78
Aidan
Wir saßen bestimmt gute drei Stunden im Dunkeln in der engen Kammer, in die Lorcan uns gebracht hatte. Es war eine Besenkammer. Ja, ich hätte auch nicht gedacht, dass ein Schloss, das voller Hexen und Zauberer war, tatsächlich noch eine Besenkammer besaß.
Es war stickig und warm und die Luft war trocken. Die Geräusche außerhalb wurden mit der Zeit leiser.
Beverly hatte sich mir gegenüber an der Wand zusammengekauert und starrte vor sich hin. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit wir hier drinnen saßen, aber wir hatten kein Wort gewechselt. Ab und zu hatte einer von uns beiden gehustet, weil uns der Rauch noch in den Lungen klebte, aber gesprochen hatten wir nicht.
Nach dem, was passiert war, fühlte es sich unmöglich an, zu sprechen. Was hätten wir auch sagen sollen? Es gab schlicht nichts mehr, das wir hätten sagen können.
Als die Türe endlich wieder geöffnet wurde und eine Person die Sonne abschirmte, sah ich erst, wie mitgenommen Beverly wirklich aussah. Ich hatte lediglich ein paar Kratzer abbekommen, die hoffentlich morgen verheilt sein würden.
Beverly hatte aufgeschundene Stellen am Hals, einen Schnitt, der sich quer über ihre Brust zog, die tiefe Wunde am Bein, die ich in der Kammer notdürftig mit meinen Socken verbunden hatte, die Brandwunden, auf ihrem gesamten rechten Arm, die von dem schwarzen Nebel stammten und Blut klebte in ihrem Gesicht und auf ihren Händen.
Lorcan trat vorsichtig in die Besenkammer und half Beverly und mir auf die Beine. Ich stützte sie, als wir uns durch den engen Flur kämpften, der zu dem Gang führte, auf dem das eigentliche Spektakel stattgefunden hatte.
Alles war zerstört. Die Wände standen zwar noch, aber die meisten Statuen waren kaputt, Teppiche und Vorhänge abgebrannt, der Geruch hing noch immer in der Luft. Körper überall auf dem Boden über die wir anteilnahmslos hinweg stiegen. Die meisten waren schwarz gekleidet.
Beverly's Geschwister standen vereinzelt oder zu zweit auf dem Gang herum und gingen die Leichen durch. Überprüften, ob sie wirklich tot waren. Weinten, weil Verwandte, Freunde und Geliebte darunter waren.
Am Treppenabsatz angekommen klammerte Beverly sich an dem Geländer fest und schaffte die ersten drei Treppenstufen, bevor sie den Kopf hängen ließ und stehen blieb.
Wir beide hatten denselben Gedanken. Wir wollten zu Addie und Trish gehen, sicherstellen, dass es ihnen gut ging und ignorieren, was passiert war. Ich hätte das vielleicht gekonnt, aber Beverly brachte es nicht zu Stande. Zitternd drehte sie sich um und humpelte angestrengt wieder an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Zögernd ging ich ihr nach.
Ich wollte es nicht sehen. Ich wollte mir einreden, dass ich es mir nur eingebildet hatte, zumindest für ein paar Stunden. Dass er es schon irgendwie überlebt hatte und gerade von den Hexen versorgt wurde.
Es war zu schrecklich, Beverly dabei zuzusehen, wie sie über Köpfe und Beine und Arme hinwegtaumelte und einen ganz bestimmten Körper suchte, davor stehen blieb und mit schmerzverzerrtem Gesicht lange auf ihn hinabsah, bevor sie erschöpft auf die Knie fiel und den vermutlich herzzerreißendsten Schrei ausstieß, den ich jemals gehört hatte.
Sie schlang ihre Arme um ihn, drückte seinen Kopf an ihre Schulter und weinte. Ich konnte nicht weiter hinsehen. Alle Tränen blinzelte ich weg.
Es war nur Einbildung. Es ist nicht passiert.
Unter Beverly's Schluchzern hörte ich sie immer wieder sagen: „Es tut mir leid. Bitte, bitte, komm zurück! Es tut mir leid. Es tut mir leid."
So saß Beverly eine Weile da. Umgeben von Leichen hielt sie die einzige Person in den Armen, die nicht in dieses Massengrab hingehörte. Sie wiegte seinen Körper vor und zurück und weinte gen Himmel. Schrie. Verleugnete. Schrie mehr. Begriff. Weinte weiter. Bis sie kaum noch atmen konnte.
Irgendwann ließ sie ihn zurück auf den Boden sinken, legte seine Hände auf seine Brust. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, kämpfte sich zitternd auf die Beine und humpelte zurück zu mir. Sie wartete nicht auf mich, sondern kämpfte sich die Stufen hinauf.
Ich wollte ihn nicht sehen, wollte sein Gesicht nicht sehen und die Wahrheit nicht konfrontieren. Aber ich wusste, dass ich es auf ewig bereuen würde, wenn ich es nicht sehen würde. Wenn ich nicht mit eigenen Augen sehen würde, was mit meinem besten Freund passiert war.
Tapfer trat ich nur ein paar Schritte zu ihm und sah unter all dem Blut die Inkarnation meiner Alpträume.
Chase ist tot.
