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Aidan
Es sah ziemlich lustig aus, als Beverly einen Schritt nach vorne machte, zusammenzuckte und dann mit offenem Mund stehen blieb und ihren Blick durch die Luft gleiten ließ, während sie staunende Laute von sich gab, als wäre sie ein Kleinkind in Disneyland.
Trish zupfte an meinem Ärmel. „Sie hat nicht den Verstand verloren, oder?", flüsterte sie.
„Du hast es doch gehört. Schutzzauber."
„Schon, es fällt mir nur schwer, zu glauben, dass es sowas geben soll. Dass etwas Unsichtbares ein ganzes Gebäude verschwinden lassen kann. Vielleicht hat er sie verhext?"
„Du findest das seltsam?", fragte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Was soll ich denn dann erst sagen?"
Ich war mit dem ganzen Magiekram noch viel weniger vertraut als sie. Sie war immerhin seit Jahren an einen Dämon gebunden. Gut, ich war ein Hybrid und einmal hatten meine Augen sogar silber geleuchtet, aber mit Magie hatte ich trotzdem nicht sonderlich viel am Hut.
„Kommt schon", murrte Chase. „Bringen wir es hinter uns."
Aber selbst er konnte seine mürrische Haltung nicht beibehalten, als das Gebäude plötzlich aus dem Nichts auftauchte. In der einen Sekunde war da nichts als Landschaft gewesen, und im nächsten stand es vor uns. Ein verdammtes Riesenschloss.
Ich hatte noch nie Burgen oder Schlösser im realen Leben gesehen. Als Kind hatte ich meine Mittelalterphase gehabt und meine Eltern hatten mir alle möglichen Bilderbücher kaufen müssen. Kinderserien über Ritter und Könige hatten es mir besonders angetan. Diese Mittelalterphase war irgendwann von Pokémon abgelöst worden.
Doch kein Buch und kein Film der Welt hätte mich auf diesen durchaus beängstigenden Moment vorbereiten können. Schließlich war das nicht irgendein monströses Steingebäude mit hohen Türmen, unzähligen Fenstern und Irrgarten -zumindest kam es mir wie ein Irrgarten vor. Nein, es war das verdammt beeindruckende Zuhause von mehreren Hexen und Zauberern.
„Wenn Addie das sehen könnte", meinte Trish schwach und konnte sich kaum von dem Anblick lösen. Ich nickte. „Glaubst du, das Ding ist mit einer Art... Attraktionszauber belegt, damit ich es extra atemberaubend finde?"
„Nein, das ist echt!", rief Arthur ihr zu und steuerte unbeirrt weiter auf... naja... sein Zuhause zu.
„Und hier bist du wirklich aufgewachsen?", hakte Beverly nach und ging ihm hinterher. „Wow, und ich dachte, ich bin reich..."
„Ab und zu war ich in Irland, aber hier war ich immer liebe", meinte er.
Dadurch, dass wir noch ziemlich weit von dem Schloss entfernt waren, wirkte es umso einschüchternder, je näher wir ihm kamen. Ich war mir sicher, dass ich mich hier eine lange Zeit nicht zurechtfinden würde. Gleichzeitig fragte ich mich, wie lange ich mich hier wohl würde zurechtfinden müssen.
„Gibt's zu dem Schloss auch eine Geschichte?", fragte Beverly neugierig. Ich hatte sie seit einigen Wochen nicht mehr so aufgeregt gesehen. Die meiste Zeit hatte sie abwesend vor sich hin gestarrt, und das hatte nicht nur an den Fieberträumen gelegen. Es mag dumm klingen, aber ich hatte das Gefühl, dass sie zum ersten Mal seit Wochen wieder ein echtes Ziel vor Augen hatte, und endlich vorankam. Das wäre in Irland vielleicht nicht der Fall gewesen, daher war ich froh, dass sie sich stur für Schottland entschieden hatte.
„Nicht wirklich. Fraser Galbraith, der erste aus unserer Linie, wollte nicht unter Menschen leben. Er hat sie als unwürdig angesehen und höchstens als Angestellte und Sklaven geduldet."
