Kapitel 1

Die Tür des Balkons schwang auf und eine in Weiß gekleidete Reihe von Gardisten schritt auf die erhobene Plattform. Der Balkon war eigentlich ein mit Granitplatten ausgelegter Vorsprung des Berges, der wie so viele andere Berge in Sincan auch, besonders nah am Meer gelegen war. In diesem Berg befand sich der königliche Palast - zumindest in einem Teil. Vom Balkon ging der Blick auf den Marktplatz hinaus, der heute mehr mit Menschen als mit Ständen gefüllt war. Einige Häuserreihen trennten den Marktplatz vom Hafen, in dem kleine Handelsschiffe und Fischerboote an schmalen Stegen vertäut dalagen und im leichten Wellengang des Hafens auf und ab schaukelten. Aufgeschüttete Erd- und Steinhügel schützen das Hafenbecken vor der Strömung des offenen Meeres, sodass die Schiffe im Hafen sicher waren. Der Geruch von Salzwasser, Seetang und Fisch wurde von der steifen Brise bis auf den Balkon geweht und die Gewänder der Anwesenden flatterten.

Die Gardisten stellten sich entlang eines feinbehauenen mit steinernen Ranken verzierten Geländer auf und musterten misstrauisch die Menge, die den Marktplatz von Sincans Hauptstadt, Reidro, füllte. Es war vor allem gemeines Volk, Weber, Schuster, Fischer und andere Beschäftigte starrten nach oben. An den Seiten des Halbkreisförmigen Platzes hatten Händler ihre Stände aufgebaut und um die Aufmerksamkeit der Masse gebuhlt, doch das Öffnen der Tür hatte sie zum Verstummen gebracht.

Hinter den Gardisten schritten einige Edelleute auf den Balkon, doch sie hielten sich zurück. Die meisten von ihnen waren wohlhabende Händler, Minen- und Schiffsbesitzer, die sich mit ihrem Geld und Ansehen einen Platz auf dem Balkon verdient hatten. Doch auch einige politische Ehrengäste waren unter ihnen, unter anderem einer der Hohepriester von Ziorbal zusammen mit dem Botschafter und seiner Tochter und deren Wächter, der sie überall hin zu begleiten schien. Während die anderen Gäste auf dem Balkon Menschen waren, waren diese drei Elfen, Repräsentanten des guten Willens Ziorbals, das wichtige Handelsabkommen mit Sincan geschlossen hatte. Die Elfen unterschieden sich nicht in besonderer Weise von Menschen, nur ihre Bewegungen schienen ein wenig flüssiger und ihre Gesichter kühler, als sie auf den Balkon hinausschritten. Auch ihre Kleidung unterschied sich von der der Einheimischen. Sie trugen flatternde Stoffe, die mit kunstvollen Verzierungen zusammengenäht waren, welche einige der Anwesenden zu imitieren suchten. Außerdem waren die Farben ihrer Kleidung gedeckter, während die anderen Gäste sich in grellen Farbkombinationen präsentierten.

Alle Anwesenden, sei es auf dem Platz oder auf dem Balkon, waren an diesem Tag da, um der Krönung des jungen Kronprinzen Timotheus II. beizuwohnen.

Hinter den Elfen trat eben jener auf die Plattform.

Timotheus II. war ein feingliedriger junger Mann, mancher hätte wohl schwächlich gesagt, mit einer spitzen Nase, großen Augen und einem schwachen Kinn, dunklen, zotteligen Haaren und vollen Augenbrauen, die seine Augen überschatteten, als wäre er konstant in Gedanken versunken. Er ging in einem Mantel aus Tierfellen unter, die alle meisterlich erhalten und zusammengenäht waren, sodass er aussah wie ein Junge, der mit den Fellen seines Vaters Verkleiden spielte. Die Streifen eines Tigers verband sich mit den Zotteln eines Braunbären und diese grenzten an die graue Wolle eines Steinbocks oder an das hellbraune Fell eines Elchs. Nur sein erhobener Kopf und die geraden Schritte, mit denen er an die Brüstung des Balkons lief, verliehen ihm so etwas wie Würde.

Doch er war nicht der Letzte, der den Balkon betrat, denn hinter ihm schritt seine Mutter, Königin Hilda I., in ein weit ausfallendes, aus dunkelrotem Stoff schimmerndes Kleid gekleidet, auf die Plattform hinaus. Auch sie besaß eine spitze Nase, doch ihre Augen waren klein und vorsichtig, ihre Stirn hoch und ihre hellen Haare in einer strengen Steckfrisur auf ihrem Kopf aufgetürmt, für die die Dienerinnen am Morgen einige Stunden gebraucht hatten. Sie stellte sich hinter ihren Sohn und blickte auf die Menge. Ein herbeihuschender Diener, der sofort wieder im Inneren des Berges verschwand, gab ihr einen Metalltrichter, den sie sich an die Lippen hielt, als sie begann zu sprechen.

»Volk von Sincan«, sagte sie. Ihre Stimme wurde von dem Metalltrichter blechern verstärkt und schallte über den Platz und über die am Hafen stehenden Häuser. »Hohepriester Sugil von Ziorbal und alle anderen Gäste. Heute feiern wir die Krönung meines Sohnes, Timotheus Hochwind, der zu Timotheus II. gekrönt werden soll. Ich danke euch allen für euer Erscheinen an diesem Tag. Nachdem mein Mann vor 12 Jahren im Drachenkrieg gestorben ist, in dem wir uns tapfer gegen die Monster, die so viele unschuldige Leben auf dem Gewissen haben, wehrten, lag es an mir, unser Land wieder aufzubauen. Ich habe Handelsabkommen mit Ziorbal in die Wege geleitet, die unser Land durch eine aufkommende Hungersnot brachten und unsere beiden Länder auch in Zukunft Wohlstand und Freundschaft versprechen. Ich bin bereit, Timotheus II. auf diesem Weg zu unterstützen und ihm weiter zur Seite zu stehen, bis unser Land sich vollkommen von den Nachwirkungen des Krieges erholt hat. Mit seinem jugendlichen Scharfsinn wird er diesem Land mehr schenken können als nur eine Leitfigur - er wird uns regieren, wie nur ein echter König es kann, mit Gerechtigkeit, Verstand und Mitgefühl.« In einer dramatischen Geste legte sie sich eine Hand auf ihr Herzen. »Ich will hiermit meine Treue zu Timotheus II. schwören und ihm als Zeichen seiner Regentschaft die Feuerkrone darbieten, auf dass er sie akzeptieren und ihr gerecht werden möge.« Auf einen kleinen Wink trat einer der Händler vor, in seinen Händen ein geflochtener Kranz aus rötlichen Metallen mit flammenartigen Verzierungen und schritt auf Hilda und Timotheus zu.

