70
Aidan
„Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein." Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Darin sieht meine Schwester aus wie ein Pudel. Überleg dir was anderes."
Canna stieß genervt den Atem aus und Chase legte studierend den Kopf schräg, während Addie sich einmal um die eigene Achse drehte.
„Ich finde es süß", meinte er. „Das passt doch zu ihr. Es ist schön... puffig."
Trish schüttelte den Kopf. „Aidan hat recht. Addie sieht aus wie eine Wolke, wenn sie dieses Kleid trägt. Oder ein Schaf. Ihr Bauch ist doch schon so groß, da braucht sie nun wirklich keine Rüschen mehr."
„Rüschen passen zu ihr", mischte Beverly sich ein. „Sie sind lieblich und unschuldig. Wie Zuckerwatte."
„Ähm, hallo?" Addie winkte uns beleidigt zu. „Ich stehe direkt vor euch. Überlegt bitte zwei Mal, welche Adjektive ihr mir gegen den Kopf schmeißt, die mein Gemüt beschreiben, bevor ihr mich beleidigt, danke."
Es war der Tag vor Brikeena's Hinrichtung, der Scheiterhaufen wurde vor dem Schloss aufgebaut und war von Beverly's Zimmer aus viel zu gut zu sehen. Nein, ich scherze nicht. Sie wollten Brikeena verbrennen. Und wir waren alle an einem Punkt angelangt, an dem wir die Hoffnung so gut wie aufgegeben hatten und die ganze Angelegenheit mit Brikeena in schierer Verleugnung von uns wegschoben, anstatt uns damit auseinanderzusetzen. Natürlich war das keine Lösung, aber manchmal kam man erst dann auf die Lösung eines Problems, wenn man sich von besagtem Problem distanzierte. Und genau das taten wir seit einer knappen Stunde, in der Canna Addie schon alle möglichen Kleider gezaubert hatte und Chase, Beverly, Trish und ich Jury spielten.
Im Grunde genommen war es Haarspalterei, denn Addie hätte in einem Kartoffelsack und mit Fünflingen im Bauch immer noch in einem Modemagazin modeln können. Zumindest waren das Beverly's Worte gewesen, als wir für die Modenschau alle in mein und Addie's Zimmer gewandert waren, weil Beverly den Scheiterhaufen nicht jedes Mal hatte sehen wollten, sobald sie an ihrem Fenster vorbeiging.
„Was sagst du zu dem Kleid, Ads?" Ich lehnte mich zurück. „Du musst darin zum Altar flanieren."
„Flanieren." Addie schmunzelte mich an und drehte sich zu dem bodenlangen Spiegel. Ihr Blick glitt über das Kleid und ein Hauch Traurigkeit blitzte in ihren Augen auf. Ich wusste, was sie dachte.
Das war genau das Kleid, in dem sie sich ihr Leben lang gesehen hatte. Schon als Kind. Ein langes, schneeweißes Rüschenkleid mit kurzen Ärmeln auf denen kleine, funkelnde Steinchen saßen. Es war so unfassbar märchenhaft und kitschig, aber zu Addie passte es.
Das hätte es zumindest.
Wenn sie noch die Addie von vor zwei Jahren gewesen wäre.
Sie war keine Braut mehr, die in ein so unschuldiges, mädchenhaftes Kleid gehörte. Sie hatte sich zu sehr verändert. Es war zu viel passiert, und dass Addie sich nicht zu hundert Prozent wohl fühlte, sah ich ihr an.
Die Traurigkeit verblasste jedoch so schnell wie sie gekommen war und Addie drehte sich entschlossen wieder zu Canna um. Nach dem ganzen Chase-Finley-Drama hatte Finley es für besser gehalten, nicht mehr ständig in unserer Nähe zu sein. Ins besondere in Chase' Nähe und hatte daher ihre Schwester geschickt, um uns bei dem Kleid zu helfen.
„Wir müssen was Anderes versuchen. Vielleicht etwas mit langen Ärmeln aus Spitze? Das wäre doch ganz niedlich."
So ging das noch eine Weile weiter. Canna versuchte es mit sehr engen, Figur betonten Kleidern, mit weiten, die Addie's Bauch kaschierten, langärmlig, kurzärmlig, welche aus Seide, welche aus Spitze... Dann mussten wir eine Pause machen, weil die Babies Addie ununterbrochen traten und sich bewegten.
„Hey, nicht streiten", mahnte meine Schwester und tippte auf ihre Kugel. „So groß seid ihr noch gar nicht, da drinnen ist genug Platz für euch beide. Ace, lass deine Schwester in Ruhe. Sonst schlafe ich heute auf der linken Seite."
„Muss ich das verstehen?", lachte Chase ein wenig verstört. Trish hielt meiner Schwester einen Fruchtsaft hin und sie schlürfte durstig aus dem Strohhalm.
Dann deutete sie mit dem Zeigefinger auf die linke Seite ihres Bauches. „Ace ist hier." Ihr Finger glitt auf die andere Seite. „Und hier ist Freya."
„Ihr habt euch also schon entschieden?", lächelte ich.
„Ich hab mich entschieden." Addie nickte kräftig. „Freya ist ein wunderschöner Name, aber Trev sträubt sich total dagegen." Sie schlürfte das Glas leer und stellte es auf den Tisch. „Wird wohl noch ein bisschen dauern, bis er sich mit dem Gedanken anfreundet." Sie verzog das Gesicht und massierte leicht ihren Bauch. „Uff, Freya lässt sich wirklich nichts gefallen. Wenn Ace sie tritt, tritt sie zurück. Und zwar wesentlich kräftiger."
