63

Beverly

Ich war noch total benebelt, als ich die Augen wieder aufschlug. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, ich wäre im J.W. House mit Rose an meinem Bett, so vertraut fühlte sich dieses Gefühl der Schwere an, das sich über meinen gesamten Körper erstreckte. Als würde Blei anstatt Blut meine Adern füllen. Was auch immer es war, das Arlen mir gespritzt hatte, es fühlte sich an wie die Sedierungsmittel in den Krankenhäusern, in denen ich nach meiner Entführung gewesen war. Dort hatte ich oft psychische Zusammenbrüche vorgetäuscht, weil ich einfach für ein paar Stunden hatte ruhig gestellt werden und schlafen wollen. Nicht an das denken müssen, was in der Waldhütte geschehen war.

Doch als ich die Augen nun öffnete saß Aidan neben mir, das Kinn auf der Brust und er schnarchte leise. Ich war auch nicht in einem sterilen, nach Desinfektionsmittel riechenden Raum, sondern einem altmodisch eingerichteten Zimmer mit grauen Steinwänden.

Mühselig hob ich meinen linken Arm, hatte meine Muskeln aber kaum unter Kontrolle und schlug Aidan fester als beabsichtigt. Er schreckte auf und sah sich um. Als er bemerkte, dass ich wach war, entspannte sich seine komplette Körperhaltung.

„Bev! Du bist wach."

„Und du warst mein Wächter?", schmunzelte ich. Ich wollte dabei süß aussehen, aber ich konnte mir gut vorstellen, wie eine Drogenabhängige auf Entzug zu wirken. Meine Stimme klang ganz rau. Meine Augenlider ruhten auf Halbmast. Also ließ ich das mit dem Lächeln sein.

„Ich muss eingeschlafen sein." Er rieb sich die Augen.

„Scheint so."

„Wie fühlst du dich?"

„Müde...", murmelte ich und schloss die Augen wieder. „Ich könnte glatt wieder einschlafen."

„Keiner hält dich ab", meinte er sanft, aber ich schüttelte den Kopf. Ich hatte genug geschlafen, ich musste weiter arbeiten. Ich musste mir Theodoric's Notizbücher ansehen! Ich musste weiter in dem schwarzen Buch lesen. Es gab zu viele Dinge, die ich zu erledigen hatte.

Aber gleichzeitig fühlten sich meine Gliedmaßen viel zu schwer an, als dass ich sie hätte bewegen können oder wollen. Plötzlich fühlte ich eine Hand schwer an meiner Stirn.

„Schlaf weiter", flüsterte Aidan und ich tastete ungeschickte nach seiner Hand. Er verschränkte seine Finger in meinen und gab mir einen langen Kuss auf die Stirn. Dabei kam er mir nahe genug, damit ich seinen Geruch einatmen konnte, der mir so wunderbar vertraut war.

„Ich bin froh, dass du da bist", flüsterte ich und schlief wieder ein, bevor ich hören konnte, ob er etwas darauf sagte.

~~ ~~

Als ich das nächste Mal aufwachte, war ich schweißnass und sah nur flimmernde Gestalten vor mir. Dumpfe Stimmen drangen an mein Ohr. Vielleicht war es Corona?

„Du Idiot!" Für einen Augenblick driftete ich wieder weg. „Was hast du ihr gegeben?"

„Es war ein einfaches Schlafmittel!"

Es war so verdammt warm! Ich strampelte mir mühselig die Decke vom Körper. Meine Haut fühlte sich an, als würde ich sie dabei abschälen.

Ich fühlte eine eiskalte Hand auf meiner Wange, war aber zu erschöpft, um auch nur die Augen zu öffnen.

„Sie ist brennheiß!"

„So viel ist es gar nicht..."

„Arlen, ich schwöre, bei Gott, wenn du sie-"

„Was? Vergiftet hast?" Die schwarzen Gestalten bewegten sich vor meinem Blickfeld hin und her. Ich merkte, wie die Panik in mir hochkroch.