Timotheus stand verloren auf dem Balkon, seine Hände auf der Brüstung zitterten, während er auf den Horizont blickte, auf die Linie, an der sogar das Meer sich ihm zu unterwerfen und still zu stehen schien. Adrenalin pumpte durch seinen Körper. Seine Lungen füllten sich mit einer Leichtigkeit, die er nicht gewohnt war und sein Körper schien ihm stärker als zuvor. Die Aussicht auf die Krone auf seinem Kopf, die Krone, die auch sein Vater und Großvater getragen hatten, war so unreal und dennoch in greifbarer Nähe. Sie war so nah, er konnte den metallenen Geruch beinahe über das Parfüm seiner Mutter riechen und auf der Zunge schmecken. Wie das Blut, das an dieser Krone klebte. Er war angewidert, aber gleichzeitig auf seltsame Art fasziniert von dieser Krone. Euphorie strömte in seinen Adern. Eine glückselige Euphorie, die ihm jede Last und Schuld vorenthielt und unverständlich machte.

Der Händler, der die Krone trug, war ein alter grauer Mann mit Bart, tief sitzenden Augen und faltigem Gesicht. Timotheus erkannte ihn als einen der wenigen Grundbesitzer wieder, die in den Besprechungen des Königlichen Haushaltes mit ihm am Tisch saß und es wahrscheinlich bereits bei seinem Vater getan hatte. Dieser Mann, den Timotheus schon seit Jahren kannte, von dem er sich nie bedroht gefühlt hatte, zog in diesem Moment einen Dolch aus dem Kissen, auf dem die Krone lag, und stach Königin Hilda in den Bauch. Die kurze Klinge sank so tief in ihr weiches Fleisch, dass nur noch der Knauf des Dolches aus ihrem Körper ragte. Um die Schneide färbte sich ihr Kleid noch eine Spur röter.

Unten auf dem Marktplatz schauten Leute nach oben, die einen verwirrt, andere jedoch voller Genugtuung und so etwas wie Vorfreude. Auf dem Balkon hingegen brach ein heilloses Durcheinander aus. Die Gardisten stürzten sofort zur Königin und zu Timotheus, um sich vor den beiden aufzubauen, doch sie kamen zu spät. Der Händler zog den Dolch bereits wieder aus Königin Hilda heraus und versuchte Timotheus zu attackieren. Dieser sah ihm noch immer wie gelähmt entgegen und konnte nicht ganz fassen, was hier gerade vor sich ging. Wie konnte ein Mann, den er jahrelang wöchentlich gesehen hatte, seine Mutter verletzen? Warum sollte er die Königin verletzen wollen? Aber natürlich fragte er nicht und natürlich antwortete ihm der Mann nicht. Stattdessen sah Timotheus den Gesichtsausdruck des Händlers und bekam es mit der Angst zu tun. Das Gesicht des Mannes war leer, keine einzige Gefühlsregung zeigte sich in den Falten und die Augen waren so klar wie sonst auch. Da war nichts, was diese Tat irgendwie erklärte, keine Abneigung, keine Rachsucht, nichts was einen potentiellen Mord berechtigen würde. Der Mann schwang mit dem Dolch nach Timotheus noch während dieser in seiner Schockstarre verharrte. Er konnte nichts anderes tun, als der Klinge entgegen zu starren.

Plötzlich riss ein schwerer Körper Timotheus zur Seite und aus der Linie des Angreifers.

Die Gardisten stürmten auf den Händler zu, der ihnen mit wissendem Blick entgegensah, noch einen Blick zu Timotheus warf und sich dann selbst die Kehle aufschnitt.

Röchelnd brach er zusammen. Sein vorher grünes Gewand färbte sich rot und Timotheus sah mit Schrecken auf den Schnitt, der sich im Hals des Mannes aufgetan hatte und aus dem das Blut unaufhörlich zu sickern schien. Dann verstellten die weiß gekleideten Beine der Gardisten ihm die Sicht.

Als Timotheus aufblickte, sah er einen Hünen von Mann, der mit gerunzelter Stirn von ihm aufstand und zu dem Händler sah. Der Mann war breit gebaut, mit breiten Armen, breiten Beinen, einem breiten Brustkorb und einem breiten Gesicht, das durch einen dunklen Vollbart verdeckt wurde. Sobald sich Timotheus bewegte, schnellten die Augen des Mannes zum Kronprinzen, der jetzt eigentlich König sein sollte, und in seine braunen Augen floss etwas Wärme.

»Erlaubt mir, Euch aufzuhelfen, mein Prinz«, sagte er in einem tiefen Bass und hielt Timotheus eine behaarte Hand hin.

Zögerlich ergriff Timotheus sie und wurde mit sprunghafter Kraft nach oben gezogen, dass kurz alles miteinander verschwamm, bevor er wieder auf festen Beinen stand.

Sofort eilte er an die Seite seiner Mutter und löste eine Dienerin darin ab, den Kopf der Königin in seinen Schoss zu betten.

»Mutter!«, hauchte er und strich ihr hilflos übers Haar. Einige Strähnen hatten sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst.

Die Königin schaute ihn mit verschleiertem Blick an und Timotheus war ein bisschen nach Heulen zumute. Aber er schluckte den Frosch in seinem Hals hinunter.

»Das ist nichts, was mich lange aufhalten könnte«, murmelte die Königin, lächelte und wollte sich aufrichten, zuckte aber zurück. Ihre Hand, die sie auf die Wunde gepresst hielt, war voller Blut und Timotheus konzentrierte sich auf ihr Gesicht, um sich nicht bei dem Anblick übergeben zu müssen. Noch schlimmer als der Anblick, war aber der Geruch, der auch von dem Händler ausging. Der penetrante Gestank von Eisen war beinahe zu viel für seine überlasteten Sinne.

