60

Aidan

Nachdem Trish und Brikeena gegangen waren, hatten Chase und Addie ganz unauffällig eine Ausrede vorgeschoben, um mich mit Beverly alleine zu lassen. Sie wollten Brikeena's Rat folgen und Arlen nach etwas fragen, das die Wirkung der giftigen, Zauber-blockierenden Mischung lindern würde. Hoffentlich würden sie ihn auch nach irgendeinem Schlaf- oder Beruhigungsmittel fragen, denn so wie Beverly im Augenblick drauf war, würde sie kein Auge zu tun. Drei Mal hatten wir ihr gesagt, sie solle sich hinlegen und ausruhen, aber sie hatte jedes Mal gefragt, wie wir auch nur auf den Gedanken kämen, sie könne in diesem Schloss unter diesen Umständen Schlaf finden.

Jetzt waren wir alleine, Beverly stand mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt da, starrte hinaus und drückte sich den Daumennagel nacheinander in jede Fingerkuppe.

„Wenn du mir schon nicht sagen willst, was passiert ist, dann setz dich zumindest hin", bat ich. „Ich kann dir was zu essen bringen."

„Ich habe keinen Hunger."

„Dann zu trinken."

„Keinen Durst."

„Du wirst noch umkippen", mahnte ich, aber ich bekam nicht einmal ein Schulterzucken. Ich hatte sie noch nie so kaputt erlebt. So sehr in stiller Verzweiflung gefangen und es zerriss mich, weil sie mich nicht helfen ließ. So hatte sie sich noch nie verhalten. Es hatte lange gedauert, über die hohen Mauern zu klettern, die sie über die Jahre aufgebaut hatte, aber als ich es endlich geschafft hatte, hätte ich nicht gedacht, dass sie mich je wieder würde aussperren können.

Empathie, erinnerte ich mich selbst. Wie würde es dir an ihrer Stelle gehen?

Ich kam schnell zu dem Schluss, dass ich diese Frage nicht beantworten konnte, weil sie mir nicht sagen wollte, was sie erlebt hatte. Hatten sie ihr wirklich nicht wehgetan, oder wollte sie einfach nicht darüber reden? Im Großen und Ganzen sah sie jedoch recht unversehrt aus. Das wiederum machte es mich so unfassbar schwer, ihre traumatisierte Schockreaktion nachvollziehen zu können. Was hatte sie von Cillian und Odilia erfahren, dass sie jetzt so dermaßen neben der Spur war? Obwohl sie in einem Stück zurückgekommen war, mussten dort schlimmes Dinge passiert sein.

„Bev..." Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Du musst mir sagen, was passiert ist. Bitte. Ich will dir doch nur helfen. Wir wollen dir alle helfen, warum willst du das nicht zulassen?"

Manchmal glaubte ich, dass Beverly einfach zu lange alleine gewesen war. Dass sie die Dinge zu lange mit sich selbst ausgemacht hatte und nun glaubte, durch die schlimmsten Momente ihres Lebens auch besser alleine durchzukommen. Dass sie dachte, niemanden zu brauchen.

„Bitte, rede mit mir."

Sie reagierte nicht und ich war versucht, auf die Schuldschiene zu springen, aber das hatte sie nicht verdient. Eine Weile stand ich noch da und betrachtete ihren Rücken, aber dann beschloss ich, dass es zwecklos war.

„Na, schön", gab ich mich geschlagen. „Ich gehe. Ich... lass dich in Ruhe. Falls du was brauchst, du weißt, wo du mich findest."

Genau in dem Moment, in dem ich die Türe öffnen wollte, schluchzte sie auf und ich erstarrte in meiner Bewegung.

„Sie hat gesagt, dass sie dich umgebracht hat."

Ich drehte mich zu ihr. Sie hatte sich umgedreht und sah mich an, als hätte man sie mit einer Peitsche geschlagen.

„Wer?" Ich entfernte mich von der Türe.

„Odilia." Sie schluckte schwer und die Tränen rannten über ihr verzweifeltes Gesicht. „Sie hat mich vor die Wahl gestellt. Gara, meine Schwester, die sie dort schon seit Gott-weiß-wie-lange festhalten, oder du." Sie schüttelte den Kopf. „Ich konnte ihr nicht sagen, dass sie Gara töten soll, das konnte ich nicht. Und dann ist Odilia rausgegangen und hat mich mit Cillian alleine gelassen und wir haben geredet und dann kam sie zurück und hat gesagt..." Ihre letzten Worte gingen in ihren Schluchzern unter und sie presste sich die Hand auf den Mund. „Ich dachte, du wärst tot!"