„Hast du etwas Anderes erwartet, bei allem, was ihr passiert ist? Manchmal reagieren Körper und Psyche eben-"

Irgendjemand gab ein panisches, krächzendes Geräusch von sich. Ich bemerkte erst, dass ich dieser jemand war, als mein Hals zu brennen begann.

„Lasst mich in Ruhe!", krächzte ich und rutschte auf dem weichen Untergrund herum, während die schwarzen Gestalten auf mich zukamen. „Geht weg! Fasst mich nicht an! Lasst mich!"

Der Rest verschwand irgendwo in der Schlucht zwischen Geschehen und Bewusstsein.

Die nächsten paar Male, in denen ich aufwachte, spürte ich mal ein dünnes, elastisches Plastikröhrchen zwischen den Lippen und bemerkte, dass ich Wasser schlürfte. Dann zitterte ich unter massenhaft weichem Gewicht. Dann lag ich auf nassen Laken. Dann fühlte ich etwas Kaltes auf meiner Stirn.

Und als ich nach diesen seltsamen Erlebnissen die Augen wieder öffnete, glaubte ich, alles nur geträumt zu haben. Die Sonne schien durch die hohen Fenster ins Zimmer und Chase saß neben meinem Bett auf einem Stuhl.

Er lächelte und beugte sich vor, als ich ihn anblinzelte. „Guten Morgen, Dornröschen."

Ich rieb mir etwas tollpatschig die brennenden Augen. „Wie lange hab ich geschlafen?"

„Lang", erwiderte er. „Fast fünf Tage."

„Was?"

Er betrachtete mich besorgt. „Nach dem ganzen Stress hat dein Körper schlapp gemacht, Bevy. Du hast total hochgefiebert, wir dachten schon, Arlen hätte versucht, dich umzubringen."

Vorsichtig rappelte ich mich auf und lehnte mich gegen das Kopfende. „Das habe ich also doch alles nicht geträumt?"

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Als dein Körper und dein Gehirn durch den Schlaf den ganzen Stress loslassen konnten, ist dein Immunsystem zusammengeklappt. Wie fühlst du dich?"

„Gut." Es war nicht einmal gelogen. Mir war weder sonderlich warm noch kalt. Meine Haut tat nicht weh. Ich hatte nur ein bisschen Durst und ziemlich großen Hunger. Außerdem wollte ich duschen, meine Haare fühlten sich widerlich an.

„Wo ist Aidan?"

„Hab ihn weggeschickt. Er war ständig hier, ununterbrochen. Hat dich zugedeckt, wenn du gezittert hast, abgedeckt, wenn du geschwitzt hast. Er hat dich keine Sekunde aus den Augen gelassen. Wir haben uns schon beinahe mehr Sorgen um ihn gemacht."

Ich nickte. „Aber es geht ihm gut, oder?"

Er betrachtete mich einen Moment lang. „Dafür, dass ihr nicht mehr zusammen seid, kümmert ihr euch viel zu sehr um einander, weißt du das?"

„War das ein Vorwurf?" Ich liebte ihn immer noch. Meine Gefühle hatten sich nicht geändert. Und er war immer noch ein verdammt guter Freund, natürlich sorgte ich mich um ihn.

„Ich war nicht bei ihm, aber Addie war vorhin auf ihrem gemeinsamen Zimmer. Sie meinte, dass Aidan schläft."

„Und wo ist Trish?"

„Was glaubst du?" Er grinste. „Bei Brikeena. Die beiden... Uff..." Er sog scharf die Luft ein und kniff die Augen zusammen. „Wenn ich doch nur dabei sein könnte."

Ich verdrehte die Augen. „Du bist widerlich."

„Das war übrigens ein grandioser Schachzug, Bevy." Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

„Was meinst du?"

„Vor allen anderen Trish als Lügendetektor zu entlarven." Ich griff mir an die Stirn. Die Show die ich abgezogen hatte, wäre mir ja beinahe entfallen. „Du hast uns einen entscheidenden Vorteil genommen."

