61
Beverly
Sobald ich in der Bibliothek ankam, fiel mir wieder ein, wie sehr ich Bücher eigentlich hasste. Aber jetzt, da ich endlich hier war, wollte ich unbedingt das Buch finden, das Odilia laut Lorcan und Brikeena gelesen hatte. Das mit den super schweren Sprüchen und so. Lorcan hatte mir sogar einen Weg gezeigt, wie ich mit Imaginationsmagie Dinge finden konnte, die ich suchte. Nur fiel mir ein, dass ich momentan nicht wirklich auf meine Magie zugreifen konnte. Außerdem wusste ich nicht, wonach genau ich suchte, also war diese Methode ziemlich sinnlos.
Und die einzige Person, die ich auf dem Flur vor der Bibliothek entdeckte, war -wer hätte das gedacht?- Corona.
Kurz zog ich in Erwägung, einfach die nächste Person abzuwarten, die einen Spaziergang durchs Schloss machte. Aber sie kam geradewegs auf mich zu, weshalb ich davon ausging, dass sie ohnehin mit mir reden wollte.
„Geht es dir schon besser?", fragte sie, vermutlich einfach nur, um freundlich zu wirken.
„Äh... Ja, Arlen hat mir etwas gegeben, damit-"
„Gut, ich habe dir im Arbeitszimmer unseres Vaters alle Notizbücher bereitgelegt."
Ich nickte langsam. „Okay, danke... Aber um ehrlich zu sein, suche ich gerade nach etwas anderem." Mit dem Kopf nickte ich zum Eingang der Bibliothek. Sie verschränkte die Hände ineinander und schenkte mir einen aufmerksamen Blick.
„Ja?"
„Lorcan hat vor ein paar Monaten von einem Buch gesprochen, das Odilia vor vielen, vielen Monden in die Hände bekommen hat. Eines, mit Zaubern für übermäßig Fortgeschrittene, wenn ich das richtig verstanden habe."
Sie kniff die Augen zusammen. „Ja, ich weiß, von welchem Buch du sprichst. Und was willst du damit anfangen?" Ihr Tonfall ließ vermuten, dass ich nicht viel mit dem Buch anzufangen wissen würde. Sie nutzte wirklich jede Gelegenheit, mir unter die Nase zu reiben, dass ich eine Anfängerhexe war.
„Ich will nur wissen, welche Zauber sie beherrscht. Wie weitreichend ihre Magie ist." Je mehr ich über sie wusste, desto leichter würde es mir vielleicht fallen, sie einzuschätzen. Außerdem nagte die Tatsache, dass mir Odilia's Magie so unfassbar bekannt vorgekommen war, immer noch wie eine Ratte an mir. Nicht zu erwähnen, dass ich die Geschichte von Cillian und Odilia immer noch nicht so ganz auf die Reihe brachte. Odilia hätte beispielsweise bemerken müssen, dass Cillian ein Zauberer war. Ich hatte leider nicht die Gelegenheit gehabt, sie zu fragen, wie ihr das hätte entgehen können.
„Hey, Corona", begann ich, während sie die Bibliothek betrat, sich umsah und kurz darauf ein klapperndes Geräusch durch den Saal hallte. Unfassbar, dass eine so alte und mächtige Hexe wie sie denselben Trick zum Finden von Zeug verwendete, den Lorcan mir beigebracht hatte.
„Du musst dir den Gegenstand nur bildlich vorstellen. Weißt du, wie er sich anfühlt? Denke daran, dass du das Ding finden willst. Stelle dir vor, welche Geräusche es machen würde, wenn es dir seine Position verraten wollte." Ich hatte es einmal bei meinem schwarzen Kapuzenpulli versucht, den ich irgendwo in meinem Zimmer in Irland verlegt hatte und war fast zu Tode erschrocken, als aus meinem Kleiderschrank ein leises „Pssst" zu hören gewesen war. Ich hatte mir nur aus Spaß vorgestellt, dass mein Pulli mich mit einem „Pssst" zu sich locken würde. Lorcan und Brikeena hatten diese Geschichte köstlich gefunden.
„Angenommen eine Hexe weiß nicht, dass sie eine Hexe ist", fuhr ich fort und folgte Corona. „Sie hat nie gezaubert und höchstwahrscheinlich auch noch nie Kontakt zu Magie gehabt. Kann eine andere Hexe oder ein Zauberer trotzdem spüren oder erkennen, dass diese Person ein magisches Wesen ist?"