„Wie lange hat es gedauert, dieses Schloss zu bauen?"
„Etwa ein Jahrhundert? Der Bau war nie wirklich vollendet. Selbst unser Vater hat manches noch ändern lassen."
„Mit Magie."
Arthur schüttelte den Kopf. „Wir verwenden Magie wahrscheinlich seltener, als du vermutest."
„Du weißt nicht, was ich vermute", erwiderte Beverly, aber ich wusste es. Sie hatte, als sie krank gewesen war, viel übers Hexen nachgedacht.
„Wo ist der Sinn im Leben, wenn man zaubern kann? Dann kriegt man doch alles, was man will, oder nicht?", hatte sie gemeint. Aber mir kam langsam der Verdacht, dass hexen ein bisschen komplexer war, als eine Leuchtkugel nach einem Feind zu schießen, oder seinen Zauberstab ein paar Mal zu schwingen, um dem Troll auf der Mädchentoilette eins mit seiner Keule überzubraten.
Aber natürlich konnte ich mich auch täuschen. Wäre nicht das erste Mal gewesen.
„Was hat es eigentlich mit diesem Königskram auf sich?", fragte Beverly und verwirrte damit nicht nur mich.
„Was meinst du?", fragte Arthur.
„Naja. Insel der Königin. Insel des Königs. Was soll das?"
Jetzt nickte er verstehend. „Das kann dich unmöglich überraschen. Vor ein paar hundert Jahren gab es sowas wie Präsidenten nicht. Da gab es Könige und Königinnen. Kaiser und Kaiserinnen. Und das hat sich in der Hexengesellschaft bis heute gehalten."
„Wozu?"
„Denkst du, in unserer Welt geht es ohne Regeln? Ohne jemanden, der die einzelnen Länder führt, in denen wir leben?"
Beverly zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, es gibt nicht mehr so viele Hexen und Zauberer."
„Früher waren es mehr, natürlich, aber es gibt immer noch genug. Du darfst nicht vergessen, dass viele Menschen nicht wissen, dass sie eigentlich zu uns gehören. Wir suchen diese Menschen und versuchen, sie in unsere Gesellschaft miteinzubinden." Das wusste ich. Das hatte Chase Beverly einmal erklärt und sie hatte es mir erzählt. Dass Kinder ohne magische Begabung vor vielen Jahrhundertern aus den Hexenkreisen ausgeschlossen worden waren, das Hexengen jedoch sehr wohl weitervererben konnten. Unheimliche Vorstellung, dass jeder, den ich kannte, vielleicht zaubern konnte, ohne es zu wissen.
„Moment, verstehe ich das richtig, dass unsere Mutter sowas wie... eine... Königin sein soll?" Ich merkte ihr an, wie lächerlich sie sich dabei vorkam, diese Worte auszusprechen, aber Arthur nickte bloß. „Dann bin ich eine Prinzessin." Sie drehte sich zu uns. „Also, als ich ein Kind war, haben Prinzessinnen goldene Krönchen und rosa Kleider getragen." Sie deutete auf ihren Regenmantel und die matschverschmierten Schuhe. „Was ist nur aus der Welt geworden?"
„Willst du denn goldene Kronen und rosa Kleider tragen?", hakte Chase nach.
„Eher sterbe ich", erwiderte sie.
Arthur schnaubte. „Keine Sorge. Du bist zwar theoretisch eine rechtmäßige Erbin, aber bevor du auf den Thron kommst, stirbst du. Du hast nämlich genug Geschwister, Neffen und Nichten, die dir den Job abnehmen. Und Corona ist in ihrer Position schon richtig. Du hast eine ganz anderer Aufgabe zu erledigen."
Es war nicht zu übersehen, dass sich ihre ganze Körperhaltung anspannte. Sie dachte wieder an ihren Fiebertraum, der vielleicht keiner gewesen war, doch sie fragte nicht weiter, was sie denn eigentlich zu tun hatte.