„Tut mir leid." Betreten starrte ich an die Decke. Ich hätte gar niemandem sagen sollen, dass Brikeena uns verraten hatte. Damit hatte ich es mir lediglich schwerer gemacht, ihre Schuld zu beweisen. Jetzt brauchte ich handfeste Beweise und diese würde Brikeena bestimmt versteckt oder gar vernichtet haben. Aber ich hatte noch lange nicht aufgegeben.

Ich sah auf und setzte meinen besten Welpenblick auf.

„Hast du einen Krampf im Fuß, oder warum siehst du mich so an?", fragte Chase irritiert.

„Was? Nein." Schnell schüttelte ich mir den Welpenblick aus dem Gesicht. „Wie sehr vertraust du mir?"

„Ist das eine Scherzfrage? Ich vertraue dir vielleicht meinen Pudding an, aber bei Scotch wäre ich-"

„Chase!", unterbrach ich ihn genervt und sah ihn ernst an. „Bitte."

Halb beunruhigt, halb eindringlich betrachtete er mich und ließ die Arme sinken. „Was ist los, Bevy?"

„Ich brauche deine Hilfe."

„Wobei?"

„Bei einer Sache, die außer dir keiner unterstützen wird."

Er verstand recht schnell, worauf ich hinaus wollte und ließ seinen Blick unwohl durch den Raum schweifen. „Bevy-"

„Nein, hör zu, bitte, bitte, du musst mir zuhören." Ich schloss flehend die Augen. „Bitte. Hör mir einfach zu."

Ich erzählte ihm noch einmal in aller Ruhe, was ich glaubte gehört zu haben. Das kurze Gespräch zwischen Odilia und Brikeena. Und dann erzählte ich ihm die Geschichte, die Cash mir erzählt hatte. Ich berichtete von dem Ataria in den Katakomben und warum ich glaubte, dass Brikeena davon wusste.

Zu meiner Überraschung hörte er mir diesmal ganz geduldig zu, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.

„Das ist doch alles ziemlich... komisch, findest du nicht?", fragte ich schließlich. Ich hatte mich im Schneidersitz auf meine Decke gesetzt und blinzelte ihn an.

Er hatte das Kinn auf eine Hand gestützt und sah mich grübelnd an. „Ich denke einfach... Wenn sie uns umbringen wollte, dann müsste sie einfach aufhören... naja, uns das Leben zu retten. Sie hat Aidan das Leben gerettet. Warum hätte sie den Hexenbeutel verstecken und dann wieder scheinfinden und unschädlich machen sollen? Das passt nicht zusammen. Sie hätte ihn sterben lassen können."

„Vielleicht wollte sie unser Vertrauen gewinnen?"

„Das hatte sie doch schon. Das hatte sie, seit sie Corona davon abgehalten hat, Trish umzubringen." Mutlos schloss ich die Augen und Chase setzte schnell Kurs auf eine andere Frage. „Okay, was ist mit dem Labyrinth? Wie erklärst du dir das? Wie soll sie dich in dem Labyrinth gefunden haben, ohne für dich... bestimmt gewesen zu sein? Fin und ich haben euch wegen Aidan's Gabe gefunden. Aber Brikeena?"

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Fin?" Dann legte ich den Kopf schräg. „Oh Gott, Chase."

„Halt den Mund, wir reden über etwas Ernstes."

„Etwas Ernstes? Zwischen dir und Fin?"

Er rollte mit den Augen, aber mir entging das peinlich berührte Flackern in seinen Augen nicht. Wenn er mir nicht gerade so intensiv zugehört hätte und ich diesen Moment nicht hätte ausnutzen wollen, dann wäre ich vielleicht näher auf die Sache zwischen ihm und Finley eingegangen. Ich hatte das Gefühl, dass er bereit war, mir weitaus mehr über seine verkümmerte Gefühlswelt anzuvertrauen, seit er mir von Gina erzählt hatte.

„Gut, wegen der Sache im Labyrinth ist mir noch keine Lösung gekommen. Aber es muss eine geben, das weiß ich einfach! Ich hab dort ja auch niemanden gesehen. Es war wie ein Windstoß, wie ein unsichtbares Wesen, wie ein-" Ich brach ab und die Rädchen in meinem Gehirn begannen zu arbeiten. Mit großen Augen sah ich Chase an, der augenscheinlich genau dasselbe dachte.