»Du musst jetzt Haltung bewahren, mein Junge. Haltung ist alles, was dich von ihnen unterscheidet«, flüsterte sie ihm zu.

Timotheus nickte. Er fühlte, wie sich Tränen in seine Augen stehlen wollten, und drängte sie mit aller Macht zurück.

Eine alte Frau mit grauen Haaren und sauberen Händen eilte an Timotheus Seite und begann die Gardisten wegzuscheuchen, die fehl am Platz zwischen der Königin und dem Händler standen.

»Schafft euch fort, ihr steht mir im Licht!«, heischte sie die verdutzten Männer an, die sich daraufhin von ihr entfernten. »Und nehmt diesen Möchtegern-Attentäter mit euch! Ich brauch nicht noch mehr Blut bei meiner Patientin!«

Während die Gardisten den Körper in einer blutigen Spur von der Königin wegschleiften, begann die Frau ein junges Mädchen, das einige Täschchen und Beutelchen trug, anzuweisen, und stillte mit Binden, Tinkturen und Cremes die Blutung der Königin.

»Weg da, Prinzesschen, du bist im Weg«, fauchte sie.

Timotheus reagierte nicht. Sprach sie mit ihm?

»Schau nicht so dümmlich, Knirps, sonst verreckt die hoheitliche Majestät, noch bevor du König geworden bist.«

Zwiegespalten sah Timotheus zu ihr auf. Sie konnte so mit ihm nicht umgehen! Immerhin war er der Prinz! Aber wenn er nicht auf sie hörte...

»Na wird's bald!«

Vor den Kopf gestoßen erhob sich Timotheus und wollte gerade einem der Gardisten befehligen, diese geisteskranke Frau in den Kerker zu werfen, da nahm der Mann, der ihn zuvor gerettet hatte, am Handgelenk und zog ihn von seiner Mutter weg.

»Ihr müsst ihr verzeihen, mein Prinz. Frigna ist eine eigensinnige Frau, aber die beste Heilerin der Stadt. Sie hält nicht viel von Titeln, aber sie meint es nicht böse«, erklärte er Timotheus und führte ihn von der Balkonbrüstung fort auf den hinteren Teil der Plattform, in eine etwas abgelegene, ruhigere Ecke.

»Das ist noch immer keine Entschuldigung für ihr Benehmen«, brummte Timotheus und warf der alten Hexe böse Blicke zu, während er sich auf einen der an der hinteren Wand aufgereihten Stühle setzte. »Wo ist die königliche Heilerin?«, fragte Timotheus. »Sollte die nicht anwesend sein, um Königin Hilda zu behandeln? Warum kommt eine Frau, die keinerlei Berührungspunkte mit dem Königshaus hat, her und kümmert sich stattdessen um meine Mutter?«

»Diese Frage kann ich Euch nicht beantworten, mein Prinz«, antwortete der Hüne ihm schlicht und wurde still.

In diesem Moment der Ruhe konnte Timotheus nicht anders, als zu bemerken, dass viele der Ehrengäste, die zuvor die hinteren Stühle eingenommen hatten, vom Balkon verschwunden waren. Auch zwei der Gardisten waren verschwunden, mit ihnen der Attentäter, wie die Hexe es ihnen befohlen hatte. Eine Beleidigung gegen seine Person, dass sie auf dieses alte Weibsbild hörten, ohne seinen Befehl abzuwarten.

»Wird sie wieder gesund?«, fragte er ängstlich und beschämt. Er wollte stark sein, aber der Mordversuch an seiner Mutter ängstigte ihn mehr, als er zugeben wollte. Natürlich tat er das. Noch schlimmer war aber der Gedanke daran, dass er beinahe sein Leben hatte geben müssen, für etwas, von dem er keine Ahnung hatte.

»Davon bin ich überzeugt«, war die Antwort des Mannes.

»Balsa, um der Winde Willen, renn doch nicht einfach so davon!«, ertönte eine Männerstimme, die Timotheus schon oft gehört, aber nicht einordnen konnte.

»Verzeiht, Meister Turmalin«, wendete sich der Hüne an den Neuankömmling, den Timotheus als den Botschafter des Elfenreiches Ziorbal erkannte. »Ich habe nur helfen wollen.«

»Du sollst mich doch nicht Meister nennen, schließlich hast-« Sein Blick fiel auf Timotheus. »Oh, mein Prinz!«, rief er aus und machte eine tiefe Verbeugung. »Mein herzlichstes Beileid, auch wenn ich nicht wirklich gesehen habe, was vor sich ging. Aber dass jemand Eure verehrte Mutter... Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie schrecklich es für Euch gewesen sein muss!«

Timotheus nickte, atmete tief ein und verbannte alle Zweifel in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Er konnte sie später wieder hervorholen und sich hilflos fühlen. Jetzt ging es darum, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Vielen Dank, Botschafter Turmalin, aber ich bin zuversichtlich, dass die Königin schnell wieder zu sich kommt. Heilerin Frigna ist sehr erfahren auf dem Gebiet der Heilkunde.« Ein schneller Seitenblick auf Frigna zeigte ihm, wie sie das arme Mädchen anherrschte, ihr ein Beutelchen aus der Hand riss und etwas hineinstopfte, bevor sie es dem Mädchen wieder in die Hand fallen ließ und davonstürmte.

»Oh ja, selbstverständlich!« Botschafter Turmalin nickte belebt mit dem Kopf. »Ich höre nur Gutes über ihre Fähigkeiten. Meine Tochter, Esmeralda, ist öfter in ihrer Obhut und trägt bis heute keinen Kratzer von ihren mitunter gefährlichen Unterfangen davon.«

»Das freut mich zu hören.« Timotheus zwang sich zu lächeln. In seinem Augenwinkel sah er, wie seine Mutter von zwei Dienern auf eine Trage gehoben und vom Balkon getragen wurde. »Wenn Ihr mich nun entschuldigen mögt, es scheint, die Königin wird in ihre Gemächer verlegt, und ich möchte an ihrer Seite sein.« Er stand auf und wollte gehen, als Botschafter Turmalin sich ihm in den Weg stellte.