„Natürlich." Sie nickte sofort. „Wenn die Hexe oder der Zauberer keine absoluten Versager sind, sollten sie es erkennen."
Ich rollte mit den Augen und war froh, dass sie es nicht sehen konnte. „Davon gehen wir hier aus, ja."
„Jedes magische Wesen strahlt eine unverkennbare Energie aus. Du hast schließlich auch nie gezaubert und geleuchtet wie ein Christbaum, als Arthur dich gefunden hat." Gutes Argument. Also warum hatte Odilia nicht gemerkt, dass Cillian ein Zauberer war? Und war es nicht ein praktischer Zufall, dass seine Kinder keine Hexen oder Zauberer waren und somit von meiner Familie umgebracht werden konnten?
„Da ist es ja." Corona bog nach links zwischen zwei Regalreihen ein, wo ein Buch auf dem siebten Brett zwischen den anderen zitterte und darauf wartete, herausgenommen zu werden.
Wieder fiel mir auf, wie langweilig Corona die Suche nach diesem Gegenstand gemacht hatte. Sie hätte dieses Buch jedes Geräusch von sich geben lassen können. Aber das passierte vermutlich, wenn man von Iona und Theodoric von klein auf darauf trainiert wurde, eine ernstzunehmende Königin zu werden.
„Hier." Sie zog es aus dem Regal und hielt mir das dicke, schwarze Buch hin. „Odilia hat in jeder freien Minute in dem Ding gelesen, bis Alfric es ihr verboten hat."
„Ihr Mann?"
Sie nickte. „Das hat sie jedoch nicht lange abgehalten."
Ich betrachtete den abgegriffenen schwarzen Einband und fühlte einen Schauer durch meine Wirbelsäule kriechen.
„Falls du etwas brauchst, ich bin unten im Thronsaal, es gibt einiges zu besprechen."
Ich nickte flüchtig. „Ja... danke."
Sie ging an mir vorbei. „Und, Maeve?" Ich schloss angestrengt die Augen und unterdrückte den Zwang zu seufzen.
Beverly. Was ist so schwer daran? Be-ver-ly.
„Ja?" Ich drehte mich zu ihr. Zum ersten Mal bemerkte ich in ihrem Blick einen Anflug von Sorge.
„Ruh dich aus. Du siehst furchtbar aus."
Die Sorge in ihren Augen war genauso schnell verschwunden wie sie.
~~ ~~
Als ich meine Augen wieder öffnete stand Cillian vor mir und ich schrie erschrocken auf. In meiner Hektik ruderte ich wild mit den Armen, fiel auf den Boden und robbte panisch nach hinten, bis ich schmerzhaft gegen eine Wand stieß und Bücher laut wie Bomben auf den Boden plumpsten. Wieder schrie ich auf.
„Hey, hey, hey!"
Erschrocken sah ich hoch.
Cash sah mich mit erhobenen Händen und großen Augen an. „Ganz ruhig! Ich bin's nur."
Ich atmete schwer und strich mit eine Strähne aus dem Gesicht. Nur langsam sickerte die Tatsache durch, dass ein Teenager vor mir stand und nicht Cillian.
„Entschuldige, ich war nur..." Meine Stimme zitterte und ich wusste nicht einmal, was ich hatte sagen wollen. Cash hielt mir vorsichtig die Hand hin und nach ein paar Sekunden ergriff ich sie.
„Ich wollte dich nicht erschrecken." Mit einem kräftigen Ruck zog er mich auf die Beine.
Ich hob das Buch auf, in dem ich gelesen hatte und versuchte mich erst wieder zu orientieren. Auf dem bequemen Sessel vor dem Fenster umgeben von hohen Büchern und endloser Stille war ich wohl eingenickt. Lang konnte es jedoch nicht gewesen sein, denn draußen war es noch hell, vermutlich erst kurz nach eins oder zwei.
Der Schreck saß mir immer noch heftig in den Knochen und ich ließ mich wieder in den Stuhl sinken, um meinen Puddingbeinen eine Auszeit zu gönnen. Cash ging nicht. Er hob die herausgefallenen Bücher auf und schob sie an ihren ursprünglichen Platz zurück. Unruhig fixierte ich ihn mit wachsamen Blick.
„Was machst du hier?"