„Wie ein Schatten", murmelte er. Brikeena konnte ihren Schatten kontrollieren. Was, wenn sie es geschafft hatte, ihren Schatten mich verletzen zu lassen? War das möglich?

Angestrengt atmete Chase aus und schüttelte abwehrend den Kopf. „Das ist doch Wahnsinn, Bevy. Ich bin nicht bereit, jemanden aufgrund von ein paar Vielleichts zu beschuldigen, auf Cillian's Seite zu stehen."

„Du musst sie nicht beschuldigen", erwiderte ich, obwohl ich fand, dass langsam alle Beweise für sich sprachen. „Du sollst sie nur verdächtigen. Wir haben uns von Anfang an darauf geeinigt, niemandem zu trauen, schon vergessen? Wann haben wir Brikeena aus dieser Abmachung ausgeklammert?"

Dagegen konnte er nichts einwenden.

„Ich möchte mir ihr Zimmer ansehen", sagte ich. „Ganz in Ruhe. Aber dafür muss ich Trish überreden, Brikeena abzulenken. Aber das schaffe ich alleine nicht, also musst du mir helfen."

„Und du denkst, sie wird auf mich hören?" Er hob die Augenbrauen an.

„Ich hoffe es. Ich möchte nicht, dass Aidan oder Addie davon erfahren. Ich will mir nicht wieder anhören müssen, dass ich verrückt bin..." Als ich aufsah bemerkte ich seinen nachdenklichen Blick. Ich seufzte. „Hör zu. Ich weiß, was ich gehört habe. Ja, ich war unter massivem psychischen Stress, aber ich weiß, was ich gehört habe. Ich weiß es, und ich bin mir sicher. Du musst es nicht glauben, aber ich finde, als mein bester Freund müsstest du mir helfen, eine Chance zu bekommen, meine Theorie zu bestätigen oder zu widerlegen. Trish will nicht als Lügendetektor herhalten, das verstehe ich. Das verlange ich nicht mehr von ihr. Aber dann muss ich eben... auf eigene Faust ermitteln."

Es war lange Zeit still. Ich saß auf dem Bett und war mir sicher, dass Chase mir nicht helfen würde. Chase lehnte in dem Stuhl und starrte mich unverwandt an. Schließlich atmete er durch.

„Wusstest du, dass Trish Brikeena schon vor unserer Abreise von ihrer Gaben erzählt hat?" Ich riss die Augen auf und er nickte ernst. „Wir wissen doch beide, wie... einfach es sein kann, ihre Gabe zu umgehen. Was, wenn die falsche Person das auch weiß und sich unbemerkt durch die Wahrheit gemogelt hat?"

Das war's. Brikeena war ab sofort Verdächtige Nummer eins. Es waren zu viele Zufälle. Es passte zu perfekt.

„Also hilfst du mir?", fragte ich aufgeregt.

„Auf die Gefahr hin, dass ich auf die Schnauze fliege, weil du den falschen Riecher hast?" Er grinste. „Na klar."

Beinahe wäre ich ihm um den Hals gefallen. Aber ich hielt mich zurück. Stattdessen erarbeiteten wir einen kleinen Plan. Wann? Wo? Wie? Wer würde eingeweiht werden? Würden wir ein Alibi brauchen, das wir vorschieben konnten, würden wir gefragt werden? Würde ich irgendwelche Zauber zum Finden von Beweisen anwenden können?

Chase war einfach besser im Pläne schmieden als ich. Er hatte erst am nächsten Tag mit der Umsetzung unseres Vorhabens beginnen wollen, weil ich in seinen Augen noch zu erschöpft war. In Wahrheit war ich nie ausgeruhter und bereiter, einen Plan in die Tat umzusetzen. Trotzdem schickte er mich zuerst unter die Dusche und als ich zurück auf mein Zimmer kam wartete ein kleines Mittagsfrühstück mit Broten, Obst und Tee auf mich. Sobald ich alles aufgegessen und wir weiter an der genauen, detailreichen Umsetzung des Plans gefeilt hatten, machten wir uns auf die Suche nach Trish.