Ich fragte mich, wie lange sie das Unvermeidliche wohl noch hinausziehen wollte.
Mittlerweile waren wir in dem Garten mit den hohen Hecken und den Statuen aus Stein angekommen. An der Stelle wünschte ich, dass ich von etwas Coolem berichten könnte, wie: Die Statuen haben angefangen sich zu bewegen und mir einen guten Tag gewünscht. Aber nein, es waren völlig normale Statuen und ich hatte auch nicht das Gefühl, als verfolgten mich ihre Blicke. Dafür konnte ich von dem massiven Gebäude kaum noch etwas sehen, weil es sich selbst zu verdecken schien, als wir die Steinstufen zu dem gewaltigen Tor hinaufstiegen und unsere Koffer wie Touristen hinter uns herzogen. Warum gab es nicht sowas wie einen Transportzauber für Gepäck? Ich kam mir nämlich hochgradig dämlich dabei vor, das Teil in ein Schloss zu schleppen und dabei auch noch unfassbaren Krach zu machen. Wenigstens war ich damit nicht alleine und Arthur wies uns auch an, die Sachen neben dem Eingang stehen zu lassen.
„Wahnsinn", hauchte Beverly und sah sich neugierig in der Eingangshalle um. Alles schien so riesig und hell. Es war überhaupt nicht kalt, wie ich, in Anbetracht der Außentemperaturen, erwartet hatte. Es war auch nicht ganz so steinig, wie die Fassade vermuten ließ. Ich hätte es schon fast als warm und freundlich bezeichnet, aber das wäre vielleicht doch zu viel des Guten gewesen.
„Kommt mit", sagte Arthur und marschierte wieder voraus.
Während ich mich fasziniert umsah, merkte ich nicht wirklich, wohin er uns führte. Wir liefen durch einen Gang, der auf der linken Seite komplett offen war und in eine Art Innenhof führte. Alles war grün, die Büsche trugen weiße und rosafarbene Blüten, der Springbrunnen plätscherte. Dann fiel mir ein, dass Winter war und wieder wurde mir bewusst, dass Magie unheimlich war. Wir kamen an ein paar Leuten vorbei, aber sie nahmen nicht wirklich Notiz von uns, sondern nickten Arthur lediglich zu.
„Die wissen alle nicht, wer ich bin, oder?", fragte Beverly, die an der Spitze neben Arthur ging.
„Unsere Geschwister wissen es vielleicht, sobald sie dich sehen", erwiderte er. „Aber diese Menschen sind..."
Beverly blieb stehen, als er seinen Satz nicht beendete. „Sag nicht, dass diese Sklavensache noch aktuell ist."
Er blieb ebenfalls stehen und verzog das Gesicht. „Wir sind doch keine Barbaren. Es sind Angestellte. Menschen." Mit diesen Worten ging er weiter.
„Komm schon, Bevy", murmelte Chase an ihr Ohr. „Davon hattest du auch ein paar Exemplare bei dir zu Hause."
Empört fuhr sie zu ihm herum. „Aber wir sind hier am Arsch der Welt", widersprach sie. „Total abgeschnitten und-"
„Und die meisten sind hier aufgewachsen", meinte Arthur entnervt und drehte sich wieder um. „Sie kennen nichts anderes. Sie sind glücklich hier, es fehlt ihnen an nichts. Keiner hält sie hier fest. Kommst du nun, oder muss ich dich verhexen?"
„Witzig", knurrte sie.
„Das war kein Witz, also komm endlich." Wieder drehte er sich um und wir setzten uns ebenfalls in Bewegung.
Arthurs Worte hatten mich nachdenklich gestimmt. Wenn diese Leute nichts anderes kannten, fand ich es beinahe grauenhaft, dass sie hier waren und einen Haufen fauler Hexen und Zauberer bedienten, denen verdammte Magie zur Verfügung stand.
Ich nahm Beverly's Hand in meine und gemeinsam folgten wir Arthur durch eine breite Flügeltüre aus Holz.
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