Er zuckte mit den Schultern. „Wollte nach ein paar coolen, neuen Zaubern graben. Du weißt schon. Irgendwas, womit ich Brikeena in einen Frosch verwandeln kann." Ihr Name brachte mein Herz zum Stolpern. „Die Frau geht mir wirklich gehörig auf die Nerven mit ihrer Überfürsorglichkeit für Misoa."
Ich schluckte. „Sie... will sie nur beschützen. Sie ist alles, was sie noch von ihrer Tochter hat. Schätze ich." Moment, hör auf, sie in Schutz zu nehmen. Sie hat wahrscheinlich versucht, dich umzubringen.
„Kann schon sein, aber es ist nervig." Er lehnte sich gegen eines der Regale, betrachtete mich und steckte die Hände in die Hosentaschen. Ich fand, dass er mit seinen roten Haaren wie ein richtiger Ire aussah. „Und wie schlägst du dich so?"
„Großartig", nickte ich und war mir nicht sicher, ob er dabei gewesen war, als ich Brikeena des Verrats bezichtigt hatte, aber wenn nicht, hatte er mittlerweile bestimmt davon gehört. Ich rieb mir übers Gesicht und die Augen. Dieses kurze Nickerchen hatte mich lediglich müder gemacht.
„Ernsthaft, was machst du hier? In Schottland, meine ich."
„Es sind fast alle hier, seit du zurück bist. Noch nicht bemerkt?"
„Das Familienzusammenführungsessen war noch nicht", erwiderte ich.
Er schmunzelte. „Ich schätze, sie wollen jetzt doppelte Hexenpower oder so, um sicher zu stellen, dass dir keiner was anhaben kann." Mit der Verräterin in den eigenen Reihen. Toller Plan. „Kann ich dich was fragen?" Er legte den Kopf schräg.
„Natürlich."
„Gab es dort Ketten, die von den Kerkerwänden gehangen haben?" Seine Augen glänzten beinahe freudig, als hätte er den mysteriösen Ort, an dem ich festgehalten worden war, gerne mit eigenen Augen gesehen. „So Eisenketten? Und Gitterstäbe und Holzpfähle?"
Obwohl mir überhaupt nicht nach Lachen zu Mute war, tat ich es trotzdem. Es war kein bisschen lustig, und wenn ich daran dachte, wie viele Menschen hinter Gittern eingesperrt gewesen waren -wie viele Menschen ich zurückgelassen hatte, um meinen Arsch zu retten- drehte sich mir der Magen um. „Die Gitterstäbe gab es, ja."
„Cool", grinste er. Vielleicht hätte es mich beunruhigen sollen, aber er wurde sofort wieder ernst. „Tut mir leid, ich war nur neugierig, wie es dort war."
„Kalt", erwiderte ich. „Und dunkel. Keine Fenster. Ähm..." Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mich an meine Zelle zu erinnern. „Kein Bett, soweit ich mich erinnern kann." Ich war ziemlich in meiner Panik gefangen gewesen. „Ein Eimer. Ich kann mich nicht daran erinnern, etwas zu essen bekommen zu haben. Aber Cillian war sehr gastfreundlich und hat mir Wasser angeboten."
„Okay, jetzt machst du dich über mich lustig", lachte er.
„Nein, ehrlich."
„Ohne Scheiß?" Cash sah vermutlich genauso verwirrt aus, wie ich, als Cillian mir das Wasser vor die Nase gestellt hatte. „Du hast echt mit ihm geredet, oder? Wie war er?" Neugierde glitzerte in seinen Augen.
„Äh... ruhig? Aber... trotzdem einschüchternd, irgendwie. Macht das Sinn?"
Er nickte kräftig. „Meine Mom hat ihn einmal gesehen."
Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ivera?"
„Ja, sie war damals mit Brikeena auf der Mission."
„Auf der Brikeena entführt wurde?"
Er nickte wieder. „Da hat sie die Narbe her." Er zeigte mit dem Finger auf eine Stelle über seiner linken Augenbraue. „Manche Zauber hinterlassen sichtbare Wunden, die keine Magie der Welt verbergen kann."
„Aha..." Seine Worte irritierten mich ein wenig. „Ich dachte nur... Ich dachte, dass Cillian gar nicht... dort war."
Cash zuckte mit den Schultern, drehte sich zu den Büchern und beäugte ein paar Titel. „Das ist, was Mom mir erzählt hat. Sie war damals erst neunzehn. Sie hat gesagt, dass sie ihn dort gesehen hat."
„Und woher wusste sie, wie er aussieht?", hakte ich nach. Wieder zuckte er mit den Schultern.