„Was sagen wir ihr?", fragte ich. Chase lachte auf.

„Die Wahrheit?"

Ich legte den Kopf schräg, aber natürlich hatte er recht. Etwas anderes konnten wir ihr nicht geben. „Aber, was machen wir, wenn sie-" Ich brach ab, weil ich Iona am anderen Ende des Ganges sah. Sie beachtete Chase nicht, als sie auf uns zukam, sondern hatte ihren Blick starr auf mich gerichtet. Schwer schluckte ich und mein Magen verkrampfte sich um das Essen.

„Dir geht es besser, wie ich sehe?", fragte sie, als sie schließlich vor mir zum Stehen kam. Das letzte Mal, als ich mit ihr gesprochen hatte, war buchstäblich bei unserem kleinen Streit gewesen. Und obwohl auf ihre Frage ein einfaches „Ja" ausgereicht hätte, brachte ich es nicht hervor.

„Ich muss mit dir reden." Sie verschränkte die Hände vor ihrem Körper und sah mich abwartend an.

„Eigentlich... hatte ich etwas vor", meinte ich langsam.

„Es wird nicht lange dauern." Damit drehte sie sich um, ging voraus und erwartete offensichtlich wie selbstverständlich, dass ich ihr folgte. Ich warf Chase einen angestrengten Blick zu, aber er bedeutete mir, ihr zu folgen. Also tat ich genau das.

Wir landeten nach bestimmt einigen Kilometern Fußmarsch in dem Raum, der vermutlich Theodoric's Arbeitszimmer gewesen war, denn auf dem Tisch stapelten sich links und rechts Türme von dünnen, dunklen Notizbüchern und an der Wand dahinter hing zwischen den zwei Fenstern ein monströses Gemälde von Iona und Theodoric. Wenn sie dieses Kunstwerk auch selbst gemalt hatte, zweifelte ich mein Talent an. Es kribbelte mir schon seit längerer Zeit in Fingern, wieder zu zeichnen. Ich vermisste es, meine Gedanken in Ruhe ordnen zu können.

„Setz dich", meinte Iona und ließ sich bereits auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder, was ihr automatisch eine weitaus höhere Position zuschrieb. Brav gehorchte ich, setzte mich ihr gegenüber auf den bequemen Stuhl und verschränkte meine Finger ineinander, während sie mich studierend musterte.

„Wie geht es dir?", fragte sie schließlich. „Es waren einige sehr intensive Tage."

Ich vermisste die Zeit, in der es tatsächlich niemanden interessiert hatte, wie es mir ging. Es war viel einfacher gewesen, nicht über all die schlimmen Dinge nachzudenken, wenn man nicht permanent daran erinnert wird. Abgesehen davon war es eine ziemlich dumme Frage, oder nicht? Wie ging es mir wohl?

Ich war unruhig, hatte Angst und das Gefühl, dass mir jemand mit einem Vakuumiergerät die Luft zum Atmen raubte. Nebenbei wartete ich auf die nächste schlechte Nachricht und das nächste furchtbare Ereignis, mit dem mich das Universum Abwarf.

Wenigstens hatte ich keinen Hunger mehr und stank nicht wie ein Frettchen.

„Es geht mir... ganz gut, schätze ich", log ich schließlich, weil es in der Regel die Antwort war, die die meisten Menschen hören wollten. Meine Annahme bestätigte sich auch diesmal, als Iona nicht weiter darauf einging.

„Lorcan hat mir von Gara erzählt. Ich habe früher mit dir darüber reden wollen, aber..."

Ich nickte. „Odilia hat mir von Teegan erzählt", erwiderte ich und drehte den Spieß um. „Ich habe früher mit dir darüber reden wollen, aber..." Sie kniff die Augen zusammen. Mein Tonfall gefiel ihr nicht, aber mir gefielen die Spielchen nicht, die sie mit mir spielte. „Warum hast du mir nicht die ganze Geschichte erzählt?"

