königsfamilie als solche als falsch und unrechtmäßig ansehen. Diese Ideale sind alles, was sie über die letzten Jahre am Leben haben festhalten lassen. Sie würden sie für nichts auf der Welt verkaufen.«

Timotheus konnte nicht umhin zu fragen: »Wieso seid Ihr Euch da so sicher?«

»Wenn man in Reidro lebt, dann läuft man ihnen früher oder später über den Weg.« Balsa zuckte mit den Achseln, als sei es nichts Besonderes. »Sie halten sich nicht besonders bedeckt und rekrutieren jeden, der sich ihnen anschließen möchte. In der Stadt weiß eigentlich jeder von ihnen, der in den richtigen Schichten verkehrt.«

»Wie kommt es dann, dass niemand im Schloss von ihnen wusste?«

Balsa lachte. »Es wundert mich nicht, dass Ihr nicht von ihnen wusstet. Wie gesagt, wenn sie etwas unter Verschluss halten wollen, dann dringt kein Ton nach draußen.«

»Warum sollten Leute von ihnen rekrutiert werden wollen?«

»Weil sie sonst nichts mehr haben, an dem sie sich festhalten. Sie fühlen sich im Stich gelassen und die Revolutionäre bieten ihnen Kameradschaft, Zusammenhalt und einen Zweck im Leben. Sie teilen das wenige, was sie haben, gerecht untereinander auf. Bei der Aufsicht auf etwas im Magen werden viele schwach.«

»Also kaufen sie die Menschen?«

»Nein, sie geben ihnen Hoffnung.«

»Das klingt so, als wärt Ihr mit ihnen einer Meinung.«

»Ich bin weder für die Abschaffung der Königsfamilie noch für Krieg gegen Ziorbal aus Rache und schlechten Gefühlen. Besonders letzteres ist gefährlich. Ziorbal zu provozieren, die so ein großer Handelsstaat sind und in Reichtum leben, während wir alles aus unseren kargen Böden herausholen und immer noch nicht genug haben, ist keine gute Idee. Unter keinen Umständen. Aber weniger Hunger und ein Hoffnungsschimmer verleitet viele Menschen auf Wege, die auf einen Abgrund zuführen.«

Timotheus fragte sich, was sein Zweck im Leben nun war, jetzt, wo er zwar König war, aber seine Untertanen gegen sich aufgewiegelt hatte. Was war seine Hoffnung, wenn er nichts über den Zustand seiner Mutter wusste und er selbst von allen Bewohnern der Hauptstadt gesucht wurde, um dann ein Exempel zu werden für alle, die gegen sie gingen?

»Macht nicht eine so betrübte Miene. Wir werden Eure Mutter schon noch retten. Ich bin mir sicher, dass die Revolutionäre ihr nichts angetan haben, und wenn wir schnell handeln, dann wird sie auch weiterhin unversehrt bleiben. Aber dazu müssen wir zu Eurem Jagdschloss. Von den offiziellen Wegen sollten wir uns fernhalten, sie werden wohl patrouilliert werden. Und wenn wir so wenig Aufmerksamkeit auf uns ziehen wollen wie nur irgend möglich, sollten wir auch die Gasthäuser meiden und bei Nacht reisen. Es sollte genug Höhlen wie diese geben, in denen wir die Tage ausharren können. Es tut mir leid, dass Ihr nicht Euren gewohnten Komfort genießen könnt.« Er schien es ehrlich zu bereuen.

Timotheus winkte ab. »Macht Euch um mich keine Sorgen. An einer harten Schlafstätte soll mein Leben nicht scheitern. Aber ich hätte gerne meinen eigenen Satz warmer Kleidung, damit ich Euch damit nicht noch zusätzlich zu Last falle.«

»Von Last kann keine Rede sein«, versicherte Balsa ihm.

»Dennoch würde ich es vorziehen, mich nicht vollkommen auf Euch und Eure Güte verlassen zu müssen.«

»Wie Ihr wünscht. Doch seid Euch sicher, dass Ihr keine Last seid, in keiner Weise.«

»Das zu sagen ist großmütig von Euch. Danke«, sagte Timotheus und faltete seine Hände im Schoß.

»Nicht dafür«, lächelte Balsa und sie verfielen in einvernehmliches Schweigen, das Timotheus diesmal nicht mit Szenarien seines Todes sondern mit Vorstellungen von der Rettung seiner Mutter füllte.

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