Der Elf nickte verstehend und fuchtelte mit den Händen. »Das verstehe ich natürlich, Ihr müsst Euch große Sorgen um Eure hoheitliche Mutter machen. Aber, wenn Ihr mir die Frage erlaubt, wird die Krönung heute noch fortgeführt? Ihr müsst verstehen, Hohepriester Sugil ist nur für Eure Krönung angereist, und solltet Ihr ihn allzu lange warten lassen... Nun ja.« Er gluckste kameradschaftlich, aber Timotheus entging die Drohung in seinen Worten nicht.

»Ihr könnt Euch sicher sein, die Krönung wird heute noch stattfinden. Ich möchte nur kurz nach dem Rechten sehen. Ich werde die Küche beauftragen, Hohepriester Sugil meine Entschuldigung zu übermitteln.«

Timotheus ließ den Botschafter mit schnellen Schritten hinter sich und trat durch den Torbogen in den mit Fackeln und schmalen Fenstern beleuchteten Gang hinter den Felswänden des Berges. Der Gang war aus dem Stein gehauenen worden, genau wie die meisten Zimmer der Burg, und mehr Trutzfestung als ein Zuhause. Als Timotheus um die Ecke in den Gang trat, stoben einige Diener wie verschreckte Fische in plötzlich bewegtem Wasser auseinander und flüchteten geschäftig wirkend den Gang entlang.

Kopfschüttelnd wandte sich Timotheus an einen wachhabenden Soldaten, der auf der anderen Seite von einem Kumpanen gespiegelt, den Torbogen bewachte. Das Gesicht des jungen Mannes, der eher ein Junge war, schien etwas erhitzt.

»Lasst sie wissen, dass sie beim nächsten Mal den Küchenhilfen beim Saubermachen unter die Arme greifen dürfen, sollten sie erneut so dreist Lauschen. Das gilt auch für Euch«, ermahnte Timotheus die beiden Wachen. »Lasst außerdem die Küche wissen, dass Hohepriester Sugil eine kleine Speise bekommt, mit meiner ausdrücklichen Entschuldigung, ihn so lange warten zu lassen. Sagt ihnen, sie sollen das edle Geschirr verwenden, hoffentlich besänftigt ihn das ein wenig.«

Er ging weiter den Gang hinab. Hinter ihm wurde Balsa von den Wachen aufgehalten. »Und lasst ihn passieren.«

Mit Balsa im Schlepptau lief Timotheus die Gänge zu den Gemächern der Königin hinab, und trat an den Wachen vorbei in den Tagessalon ein. Importierte Sofas mit weichen Kissen standen um einen filigranen Tisch herum, auf dem Schüsseln mit allerlei Speisen und Karaffen mit Wasser standen. Mit schnellen Schritten durchquerte der den Raum und öffnete die Tür zum Schlafgemach. Prunkvolle Tapete schmückte die Wände und ein einsames Fenster füllte den Raum mit Licht. An einer Wand führte eine Tür ab und in der danebenliegenden Ecke stand ein Himmelbett mit Vorhängen aus altrosé-farbenem Satin. Zwischen den dicken Kissen lag die Königin, bleich wie Meeresschaum. Als Timotheus eintrat, schreckte das Mädchen, das er zuvor gesehen hatte und welches wohl die Gehilfin der Hexe Frigna war, hoch, welches auf einem kleinen, hölzernen Schemel neben der Königin gesessen und ihr etwas Wasser eingeflößt hatte.

»Lasst uns allein«, wies Timotheus das Mädchen an.

Nickend huschte sie aus dem Raum und Timotheus schloss die Tür hinter ihr und trat an die Seite seiner Mutter.

Sie war blass, ihr sonst so stolz aufgereckter Körper in sich zusammengesunken. Die Hochsteckfrisur fiel auseinander. Ihr Kopf lag auf einem Kissen und ihre restliche Figur war unter einer Decke begraben.

»Wie geht es dir?«, fragte Königin Hilda ihren Sohn und griff mit schlanken Fingern nach den seinen. Timotheus fiel auf, dass sie zitterte. Ihr Gesicht zeigte kein Anzeichen von Anstrengung.

»Sollte ich das nicht eher Euch fragen?« Timotheus lächelte zwar, aber es war kein glückliches Lächeln. Natürlich war es keines. Wer war schon glücklich darüber, dass die eigene Mutter beinahe ermordet worden wäre?

»Bitte, Timotheus, beantworte die Frage.« Mit fürsorglichen Augen sah Königin Hilda ihren Sohn an.

»Mir geht es gut, nur ein kleiner Schock, aber solange es Euch gut geht, bin ich in Ordnung.«

Königin Hilda nickte. »Dann bring bitte deine Krönung so schnell wie möglich zu Ende, auch wenn ich dich nicht krönen kann. Bitte Hohepriester Sugil darum, vielleicht wird ihn das gnädig stimmen.«

»Was? Aber Mutter! Die Elfen haben ohnehin schon genug Gewalt über unser Land! Ist es wirklich klug, ihnen diesen Machtbeweis auch noch möglich zu machen?«

»Sei kein Narr, Timotheus!«, schallte seine Mutter ihn und setzte sich ein wenig auf, um ihn mit königlichem Tadel in den Augen anzusehen. »Unser Land ist schwach, das weiß Ziorbal. Wenn sie nicht auf friedlichem Wege das bekommen, was sie haben wollen, werden sie nicht davor zurückschrecken, es sich mit Gewalt zu nehmen! Wenn wir sie milde stimmen können, bricht kein Krieg aus. Und Krieg ist das, was wir am wenigsten brauchen. Sei kein Narr wie dein Vater, Timotheus. Du wirst nicht König, um deinen eigenen Machthunger zu stillen, sondern um deine Untertanen zu schützen, ihnen ein Leben bieten zu können, welches zu führen es sich lohnt! Wenn du nicht die Verantwortung in der Krone siehst, dann bist du ihrer nicht würdig!«

Trotzig sah Timotheus aus dem Fenster. Warum konnte sein Land nicht in einer besseren Position sein, damit er nicht vor irgendwelchen göttlichen Botschaftern der Elfen kratzbuckeln musste? Er hasste es, so unter Druck zu stehen und quasi keine eigenen Entscheidungen treffen zu können, nur damit die Elfen ihrer nicht müde wurden und ihr Land überrannten.

»Hast du mich verstanden?«, wollte seine Mutter wissen.