Noch bevor sie diesen Satz zu Ende gesprochen hatte, war ich bei ihr und hatte sie in meine Arme geschlossen. Diesmal hielt sie sich an mir fest, als wolle sie sicherstellen, dass ich keine bloße Halluzination war.

Ich wusste zu gut, wie sie sich fühlte. Das Emotionschaos, das man erlebt, wenn man erfährt, dass jemand gestorben ist, den man liebt, ist unbeschreiblich. Und noch viel unbegreiflicher ist es, wenn diese Person doch noch am Leben ist. Verwirrend beschreibt es nicht einmal ansatzweise.

„Sie war nicht in meiner Nähe", versprach ich. „Ich bin nicht tot, okay? Mir geht es gut. Und ich gehe nicht weg, versprochen."

Ich hab keine Ahnung, wie lange wir vor dem Fenster standen und sie an meiner Brust weinte, bis keine Tränen mehr übrig waren. Dabei war der Tag so schön. Die Sonne schien und nichts ließ darauf schließen, dass wir uns in dem größten Dilemma überhaupt befanden.

Aber eine Sache beschloss ich hier und jetzt: Ich würde Beverly bei ihrer Entscheidung unterstützen, egal, ob sie ihrer Familie helfen oder sich aus der Sache raushalten wollte.

„Ich weiß, dass ich Brikeena dort gehört habe..."

Gut, vielleicht würde ich sie nicht bei allem unterstützen.

Ich seufzte und drückte sie von mir, um ihr in die Augen sehen zu können. „Bev, ich... Hör zu. Du warst einer enormen Stresssituation ausgesetzt. Richtig?"

Sie nickte zaghaft. „Ja, aber ich-"

„Lass mich ausreden", bat ich sanft. Ihre geröteten, glasigen Augen blieben einen Moment an meinen Lippen hängen und brachten mein Herz zum Stolpern. „Du dachtest, ich sei tot. Richtig?"

Wieder nickte sie.

„Du wurdest von zwei Wahnsinnigen festgehalten und wusstest nicht, was passiert."

Nicken.

„Und es wäre alles ein bisschen leichter, wenn wir wüssten, wer der Verräter ist. Hab ich recht?"

Sie senkte den Blick.

„Ich will damit überhaupt nicht sagen, dass du verrückt bist. Das würde ich nie tun. Aber dein Gehirn hat sich in diesem Augenblick vielleicht... etwas zusammengesponnen, um alles ein bisschen leichter zu machen."

Sie schniefte und sah wieder auf. „Und du denkst, dass mir von allen Stimmen, die ich mit der, die ich gehört habe, in Verbindung hätte bringen können, ausgerechnet Brikeena's in den Kopf geschossen ist? Ich mag sie! Verdammt, sie hat mir unfassbar weitergeholfen. In jeglicher Hinsicht. Ich hab ihr vertraut."

„Warum verdächtigst du sie dann?"

„Weil ich mir immer mehr vertrauen werde."

Die Sicherheit in ihrer Stimme überraschte mich. Noch nie hatte ich sie sagen hören, dass sie sich selbst vertraute. Dass sie sich selbst am meisten vertraute. Anscheinend hatte sie in den letzten Monaten eine Beverly entdeckt, die davor versteckt geblieben war.

Ich mochte ihr neugewonnenes Selbstvertrauen. Aber Brikeena zu beschuldigen war einfach nicht richtig.

Meine Finger wanderten an ihre Wange und sie legte ihren Kopf in meine Hand.

„Ich hab dich vermisst", murmelte ich. Sie schloss die Augen und legte ihre Hände auf meine Hüften, um mich näher zu sich zu ziehen.

„Ich dich auch. Du ahnst ja gar nicht, wie sehr."

„Warum hast du mich dann weggeschickt?" Beinahe wäre meine Stimme gebrochen. „Warum hast du... warum hast du es einfach so beendet?" Sie öffnete wieder die Augen, legte eine Hand auf meinen Unterarm und zog meine Hand von ihrer Wange.

„Weil ich dich beschützen wollte."

„Gut, aber jetzt bin ich hier."

„Das ändert nichts", flüsterte sie, als hätte sie Angst, die Worte lauter auszusprechen. Als hätte eine leise, sanfte Stimme sie weniger schmerzhaft gemacht.