Sie zog die Schultern zurück. Es war eine sehr subtile Änderung, aber sie übte enorme Wirkung auf mich aus, denn plötzlich hatte ich das Gefühl, ein bisschen zu weit gegangen zu sein.

„Ändert die ganze Wahrheit denn etwas an deiner Einstellung?"

Gute Frage. Tat sie das? Ich war mir auf jeden Fall sicher, dass ich mich nicht mehr in eine Situation bringen wollte, in denen mein Leben von meiner „Familie" abhängig sein würde. Ein kleiner Fehler und man war direkt Staatsfeind Nummer eins, das hatte mir die Geschichte mit Odilia gelehrt. Diese Familie schien recht... instabil. Brüchig.

Ich musste an die Sache zwischen Corona und Brikeena denken. Eine einzige, schrecklich schwer zu treffende Entscheidung auf Corona's Seite hatte die ganze Familie entzwei gespalten. Und ich war mir sicher, dass nun einiges anders ausgesehen hätte, hätte Corona damals versucht, Brikeena aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.

Iona beugte sich vor. In ihrer Haltung lag rein gar nichts Mütterliches mehr. „Wie stehst du zu uns, Maeve?"

„Beverly."

Sie kniff die Augen noch ein wenig mehr zusammen. „Stehst du auf ihrer Seite?"

„Wenn ich es täte, wäre ich dumm, dir das zu sagen, oder nicht?" Sie antwortete nicht, sondern starrte mich weiterhin mit brennendem Blick an und ich sah ein, dass jetzt nicht die Zeit für sarkastische Bemerkungen war. „Nein", sagte ich daher. „Ich stehe nicht auf ihrer Seite."

„Gut." Iona nickte und betrachtete mich nachdenklich. „Es wäre eine Schande, wenn du es tätest."

Wahrlich eine Schande. Fragt sich nur, für wen.

„Und nun sag mir, was das mit den Anschuldigungen auf Brikeena sollte."

Ich war ehrlich versucht, es ihr zu sagen. Die Worte brannten mir auf der Zunge, aber ich schluckte sie alle herunter, schloss milde die Augen und schüttelte den Kopf. Ich würde mich an Chase' Plan halten, die ganze Aktion nicht noch weiter hochzupushen.

„Es war nichts", meinte ich daher. „Ich war nur verwirrt, nach allem, was passiert ist."

Ihr Blick verriet mir, dass sie mir nicht so recht glaubte. Andererseits wirkte ihr Blick im Moment generell recht einschüchternd, sodass ich ihn schwer deuten konnte.

„Brikeena hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Das habe ich verstanden, jetzt, da ich Zeit hatte, alles Revue passieren zu lassen." Hatte ich etwas zu dick aufgetragen? Ich wollte nicht, dass Iona oder sonst jemand meine Detektivarbeiten mit Chase ruinieren oder dem Ganzen die Quere kommen würde.

„Kann ich jetzt gehen?", fragte ich. „Wie gesagt, ich hab einiges aufzuholen. Zaubertechnisch, meine ich."

„Natürlich." Sie nickte kurz und ihre ganze Körperhaltung entspannte sich, als ich den Stuhl zurückschob, aufstand und zur Türe ging. Ich konnte es kaum erwarten, von ihr wegzukommen. Sie vermittelte mir ein ungutes Gefühl. Als wäre ich nicht länger Gast und Tochter, sondern Gefangene und Mittel zum Zweck, das beobachtet und unter Kontrolle gehalten werden musste. Aber gut. Den Gefangenen-Part hatte ich gut drauf und das unter-Kontrolle-gebracht-werden hatte ich im J.W. House und in Modoc erlebt.

„Du bist dir sicher, dass Gara lebt?"

Ich drehte mich um. Plötzlich blickte ich wieder in die Augen einer Mutter. Eine Mutter, die geglaubt hatte, ein Kind verloren zu haben, das noch lebte. Auf keinen Fall wollte ich sie anlügen, aber ihr falsche Hoffnungen machen war auch nicht das Gelbe vom Ei.

„Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie gelebt. Ja", nickte ich und ein Anflug von Erleichterung schlich sich auf ihr Gesicht. Aber auch der Ausdruck, jegliche Hoffnung von sich schieben zu wollen, um kein zweites Mal verletzt zu werden. „Aber Gara hat Odilia's Sohn getötet, wie du weißt", fuhr ich fort und ein schmerzhafter Zug zeichnete sich über ihrem Gesicht ab. „Ich würde nicht darauf wetten, dass sie noch viel Zeit hat. Odilia hat ziemlich deutlich gemacht, dass sie Gara bereits zu lange hat leben lassen."

Und wenn ich ehrlich war, konnte ich Odilia diese eine Sache ganz und gar nicht übel nehmen.

~~ ~~

„Was wollte sie?", fragte Chase, der uns gefolgt war und im Flur auf mich gewartet hatte.

„Nichts Besonderes." Schnell hakte ich mich bei ihm unter und zog ihn den Flur entlang. Ich wollte weg von hier, bevor Iona vielleicht noch etwas einfiel über das sie reden oder womit sie mich einschüchtern konnte.

„Denkst du, wir erwischen Trish alleine?", fragte Chase.

„Das werden wir gleich sehen."

Tatsächlich fanden wir Trish in diesem riesigen Schloss relativ schnell, dank meiner (mittlerweile) ausgeprägten Gabe, Menschen im engeren Radius zu lokalisieren. Sie war auf ihrem Zimmer, aber sie war nicht alleine. Natürlich war Brikeena bei ihr und als Chase Trish kurz auf den Flur bat und ich einen Blick ins Innere des Zimmers erhaschte, sah ich, dass Brikeena seitlich auf dem Bett lag. Sie bemerkte mich nicht, denn sie inspizierte hochkonzentriert ihre Fingernägel.

Chase lockte Trish unter dem Vorwand aus dem Zimmer, dass sie mir bei einem Mädchenproblem helfen musste, woraufhin ich nur die Augen verdrehen konnte. Aber es wirkte, denn Trish folgte ihm aus dem Zimmer.

Doch als wir ihr am anderen Ende des Flurs unser tatsächliches Vorhaben zuflüsterten, war die einzige, fassungslose Antwort, die wir zu hören bekamen ein Empörtes: „Nein!" Wer hätte es gedacht?

„Es ist wichtig", flehte ich.

„Nein!", wiederholte sie und strich sich die erdbeerblond Haare hinter die Ohren. Über unsere Dreistigkeit war sie offensichtlich mehr als schockiert. „Ihr... Ihr habt doch völlig den Verstand verloren. Ich lüge doch nicht Brikeena was vor und spiele ihre Ablenkung, damit ihr in ihrem Zimmer herumschnüffeln könnt!" Ihr anklagender Blick blieb auf Chase haften. „Und was fällt dir überhaupt ein?" Er hob abwehrend die Hände.

„Hey, ich beschuldige Brikeena nicht ohne Beweis, okay? Aber genau aus dem Grund, müssen wir nachsehen, ob wir etwas Interessantes in ihrem Zimmer finden. Die Zahl der Verdächtigen hat sich über die Monate nicht beschränkt, aber jetzt haben wir Grund zu der Annahme-"

„Sie hat rein gar nichts mit der ganzen Sache zu tun! Sie hat mich noch kein einziges Mal angelogen. Auch nicht, als sie uns erzählt hat, wie du ihr bei der Reise hier her abhandengekommen bist." Das bewies gar nichts. Es war nicht unmöglich, Trish's Gabe zu umgehen. Und...

„Schön, aber sie wusste von deiner Gabe, oder nicht?", warf ich beinahe sauer ein. Trish zog die Augenbrauen in einer derart arroganten Weise hoch, dass ich für einen kurzen Augenblick dachte, ein völlig anderer Mensch stünde vor mir. Dass Trish dieses Mienenspiel draufhatte, hätte ich nie gedacht.

„Entschuldige bitte, aber es ist doch wohl meine Entscheidung, was ich jemandem über mich erzähle. Oder willst du über diesen Teil meines Lebens auch noch die Kontrolle?"

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Das war nicht die Trish die ich kannte, verdammt. Verständnislos und zugegebenermaßen auch ein bisschen verletzt schüttelte ich den Kopf.