»Ja, Mutter.«

»Dann sei kein Tor, und mach dich daran zu retten, was noch zu retten ist. Wenn du den Hohepriester noch länger warten lässt, wird er es als eine Beleidigung auffassen, und das wollen wir beide nicht. Und denk an die Verantwortung der Krone! Sie ist keine Freikarte, die es dir erlaubt, handeln zu können, wie es dir beliebt, und das wird sie auch nie sein.«

»Ja, Mutter.«

Königin Hilda beäugt ihren Sprössling kritisch. Timotheus war nicht dumm, aber er war noch immer ein halbes Kind, das noch nicht genug von der Welt gesehen hatte, um zu verstehen, welche Signifikanz das König-Sein implizierte. Wenn sie könnte, würde sie ihm die Last, die die Krone mit sich brachte, noch länger ersparen wollen, doch leider lag das nicht länger in ihrer Macht. Sie musste darauf vertrauen, dass ihr Sohn ihre Ratschläge ernst nehmen und nach ihnen handeln würde.

»Dann geh jetzt. Und schick das Mädchen wieder herein. Ich brauche ein wenig Gesellschaft.«

Timotheus nickte, küsste die Hand seiner Mutter und verließ das Zimmer.

In der Nähe der Türöffnung standen Balsa und das Mädchen, welches die Unterhaltung, die die beiden geführt hatten, bei Timotheus' Anblick unterbrach und versuchte, sich mit gesenktem Blick an ihm vorbei ins Zimmer zu drücken.

Der Kronprinz stellte sich ihr in den Weg. »Wisst Ihr wo die königliche Heilerin, Grien Mithertia, sich aufhält?«, fragte er und beobachtete das Mädchen ganz genau.

Sie sah Timotheus nicht in die Augen, als sie antwortete: »Ich habe Eurem Begleiter schon geantwortet, dass ich das nicht weiß. Frigna hat mir nur heute Morgen gesagt, dass ich die wichtigsten Arzneimittel zusammenpacken und ihr folgen solle.«

Timotheus Blick glitt zu Balsa, der ebenfalls zu ihm schaute. Etwas fühlte sich nicht richtig an. Warum hatte Frigna ihre Gehilfin dazu angehalten, alles zusammenzupacken? Warum war Heilerin Mithertia nicht da und ließ sich von einer dahergelaufenen Kräuterhexe ersetzen? »Mehr hat sie wirklich nicht gesagt?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf, den Blick immer noch auf ihre Füße gerichtet. »Nein.«

Timotheus trat dem Mädchen wortlos aus dem Weg und ignorierte den Mann, der ihm auf ein Neues wie ein Schatten durch die Gänge folgte. Seine Gedanken wirbelten um Frigna und das Verschwinden der Königlichen Heilerin und auch darum, dass Balsa augenscheinlich genau denselben Gedankengang gehabt hatte wie er.

»Was hat sie Euch erzählt?«, fragte Timotheus seinen stillen Schatten.

»Nicht viel mehr als Euch auch, mein Prinz. Sie meinte, Frigna hätte sie ohne eine Erklärung hierher in den Palast geführt.«

»Wisst Ihr, ob ein Besucher sie dazu veranlasst hat?«

»Das Mädchen meinte, sie hätte keinen besonderen Auslöser feststellen können.«

»Habt Ihr sie gefragt, wann sie mit ihrer Meisterin hier ankam und wo sie bis vorhin verweilten?«

»Sie sind am frühen Vormittag hier eingetroffen und in den Räumen der Heilerin geblieben.«

Timotheus trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen sein Bein. »Ich würde das gerne überprüfen, aber wir haben keine Zeit dafür. Wenn ich den Hohepriester weiter warten lasse...«

Plötzlich machte es klick und Timotheus wusste wieder, wo er Balsa einzuordnen hatte. Er war ihm noch nicht oft über den Weg gelaufen, Balsa schien ein relativ neuer Zugang zum königlichen Hofe zu sein, aber dafür einer, der Timotheus umso mehr in die Hände spielte, wenn er es richtig zu nutzen wusste.

Abrupt wandte sich zu Balsa, der ihn um gut einen Kopf überragte. »Seid Ihr nicht Teil des Gefolges des Hohepriesters Sugil?«, fragte er nonchalant, als hätte er Balsa nach den Außentemperaturen oder dem Fischfang der momentanen Saison gefragt.

»Das ist teilweise richtig, mein Prinz«, antwortete Balsa, und fiel schräg hinter Timotheus in einen Gleichschritt, den er an Timotheus' sehr viel kleinere Schrittlänge anpasste. »Ich bin der Wächter von Esmeralda Turmalin, der Tochter von Meister Turmalin, dem Botschafter Ziorbals, der die Anreise von Hohepriester Sugil und dessen Unterkunft in seinem Herrenhaus ermöglicht hat.«

»Wie darf ich das 'teilweise' deuten?«, fragte Timotheus und verengte die Augen, als es hinter seiner Stirn ratterte. »Seid Ihr Botschafter Turmalin nicht treu ergeben?«

»An meiner Loyalität liegt es nicht, mein Prinz, eher an meiner Nationalität und Rasse. Ihr seht, ich bin kein Elf und hier in Sincan geboren.«

»Also seid Ihr ein Mensch? Verzeiht mir die Frage, aber ich sah noch keinen sincanischen Einwohner von Eurer Größe in unserem Reich. Bei Eurer Größe hätte ich Euch tatsächlich als einen Elf vermutet.«

Balsa lachte. »Nun, da seid Ihr auf keinen Fall der Erste, mein Prinz. Selbst Meister Turmalin und seine Tochter dachten zu Anfang, ich sei einer der ihren. Ich musste leider sie wie Euch enttäuschen.«

»Wer spricht denn von enttäuschen«, widersprach Timotheus und winkte ab. »Viel mehr finde ich es imposant und erstrebenswert, wie Ihr die Grenzen zwischen unseren zwei Völkern ohne Angst überschreitet.«

»Ihr schmeichelt mir, mein Prinz. Ich hatte nie derartiges im Sinn. Es ist einfach passiert.«

Timotheus nickte, während er in Gedanken darüber nachdachte, was er gerade erfahren hatte. »Wie das Leben so spielt«, murmelte er leise zu sich selbst, ohne mit einer Antwort zu rechnen.

»Wie das Leben so spielt«, wiederholte Balsa in zustimmendem Ton.