~~ ~~
Da Beverly noch recht wackelig auf den Beinen war, holte ich zu ihr auf, als sie in den Flur einbog, der zu ihrem Zimmer führte. Sie hatte sich alle Tränen getrocknet und wollte genau wie ich nur nach Addie und Trish sehen. Es musste ihnen einfach gut gehen. Denn wenn wir jetzt in das Zimmer gehen und das Bild vorfinden würden, das sich eben in unser Gehirn gebrannt hatte, dann... Dann würde es einfach nicht weitergehen. Wie hätte es das sollen?
Ich hörte das Schreien und meine Schritte verlangsamten sich erst, bevor sie schneller wurden und ich noch vor Beverly im Türrahmen zum Stehen kam und ins Zimmer spähte.
Addie lag in dem Bett, umgeben von Tüchern, die voller schwarzer Flecken waren. Nasse Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht. Finley stand lächelnd am Fuße des Bettes. Trish war an Addie's Seite und sah lächelnd auf die zwei Babies herab, die Addie im Arm hielt und mit Freudentränen betrachtete.
Die Kleinen gaben quäkende Geräusche von sich. Sie hatten die Augen zugekniffen und streckten sich. Lange konnten sie noch nicht auf der Welt sein.
Das Bild sah zu friedlich aus. Die Sonnenstrahlen, die durch das Zimmer tanzten. Eine unendlich glückliche Mutter. Zwei gesund aussehende Babies.
Addie sah auf und strahlte so breit, dass ihr noch zwei Tränen über die Wange liefen. Trish lächelte mich ebenfalls an.
Beverly wagte es, einen Blick ins Zimmer hinein zu werfen, wandte sich jedoch sofort wieder ab und drückte sich auf dem Flur gegen die Wand, presste sich eine Hand gegen den Mund und unterdrückte den Schmerz. Es war zu viel. Den beiden ging es gut und mit diesen Gefühlswellen konnte ich selbst kaum umgehen. Ich konnte nachvollziehen, wie Beverly sich fühlte.
Addie sah mich abwartend an und versuchte auf den Flur zu linsen.
Wo ist Chase?
Sie sprach es nicht aus, aber ihr aufgeregtes Lächeln ließ darauf schließen, dass sie wissen wollte, was er zu den kleinen Knöpfen sagen würde. Wie er sie in den Arm nehmen und strahlen würde, weil er Kinder mochte. Wie er Addie in die Arme schließen, einen dummen Spruch bringen und ihr dann sagen würde, dass alles gut war.
Ich verzog keine Miene, als mich ihr erwartungsvoller Blick nicht loslassen wollte. Ihr Lächeln verzog sich schnell zu etwas anderem und die Freudentränen wurden durch etwas ersetzt, das ich ihr am liebsten nehmen würde, als sie begriff, dass Chase nicht in dieses Zimmer kommen würde.
Finley wandte betroffen den Blick ab, als sie begriff.
„Hey...", meinte Trish langsam. „Was sollen diese Blicke? Wo ist Chase?" Ich schlug den Blick nieder und sie hob mahnend den Zeigefinger und ihre Atmung beschleunigte sich. „Das ist nicht komisch. Wo ist er? Komm schon, Aidan, wo versteckt sich der Spaßvogel?"
Ich konnte nicht antworten. Es ging einfach nicht. Mir schnürte es die Kehle zu und ich spürte den Schmerz so tief in meinem Herz sitzen, dass ihn keine Klinge der Welt hätte erreichen können.
Addie sah wieder auf ihre Babies hinab und weinte in einer Mischung aus überschwellender Freude und abgrundtiefer Zerrissenheit.
„Nein", sagte Trish entschieden. „Nein, er ist nicht tot." Sie lachte auf. „Chase ist nicht tot. Er kann nicht tot sein."
„Trish...", brachte ich erstickt hervor. Beverly sank an der Wand hinunter und hielt sich den Kopf.
„Chase ist nicht tot!", rief Trish und ihre Unterlippe begann zu beben. „Er ist einer von uns. Chase ist einer von uns." Sie sah uns der Reihe nach an. „Und wir sterben nicht. Sowas machen wir nicht! Das kann nicht sein!"
Ich trat langsam in das Zimmer ein, in dem mich die Erinnerungen an den Mistkerl nur so überhäuften. Vor wenigen Stunden hatte er doch noch an dem Fenster gestanden und nach draußen gesehen. Als es Beverly so schlecht gegangen war, hatte er an dem Tisch gesessen und mit Finley Schach gespielt. Wir hatten zusammen Hochzeitsreden geschrieben und gescherzt.
„Trish-"
„Nein! Hör auf!", schrie sie. „Chase ist nicht tot! Er kann nicht tot sein, das kann nicht sein!" Ich schloss sie in meine Arme, obwohl sie versuchte, sich zu wehren. „Lass mich, er ist nicht tot!" Der Stoff an meiner Schulter wurde nass. „Er ist nicht tot. Er ist einer von uns! Er kann nicht tot sein, das kann nicht sein, du irrst dich! Ihr alle irrt euch!"
Sie klammerte sich an meinen Schultern fest und begann zu schluchzen. Meinen Tränen glitzerten wie Perlen in ihren Haaren.
„Chase ist doch einer von uns!"
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