„Was ist los mit dir? Hat Brikeena dich verhext, oder warum benimmst du dich mir gegenüber so?"

„Du beschuldigst Brikeena eine Verräterin zu sein. Und das ist einfach nur falsch. Sie kann es nicht gewesen sein, das geht nicht."

„Du kannst ihr trotzdem nicht einfach so blind vertrauen! Wir haben uns alle von Anfang an ausgemacht, dass wir niemandem von deiner Gabe erzählen, weil sie ein riesiger Vorteil ist. Erst hast du es Finley's Mann beim Abendessen erzählt und jetzt Brikeena."

„Und du hast es vor all deinen Geschwistern kundgetan, ist das vielleicht auch meine Schuld?"

Ich rieb mir verzweifelt übers Gesicht. Dieses Gespräch ging in die völlig falsche Richtung und außer Schuldzuweisungen ging hier absolut nichts voran, aber zum Glück griff Chase ein.

„Trish, es ist doch in Wirklichkeit nur eine Win-Win Situation. Entweder wir finden etwas, das Brikeena belastet, oder nicht. Und wir fragen dich nicht, den Lügendetektor zu spielen. Wir fragen dich auch nicht, bei dieser Aktion mitzumachen. Aber wenn du immer noch Teil unserer Gruppe bist und bei deiner ganzen Schwärmerei für Brikeena nicht vergessen hast, weshalb wir eigentlich hier sind und dass wir herausfinden müssen, wer verdammt nochmal der Verräter in dieser Familie ist, dann musst du uns helfen. Das musst du, denn sonst lässt du deine Freunde für ein Mädchen im Stich, mit dem du hochgerechnet vielleicht drei Wochen deines Lebens verbracht hast."

Sie wollte offensichtlich etwas erwidern, dass vielleicht Begriffe wie gefühllose, männliche Hure beinhaltet hätte, aber dann schloss sie die Lippen wieder und senkte den Blick für einen Moment.

Wann hatte Trish sich bloß so verändert? Wann hatte ich ihr Vertrauen verloren? War es passiert, als ich sie nach Hause geschickt hatte? War es passiert, als sie sich in Brikeena verliebt hatte? Sie war mir nie wie ein Mensch vorgekommen, der dermaßen irrational handelte. Vielleicht, weil sie vor Brikeena noch nie verliebt gewesen war. Wenn mir jemand vor einem Jahr erzählt hätte, dass es Mädchen gab, die dumm genug waren, um sich wegen eines Jungen mit einem Dämon zu verbinden, hätte ich den Kopf geschüttelte. Heute verstand ich. Wenn mir jemand, als ich Trish kennengelernt hatte, gesagt hätte, dass sie ihre Mutter mit einem Messer umbringen würde, hätte ich es nicht geglaubt. Heute verstand ich. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass Aidan nach meinem Selbstmord ein Drogen konsumierender Nuttenpreller werden würde, hätte ich diese Person ausgelacht. Heute verstand ich. Wenn mir jemand vor ein paar Monaten erzählt hätte, dass Chase einmal in ein Mädchen verliebt gewesen und mit ihm sogar eine Beziehung geführt hatte, hätte ich noch viel heftiger gelacht. Heute verstand ich.

Ich schätze, es gibt einfach Dinge in der Gefühlswelt eines Menschen, die sich nicht mit Logik und gesundem Menschenverstand erklären ließen.

„Von mir aus", sagte Trish schließlich und eine Welle der Erleichterung überschwemmte meinen Körper. Ich hatte meine beste Freundin doch noch nicht zur Gänze verloren. „Aber wenn ich euch helfe..." Ihr Blick fiel auf mich. „Wenn ich euch helfe, Brikeena zu hintergehen, nach allem, was sie für uns getan hat, kannst du unsere Freundschaft als gecancelt betrachten."

Mit verschränkten Armen drehte sie sich um und ging zurück auf ihr Zimmer, als hätte sie nicht gerade eben den Knopf für das Vakuumiergerät auf Turbo geschaltet.

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