„Viele aus unserer Familie wissen das. Sie haben ihn schließlich Jahre lang verfolgt und seine Familie getötet. Ich schätze, Iona hat ihn gemalt oder so, damit jeder weiß, wie er aussieht."
Ich nickte. Das ergab Sinn. Ich wollte Cash eben fragen, ob Ivera auch hier war, aber dann fiel mir sein betretener, abwesender Blick auf. Ich kannte diesen Blick. Nur war ich mir nicht sicher, ob ich wissen wollte, was genau hinter ihm steckte. Unruhig zupfte ich an meinem Ärmel herum.
„Hey...", meinte ich so einfühlsam wie möglich. Er sah auf, als hätte ich ihn eben aus beunruhigenden Gedanken gerissen. „Dich beschäftigt doch was, oder?"
Er ließ seinen Blick durch den übrigen Teil der Bibliothek schweifen, den er eben von seiner Position aus beobachten konnte. „Hast du das ernst gemeint? Dass du Brikeena dort gesehen hast?"
„Gehört", stellte ich richtig. Das letzte, was ich gebrauchen konnte, waren ein Haufen Unwahrheiten, die ich nie behauptet hatte. „Und ja. Ich bin mir sicher... Aber... naja, die Beweise stehen für sich, schätze ich. Sie hat die Insel nicht verlassen." Außerdem hielten die Hexen und Zauberer geschlossen zu ihr.
„Naja, ich..." Er begann nachdenklich auf seiner Unterlippe herumzubeißen und trat von einem Fuß auf den anderen. „Ich mag Brikeena nicht unbedingt. Sie ist nicht meine Lieblingstante. Aber ich will sie nicht beschuldigen, okay?"
„Was meinst du?" Ich lehnte mich ein Stück weiter vor.
„Solltest du sie wirklich dort gehört haben, dann weiß ich vielleicht, wie sie aus dem Schloss kommen konnte, ohne dass jemand etwas davon bemerkt hat."
Mir stockte der Atem. Erlaubte Cash sich einen Spaß? Nein, seine Miene war todernst. Mein Herz begann zu rasen und das Blut rauschte in meinen Ohren.
„Ach ja?"
„Die Theorie ist ziemlich weit hergeholt, aber... Misoa hat mir da vor einiger Zeit was erzählt."
„Okay?" Ich saß bereits an der äußersten Kante des Stuhls.
„Unter diesem Schloss gibt es eine Art Katakomben", begann er. „Die hat angeblich Theodoric errichtet, als er sehr jung war. Dort unten hat er einen Ataria gebaut, der dich überall auf die ganze Welt und wieder zurück bringen kann, wenn man den Zauber weiß. Es sollte eine Art Sicherheitsvorkehrung sein, falls doch einmal Eindringlinge das Schloss betreten und seine Familie bedrohen sollten. Geheime Fluchtmöglichkeit, du verstehst. Und anscheinend weiß niemand von diesem Ataria. Daher weiß auch Corona und auch sonst niemand, wenn er benutzt wird."
„Aber jemand muss davon wissen", meinte ich und ging davon aus, dass er seine Theorie gleich weiterführen würde. Wie erwartet nickte er.
„Misoa weiß es von Brikeena. Und warum hätte Theodoric ausgerechnet Brikeena von diesem Portal erzählen sollen?"
„Worauf willst du hinaus?"
„Dass Odilia mit Abstand sein Lieblingskind war, obwohl sie nicht seine leibliche Tochter war. Er hat viel Zeit mit ihr verbracht, zumindest sagen das immer alle."
Ich blinzelte ihn an. „Du willst damit sagen, dass Theodoric Odilia von dem Portal erzählt hat und Odilia Brikeena, damit sie die Insel verlassen und betreten kann, wann immer sie will?"
„Ich weiß, es ist ziemlich weit her geholt." Er senkte den Blick. „Und ich glaube auch nicht, dass Brikeena es war... Ganz ehrlich. Ich sage nur, sie hätte die Möglichkeiten gehabt, die Insel unbemerkt zu verlassen. Das beweist also nicht ihre Unschuld."
Ja, auf den ersten Blick schien es verrückt, aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Theodoric hatte laut Iona's eigener Aussage mit Odilia am meisten Zeit verbracht und ihr Dinge beigebracht, die er sonst niemandem beigebracht hat. Wie abwegig war es, dass er ihr von seinem geheimen Ataria erzählt hatte?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top