»Aber sagt, Ihr könntet nicht ein gutes Wort für mich einlegen und den Hohepriester darum bitten noch etwas weiter zu warten?«

Balsa sah Timotheus lächelnd an. »Ich könnte durchaus, doch bin ich mir nicht sicher, ob das für Euch von Vorteil wäre, mein Prinz. Mein Wort hat in den Ohren des Hohepriesters nur eine sehr geringe Relevanz.«

Timotheus nickte verstehend, schallte sich im Geiste aber selbst. Nicht genug damit, dass er dem Mann zuvor schon seine Verlustangst vor Augen geführt hatte, jetzt hatte er vor ihm auch noch zugegeben, wie wenig Respekt er vor Hohepriester Sugil hatte, dass er dessen wertvolle Zeit mit egoistischen Suche nach Antworten vergeuden wollte, die nur sein ungutes Bauchgefühl zufrieden stellen sollten. Da hatte er seine Karten ja wirklich gut eingesetzt.

Die beiden bogen in den Gang, der zum Balkon führte, ein, und beim Anblick des Prinzen standen die Wachen gleich ein bisschen gerader.

Timotheus wandte sich an die Wache, mit der er zuvor schon geredet hatte. »Hat die Küche dem Hohepriester meine Entschuldigung zukommen lassen?«

Der Junge schüttelte den Kopf und schaute sich unsicher um. Hatte er einen Fehler gemacht? Würde der Prinz ihn dafür bestrafen? »Ich habe gerade erst den Befehl dazu erteilen können, mein Prinz.«

»Gut. Dann sag ihnen, dass der Hohepriester nichts mehr wünscht. Und lass ausrufen, dass die Krönung nun fortgesetzt wird.«

Überrascht sah die Wache ihn an. »Ist die Königin etwa wieder wohlauf?«

Ein vernichtender Blick des Kronprinzen brachte den Jungen zum Verstummen und er war froh, als der Prinz ohne ein weiteres Wort an ihm vorbeilief.

Der Wind brachte Timotheus Haare zum Tanzen, als er sich nach dem Hohepriester Sugil umsah. Er erblickte den Elf an der Seite stehend, neben ihm Botschafter Turmalin und ein Mädchen mit kahlrasiertem Kopf, das wohl seine Tochter sein musste. Timotheus hatte sie bereits einige Male mit dem Botschafter und Balsa gesehen, jedoch noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Mit ihrem Bild vor Augen, den blanken Schädel mit den Segelohren und die großen, grünen Augen, konnte er nicht anders als der Aussage des Botschafters Glauben schenken, dass seine Tochter sich des Öfteren in gefährliche Situationen begäbe. Ihren Augen wohnte ein abenteuerlustiges Funkeln inne, auch wenn sie schaute, als hätte ihr jemand Meerekel in Maniko Gemüse serviert.

Neben ihrer zierlichen Statur ragte Hohepriester Sugil auf wie eine steinerne Säule, gehauen aus marmoriertem Stein von der Kälte von Schnee. Seine Miene gab nichts auf sein Innenleben preis und mit der Hakennase sah er aus wie ein Raubvogel, der mit der kalten Intention eines Killers seine Beute evaluierte. Nicht die Art Killer, der es Genugtuung brachte zu töten, sondern die Art, die es als eine Notwendigkeit sahen, und nichts Schlechtes daran erkennen konnten.

Als Timotheus auf ihn zulief, kam er in den Fokus dieses eiskalten Elfs und er musste an sich halten, um nicht sofort wieder umzudrehen. Er hatte den Hohepriester erst heute vor der Krönung das erste Mal gesehen und nun bereits allein mit ihm reden zu müssen, ohne die Königin bei sich zu haben, mithilfe deren Diplomatie er sich einen Weg in das Gespräch finden konnte, fühlte er sich schutzlos ausgeliefert.

»Seid gegrüßt, Hohepriester Sugil, und verzeiht die Unannehmlichkeiten, die der bisherige Ablauf der Dinge Euch sicher bereitet haben muss«, brachte Timotheus widerwillig hervor. Es ging ihm gehörig gegen den Strich, dem Elf so ehrerbietig gegenüber zu treten und noch mehr, das Attentat auf seine Mutter als Unannehmlichkeit zu umschreiben, aber er tat es trotzdem, mit den Worten der Königin im Hinterkopf. Er tat das hier nicht für sich.

»Es gibt nichts zu verzeihen, Kronprinz Timotheus, solange Ihr Unsere Geduld nicht weiter auf die Probe stellt«, antwortete Hohepriester Sugil mit seiner nasalen Fistelstimme und blickte über seinen Nasenrücken auf Timotheus hinunter.

Dieser zwang sich ein Lächeln auf. »Euer Großmut ist wahrhaft grenzenlos, Hohepriester Sugil«, sagte Timotheus und wollte sich direkt danach den Mund mit Salzwasser und einer Menge Alkohol auswaschen.

Hohepriester Sugil machte eine abwertende Handbewegung. »Natürlich. Es ist wichtig für Uns mit Euch auf gutem Fuß zu sein.«

Timotheus nickte bedächtig. »Da die Königin die Zeremonie nicht weiterführen kann, wollte ich Euch um einen Gefallen bitten, der unsere Reiche hoffentlich noch näher zusammenrücken lässt.«

Der Elf betrachtete ihn mit mildem Interesse und faltete die langgliedrigen Hände auf dem Rücken. »Bitte, fahrt fort.«

Timotheus befahl sich selbst nicht weiter darüber nachzudenken und seinen Stolz zurückzulassen, als er sagte: »Ich möchte Euch darum bitten, mich anstelle der Königin zu krönen. Sie ist verhindert und ich möchte Euch als meinen hochgepriesenen Ehrengast nicht länger warten lassen.«

Botschafter Turmalin, der zur Linken des Hohepriesters stand, fiel das Lächeln aus dem Gesicht.

Hohepriester Sugil hingegen begann mit dünnen Lippen zu lächeln. »Ein wirklich dankbares Zeichen Eurer Treue zu Unserem Reich. Wir nehmen Euer Angebot gerne an.«

Timotheus war ein bisschen tot.