„Woran?"

„Daran. An... allem, was hier los ist. Ich kann nicht-" Sie brach ab und fixierte einen Punkt hinter meiner Schulter. „Ich kann mich momentan nicht mit uns beiden beschäftigen. Jede Sekunde kann ich nur daran denken, was wohl als nächstes passieren wird. Wie der nächste Schritt aussieht. Wie ich euch und mich beschützen kann. Für alles anderes ist momentan einfach kein Platz."

Ihr trauriger Blick war wie ein Messer, das bei jedem Blinzeln tief in mein Herz stach. Aber viel schlimmer war das tonnenschwere Gewicht, dass sie nach unten drückte und so erschöpft wirken ließ, als würde sie jede Sekunde aufgeben.

„Du brauchst mich", erwiderte ich, ohne dass mein Gehirn meinem Mund das Okay gegeben hätte.

„Ich brauche dich auch", nickte sie. „Lebend. Mit dem Wissen, dass es dir gut geht und du nicht vor Fronten gerätst. Ich kann dich nur beschützen, wenn ich einen klaren Kopf behalten kann."

„Beverly-"

„Es funktioniert nicht", sagte sie schnell und schaffte es nicht, mir in die Augen zu sehen. Stattdessen brachte sich eine gute Armlänge Anstand zwischen uns. „Das zwischen uns beiden funktioniert nicht. Nicht im Augenblick. Also bitte..." Ihre Stimme wurde rauer und mir schossen wie aufs Stichwort die Tränen in die Augen. „Bitte mach es mir jetzt nicht schwerer als es ist. Ich hab mit dir Schluss gemacht und es war eine gute Entscheidung."

Ich schätze, wir hatten verschiedene Auffassungen von guten Entscheidungen.

„Ich habe mich aufs Zaubern konzentrieren können und hatte nicht ständig die Angst, dass euch jemand etwas antut."

„Und das hat sich jetzt geändert?", hakte ich nach.

„Nein. Aber wenn ich neben dem ganzen Hexenkram auch noch daran denken muss, ob wir beide glücklich bis an unser Lebensende zusammen sein werden, dann..." Sie schüttelte den Kopf. „Verliere ich den Verstand. Ich will einfach im Augenblick nicht mit dir zusammen sein. Nicht, weil ich dich nicht liebe, sondern weil ich Angst habe, dass ich dir in einer Beziehung im Augenblick nicht geben kann, was ich dir geben möchte. Dass ich dir nicht geben kann, was du verdienst. Beziehungen setzen Erwartungen voraus, die ich nicht erfüllen kann." Sie seufzte tief. „Es ist für mich leichter, zu akzeptieren, dass..."

„Es mit uns endgültig vorbei ist?", hakte ich verwirrt nach. „Mit der Eventualität, dass du wieder eine Beziehung führen möchtest, wenn all das vorbei ist?" War das nur ich, oder widersprachen sich die beiden Dinge?

Sie legte sich verzweifelt eine Hand an die Stirn. „Ich weiß es nicht, Aidan, ich weiß es nicht. Ich liebe dich. Okay? Ich liebe dich, mehr als ich jemals dachte, einen Menschen lieben zu können. Ich kann nur nicht rational denken, wenn... Wenn ich an uns denken muss. Verstehst du? Also... eliminiere ich diesen Faktor einfach, und verschiebe ihn auf eine Zeit, in der er wieder Platz hat."

„Und du willst mich so lange warten lassen?"

Sie sah mich lange an und schüttelte den Kopf. „Nein. Deswegen habe ich die Sache zwischen uns beendet. Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für uns. Vielleicht wird er in ein paar Wochen oder Monaten oder erst in ein paar Jahren kommen. Oder womöglich nie. Vielleicht haben wir unser perfektes, kleines Zeitfenster, in der unsere Beziehung möglich gewesen wäre, verpasst." Sie dachte an die Zeit, in der ich gedacht hatte, dass sie tot war, obwohl sie in Bakersfield gelebt hatte. „Vielleicht haben wir unsere Zeit schon... ausgeschöpft. Ich weiß es nicht, aber... Ich will dir nicht die Möglichkeit nehmen, mit..." Sie schluckte und brach wieder den Blickkontakt ab. „Mit einem anderen Mädchen glücklich zu werden."