Ich konnte gar nicht anders als zu grinsen. Es erinnerte mich einfach zu sehr an Addie und mich, als wir Kinder gewesen waren. Ich hatte meiner Schwester nie absichtlich wehgetan, aber falls es dann doch mal passiert war, dass ich sie umgerannt hatte, oder mein Fuß beim Klettern im Apfelbaum abgerutscht und in ihrem Gesicht gelandet war, hatte Addie nicht zu weinen begonnen, sondern mich doppelt so hart umgerannt, oder nach meinem Bein gegriffen und mich vom Baum gezogen. Irgendwann, als sie dreizehn oder vierzehn gewesen war und gefunden hatte, dass es nicht mehr ladylike war, so etwas zu tun, hatte sie es gelassen.
Mir wurde ganz warm ums Herz, wenn ich Addie mit ihren Babies reden hörte, obwohl die zwei noch gar nicht auf der Welt waren. Bereits jetzt empfand sie mehr Liebe für die Würmchen, als sie jemals für einen anderen Menschen empfunden hatte. Vielleicht würde sie die Kleinen sogar mehr lieben als Trev. So oder so wusste ich, dass sich die zwei keine bessere Mutter würden wünschen können. Und keinen besseren Vater, davon war ich überzeugt, auch wenn Trev es nicht war.
Beverly streckte sich und gähnte herzhaft. „Wie spät ist es?"
„Fast eins", erwiderte Trish.
„Hat sie heute geredet?", raunte Chase Beverly zu, um niemandem die aufgesetzte gute Laune zu verderben, aber jeder hatte es gehört. Sie ließ den Kopf fallen.
„Nein. Und das wird sie auch bis morgen nicht mehr tun. Wir haben verloren. Schach matt. Unsere einzige Hoffnung, mehr über Cillian und Odilia zu erfahren, wird morgen auf dem Scheiterhaufen verbrannt." Sie rieb sich die Nasenwurzel. „Ich glaub, ich stell mich dann daneben. Ich hab keine Lust mehr..."
„Und Misoa?", fragte ich, bevor sie in ihren düsteren Gedanken versinken konnte. Sie hob den Kopf.
„Keine Ahnung. Sie wollte auch nicht mehr mit mir reden. Das alles macht ihr ganz schön Angst."
Wem hätte es das nicht gemacht?
„Es ist nur so frustrierend, weil..." Sie stieß den Atem aus und vergrub die Finger in ihren Haaren. „Ich hab manchmal das Gefühl, dass alle Puzzlesteinchen vor mir liegen. Jedes einzelne habe ich über die letzten Monate mühsam gesammelt, aber ich krieg es einfach nicht hin, sie zusammen zu setzen. Ich hab manchmal das Gefühl, dass ich längst wissen müsste, was mir in Bezug auf Cillian entgeht, aber es... es kommt einfach nicht, versteht ihr? Es ist wie... zu erfahren, dass eine Kuh nur dann Milch gibt, wenn sie ein Kälbchen hat. Total logisch, aber irgendwie kommt man ewig nicht auf diesen Gedanken!" Sie stöhnte genervt auf. „Ich bin mir sicher, dass ich alle Informationen habe, sie aber irgendwie nicht zusammenführen kann. Und viel Zeit bleibt mir auch nicht mehr." Sie sah zu Chase. „Du bist doch derjenige, der immer aus allem einen logischen Schluss ziehen kann. Warum ist dir noch nichts eingefallen?"
„Vielleicht hast du uns einfach noch nicht alles erzählt", grinste er.
Trish schlug die Beine übereinander und legte sich auf dem Teppich auf den Rücken.
„Warum können wir Cillian's Magie nicht einfach... wegnehmen? Dann wäre er kein Zauberer mehr und wir könnten ihn ganz normal aus dem Weg räumen. Problem gelöst."
Canna lachte und schwang sich auf das Fensterbrett. „Wenn es so leicht wäre, hätten wir es schon längst getan."
„Vielleicht kann Bev ja einen Zauber dafür schreiben."
„Einen Zauber, der Cillian seine Magie nimmt? Das geht nicht. Die Magie von einer Hexe oder einem Zauberer kann man nicht einfach wegzaubern oder nicht existent machen. Es ist ein Teil von ihnen, mit dem sie geboren wurden. Eine Essenz, wenn du so willst. Wenn man jemandem den Hexenpart so einfach wegnehmen könnte, dann hätten wir jetzt kein Problem mehr."
„Sekunde mal...", murmelte Beverly und hob die Hand. Ihre Augen flackerten aufgeregt hin und her. „Wiederhol das nochmal."
Canna sah sie unsicher an und wusste offensichtlich nicht recht, was Beverly von ihr wollte. „Dass es eine Essenz ist? Dass man mit Magie geboren wird und sie nicht wegnehmen kann? Äh... dass du keinen Zauber dafür schreiben kannst?"
Beverly nickte langsam. „Man ist damit geboren", flüsterte sie, mehr zu sich selbst, als zu uns. „Und man kann diese Essenz niemandem nehmen, aber vielleicht..." Sie verstummte wieder.
„Klärst du uns auf?", fragte Chase, aber Beverly antwortete nicht. Stattdessen riss sie die Augen auf und atmete erschrocken auf.
„Fügt sich gerade das Puzzle zusammen?", fragte Canna spaßeshalber, die selbst schon gar nicht mehr an eine Lösung des Problems glaubte. Doch Beverly sah mit großen Augen zu ihr auf.
„Das hat es."
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