»Nun, dann lasst uns beginnen. Euer Volk wartet bereits lange genug, meint ihr nicht auch, Kronprinz Timotheus? Schließlich soll aus Euch heute ein König werden.«

***

Als Timotheus erneut an die Brüstung trat, wurde die Menge still. Als Hohepriester Sugil ihm folgte, hätte man eine Stecknadel fallen hören können, selbst wenn sie am anderen Ende des Platzes heruntergefallen wäre. Die Atmosphäre war mehr als angespannt, fast schon explosiv. Wenn sie gekonnt hätten, dann stünde Hohepriester Sugil ganz sicher nicht tiefenentspannt und mit dem leisen Lächeln eines schadenfrohen Gewinners neben Timotheus. Als die Feuerkrone den Weg in die Hände des Hohepriesters fand und laut zischend seine Haut verbrannte, wurde die Menge unruhig. Und als der Elf sich nichts anmerken ließ und die Krone auf Timotheus Haupt setzte, begann die Menge zu toben.

»Nieder mit dem Elfengesindel!« begann aus einigen Kehlen hervorzubrechen und wurde bald schon von der Masse aufgenommen. Der Balkon wurde mit allerhand Gegenständen bombardiert. Wenige gelangen bis zu ihnen herauf, aber es waren doch genug, dass die Gardisten einschritten und die Wachen die Bevölkerung vom Platz zu drängen begann.

»Wir lassen uns nicht von Elfen regieren!«

»Kein König, der Elfen hilft!«

»Setzt den König ab!«

»Weg mit dem König!«

»Tod dem König!«

Timotheus II. wurde voller Scham vom Balkon geführt. Er konnte dem Gesindel nicht einmal widersprechen, schließlich sah er es ja genauso. Aber um dem Land wieder auf die Füße zu verhelfen, war es nun mal notwendig, sich mit den Elfen gut zu stellen. Die Bevölkerung mochte das nicht verstehen, aber deshalb gab es ihn ja. Den König.

Das Wort schmeckte unglaublich bitter auf seiner Zunge.

Balsa hatte sich ihm wie schon zuvor angeschlossen. Nur dass dieses Mal die Tochter des Botschafters ihm ebenfalls folgte.

»Esmeralda, wo willst du hin?«, ertönte die Stimme des elfischen Botschafters hinter der kleinen Truppe. Mit einem Schulterblick zurück auf Hohepriester Sugil, der sehr zufrieden mit sich selbst aussah, eilte er auf seine Tochter zu und begann dringlich auf sie einzureden. »Du kannst dich jetzt nicht von mir entfernen. Wir sind dem Hohepriester verpflichtet, schließlich ist er unser Gast! Also komm jetzt!« Er schnappte sich das Handgelenk seiner Tochter und wollte sie mit sich ziehen.

Neugierig drehte Timotheus sich um und betrachtete die Szene aus dem Augenwinkel, während er so tat, als sähe er in ein angrenzendes Zimmer. Immerhin hatte er eine gute Erziehung genossen.

Esmeralda allerdings entzog sich seinem Griff. »Nein. Du bist der Botschafter, nicht ich. Er ist nicht unser, sondern dein Gast. Also bewirte ihn selbst. Ich spiel nicht vor irgendeinem Priester Heile Familie mit dir!«

»Esmeralda«, zischte Botschafter Turmalin drohend, «wenn du jetzt nicht auf der Stelle mitkommst, dann hast du Hausarrest bis du wieder zur Vernunft kommst!«

»Was soll das? Denkst du, ich hätte Angst vor deinen Drohungen? Das ist doch sowieso alles nur heiße Luft! In drei Tagen bist du doch sowieso nicht mehr hier und hält mich gar nichts mehr von irgendwas ab!« Esmeralda wich einen Schritt zurück und Balsa ging vor ihr in eine defensive Position.

»Mit Verlaub, Meister Turmalin«, begann Balsa mit ruhiger Stimme, »ich glaube nicht, dass es etwas bringen wird, Esmeralda zu etwas zu zwingen, was sie nicht tun möchte. Nur weil Ihr sie mit Hausarrest bestraft, heißt das nicht, dass sie zu ihrem besten Benehmen zurückkehrt und Ihr wollt Hohepriester Sugil sicherlich nicht verärgern. Vielleicht wäre es gut, ihr dieses Mal ihren Willen zu lassen.«

»Das sehe ich genauso!«, mischte sich Esmeralda ein, woraufhin sie sich einen giftigen Blick ihres einfing, dem sie trotzig stand hielt.

Botschafter Turmalin blickte böse zu Balsa hinauf, doch im Gegensatz zu dem Hünen war er gertenschlank. In einer handgreiflichen Auseinandersetzung hatte er keine Chance gegen Balsa. Das hielt ihn aber nicht davon ab, Balsa einen Finger in die Brust zu bohren. »Halt du dich da raus! Du entscheidest nicht, was meine Tochter darf und nicht darf. Das tue ich, denn ich bin immer noch ihr Vater!«

»Natürlich nicht«, stimmte Balsa ihm zu und drückte mit einer sanften aber bestimmten Handbewegung Botschafter Turmalins Finger herunter. »Das möchte ich auch nicht. Ich möchte Euch nur darum bitten, die Situation weiterzudenken. Esmeralda wird ihren Unmut rauslassen und das wird höchstwahrscheinlich vor Hohepriester Sugil geschehen.«

»Das wird definitiv vor Sugil sein!«, bestätigte Esmeralda.

Wütend sah Botschafter Turmalin seine Tochter an. »Nicht in diesem Ton, Fräulein! Das heißt immer noch Hohepriester Sugil und das weißt du ganz genau!«

»Hohepriester ist doch auch nur ein anderes Wort für versnobtes, abfälliges Arschloch«, sagte Esmeralda und schoss einen bissigen Blick auf den Hohepriester ab. Dieser verfolgte mit gerümpfter Nase und angewidertem Gesichtsausdruck wie sich die wenigen anderen Elfen in diesem Königreich vor dem eben gekrönten König zu Narren machten.

»Noch ein Wort und du bereust es, Esmeralda. Und das meine ich ernst«, zischte Botschafter Turmalin.