Wie lange würde es wohl noch dauern, bis sie begreifen würde, dass sie das einzige Mädchen war, das mich glücklich machte? Aber ich verstand, worauf sie hinaus wollte, und dass sie keine Energie für eine Beziehung aufbringen konnte. Nicht jetzt. Nicht auf Dauer. Nicht so, wie sie es gerne würde.

„Ich liebe dich, Bev." Schnell nahm ich ihr Gesicht in meine Hände und küsste sie, weil ich keine Ahnung hatte, ob sie mir je wieder die Chance dazu geben würde. Aber sie legte ihre Hände in meinen Nacken und küsste mich zurück, was meine Vermutung bestätigte, dass sie dasselbe dachte. Sie roch so vertraut und anziehend. Noch bevor ich meinem Instinkt mit Verstand entgegenwirken konnte, schob ich sie zurück gegen die Steinwand. Sie keuchte überrascht auf, aber noch im selben Augenblick hatte sie die Hände unter mein Shirt geschoben.

Verdammt. Ich hatte mich in den letzten Wochen so sehr mit anderen Dingen abgelenkt, dass ich völlig vergessen hatte, wie sehr mir ihre Nähe gefehlt hatte. Wie sehr ihre Berührungen meine Haut zum Kribbeln brachten. Ich hatte schon beinahe geglaubt, diese Art der Nähe nicht annähernd so sehr zu brauchen, wie ich immer geglaubt hatte.

Gott, hatte ich falsch gelegen!

Drei lange Monate hatten uns voneinander getrennt, dennoch war es, als hätten wir einander erst gestern in den Armen gelegen.

Sie drückte ihre Zunge so gierig in meinen Mund, dass ich tatsächlich für einen Moment glaubte, sie hätte einfach nur Hunger. Ich spürte ihre Hände an meinem Gürtel und drückte meine Lippen gegen ihren Hals und meine Hände umschlossen ihre zierliche Taille.

Ihr aufgeregter Atem kitzelte mein Ohr und ich war mehr als bereit die wenigen Schritte zum Bett zu stolpern und-

„Okay, hier ist, was wir von Arlen bekommen- Igitt!"

Beverly und ich sprangen wie vom Blitz getroffen auseinander, als wir Chase' Stimme hörten.

Er und Addie standen in der Zimmertüre und während Addie diskret so tat, als hätte sie nichts gesehen, und ein kleines Glasfläschchen höchst interessiert inspizierte, verzog Chase ungeniert das Gesicht.

„Himmel...", murmelte er. „Ihr solltet reden."

Beverly räusperte sich und strich sich die Haare nach hinten, während ich das hochgerutschte Shirt zurecht zog.

„Was habt ihr denn von Arlen bekommen?", fragte ich dann und versuchte nicht allzu atemlos zu klingen.

„Scheiß auf das, was wir bekommen haben! Was wir nicht bekommen haben sind ein paar Augenbinden, um uns diesen Anblick zu ersparen", gab er zurück.

Addie schlug ihm auf die Schulter. „Im Grunde genommen brauchst du gar nicht zu reden. Ist schließlich eine Seltenheit, wenn sich dein Schwanz mal in deiner Hose anstatt in einer Frau befindet."

Er schmunzelte stolz und Addie wandte sich an Beverly und mich und hielt zwei kleine Glasfläschchen hoch.

„Das hier soll die Wirkung des Gifts schneller aufheben", erklärte sie und hielt das schmale Glasgefäß mit einer klaren Flüssigkeit hoch. „Und das Hellblaue hier soll dich zum Schlafen bringen."

Beverly zog die Augenbrauen zusammen. „Zum Schlafen? Mir geht es gut. Ich muss nicht schlafen. Wirklich nicht."

Addie legte den Kopf schräg. „Sei kein Sturschädel. Wann hast du zum letzten Mal geschlafen?"

Beverly ging auf meine Schwester zu, nahm ihr das Fläschchen mit der klaren Flüssigkeit aus der Hand, nahm die Kappe ab und roch misstrauisch daran.

„Ich schätze, da Arlen mir schon einmal das Leben gerettet hat...", murmelte sie und stürzte den Inhalt hinunter, bevor Addie den Satz: „Du solltest es mit Wasser trinken", beenden konnte.

Dann drückte sie das leere Fläschchen wieder in Addie's Hand. „Ich muss noch was erledigen. Falls ihr mich braucht, ich bin in der Bibliothek."

„Beverly!", riefen wir fast alle gleichzeitig irritiert aus, aber sie marschierte bereits aus dem Zimmer. 

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