»Ich werde sie schon Manieren lehren«, versicherte Balsa ihm und ignorierte dabei Esmeraldas empörten Aufschrei. »Aber Ihr solltet Euch nun wirklich um Hohepriester Sugil kümmern. Ihr wisst, er wartet nicht gerne.«

Ein Schulterblick brachte Botschafter Turmalin scheinbar wieder zur Vernunft. Dennoch sah er nicht gerade erpicht darauf aus, seine Tochter in den Händen ihres Wächters zurückzulassen. »Das hier ist noch nicht vorbei«, zischte er und drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Mit schnellen Schritten eilte er zu Hohepriester Sugil zurück, der mit immer noch griesgrämiger Miene dastand und auf ihn wartete. Mit zahlreichen Verbeugungen entschuldigte er sich bei dem Hohepriester, bevor sie sich gemeinsam umdrehten und in einen Quergang abbogen, der Hohepriester vorneweg.

Hinter Balsas Rücken streckte Esmeralda ihm die Zunge raus.

Timotheus musste sich ein Grinsen verkneifen. Er hatte schließlich nicht gelauscht. Das wäre unter seiner Würde als König.

»Das hast du klasse gemacht!«, sagte Esmeralda breit grinsend an Balsa gewandt. »Wir sind echt eine super Team!«

Der ließ sich davon nicht beeinflussen. »Du musst dich später bei deinem Vater und dem Hohepriester entschuldigen.«

»Was? Aber warum?«, fragte Esmeralda, verschränkte die Arme vor ihrer schmalen Brust und zog eine Schnute. »Ich hab doch überhaupt nichts falsch gemacht! Es stimmt doch, dass der Sugil ein Arschloch ist!«

»Das entschuldigt dennoch nicht dein Benehmen!«

Sie fing wieder an zu grinsen und tänzelte um Balsa herum, während sie ihn verschwörerisch ansah. »Also gibst du mir recht, dass er ein Arschloch ist!«

»Nein, ich gestehe lediglich die Möglichkeit ein...«, begann Balsa eine sehr schwache Ausrede.

Esmeralda unterbrach ihn. »Also findest du auch, dass er ein Arschloch ist. Egal, wie sehr du da noch drum rum redest, du findest auch, dass er ein Arschloch ist. Auch wenn du es nicht zugeben willst. Aber du weißt, dass ich recht habe.«

Balsa gab sichtbar auf. »Du musst dich trotzdem entschuldigen«, beharrte er.

»Man muss sich für die Wahrheit nicht entschuldigen«, sagte Esmeralda altklug und ging auf Timotheus zu, der noch immer sehr interessiert die Decke des Ganges musterte und aus einem schmalen Fenster auf den mittlerweile vollkommen leeren Platz schaute.

»Doch, wenn es eine Wahrheit ist, die Beziehungen kaputt machen kann, schon.«

»Ich werde mich aber nicht dafür entschuldigen, dass ich die Wahrheit gesagt habe!«, sagte sie trotzig, während sie rückwärts auf Timotheus zulief.

Der ging, aufgescheucht von den näherkommenden Gestalten in seinem Augenwinkel, ertappt weiter den Gang hinunter.

Balsa konnte nicht anders, als den Kopf über so viel Starrköpfigkeit zu schütteln. »Tu es doch bitte einfach. Mir zuliebe. Immerhin habe ich deinem Vater versprochen, dass ich dich an seiner Stelle züchtige.«

Esmeralda stöhnte unwillig auf und blieb stehen. »Okaaayy. Aber nur dir zuliebe. Und nur, wenn Sugil nicht so ein Arschloch ist.«

Balsa seufzte. Das lief dann wohl darauf hinaus, dass sie sich nicht entschuldigen würde.

Sein Blick fiel auf den Berg aus Fellen, der vor ihnen herlief. »Verzeiht, mein König, dass Ihr das mitbekommen musstet.« Mit einem Seitenblick auf die schlanke Elfe, die vor ihm lief, sagte er: »Normalerweise ist Esmeralda Verhalten...« Er verstummte. Sein Blick glitt von den Timotheus' Haarschopf zu dem anderen Ende des Ganges. Konzentration trat auf sein Gesicht.

Esmeralda folgte seinem Blick, konnte aber nichts außer dem Berg aus Fellen mit dem feuerartigen, metallenen Spitzen sehen. Als der Berg sich langsam umdrehte, gab er den Blick auf den schmächtigen Mausjungen frei, dem Balsa nach dem Attentat auf die Königin vom Balkon gefolgt war. Sie hatte ihn schon öfter mal gesehen - wobei übersehen vermutlich das besser passende Wort war. Er war einfach so unscheinbar und hatte keinerlei Präsenz. Und das sollte der König sein? Kein Wunder, dass die Menge so gegen ihn war. Da musste man es ja mit der Angst zu tun bekommen.

Timotheus wurde etwas verlegen, als er die zwei Paar Augen auf sich fühlte. »Ach, das ist kein Problem. Ich fand es ehrlich gesagt ganz amüsant.« Er lächelte nervös.

Aus unteren Gängen drangen Rufe und andere unidentifizierbare Geräusche zu ihnen herauf. Das blecherne Scheppern von Rüstungen hallte durch die steinernen Gänge. Die Stimmen vermischten sich zu einem undeutbaren Gemisch aus Schreien und Sätzen.

Ein Diener wetzte um die Ecke und kam auf die Gruppe zu. Schon vom anderen Ende des Ganges begann er zu rufen. »Die Bürger... Sie versuchen reinzukommen! Sie suchen nach dem... Elf und dem König! Einige haben sogar Waffen! Ich... ich musste den König warnen!« Er musste immer wieder hechelnd Luft holen und als er vor dem König stand, war er so außer Puste, dass er kratzend ein- und ausatmete.

Ein ungutes Gefühl machte sich in Timotheus breit und sein Inneres zog sich zusammen. Aber er musste sich zusammenreißen.

Er legte eine beruhigend gemeinte Hand auf die Schulter des Mannes. »Beruhigt Euch und atmet.«

Der Diener tat, wie ihm geheißen.

»Wir müssen hier weg«, sagte Balsa plötzlich und zog Timotheus und Esmeralda zurück.

»Was? Wieso?«, fragte Timotheus zunehmend verwirrt.

»Blut«, sagte Balsa nur. »Und ganz viel Angst.«

Timotheus verstand immer noch nicht. »Was soll das bitte bedeuten?«

Statt Balsa antwortete ihm der Diener, der ein wenig zu Luft gekommen war. »Die... die Bürger... Sie stürmen die Burg!«

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