53
Beverly
„Felicity?", fragte ich, als ich meine Sprache wieder fand. Sie war eine wunderschöne, junge Frau, die geringe Ähnlichkeit mit Iona hatte. Die schwarzen Haare und das süffisante Grinsen waren unverkennbar.
„Entschuldige, bitte, das Bild, das du von mir hattest", meinte sie und bewegte sich elegant um den Tisch herum. „Ich habe mir unabsichtlich ein paar Jahre zu viel von jemandem genommen und war plötzlich in dem Körper eines kleinen Mädchens gefangen. Ich musste erst jemanden finden, an den ich die Jahre wieder abtreten konnte." Sie blieb neben mir stehen und lächelte verschlagen. „Aber es war ein Vorteil, wie sich herausstellte. Ich habe dein Vertrauen gewonnen."
„Ich..." Für einen Augenblick schloss ich die Augen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. „Ich dachte, du wärst meine Schwester. Felicity." Arthur hatte nichts von einer Felicity gewusst, wir hatten alle angenommen, dass sie sich den Namen ausgedacht hatte. Aber damit hatte ich nicht gerechnet.
Sie legte den Kopf schräg. „Ich bin deine Schwester. Deine Halbschwester, um genau zu sein, aber ich habe nie gelogen. Felicity ist nur der Name, den ich verwende, wenn ich mich unter Menschen bewege. Er ist in diesem Zeitalter ein bisschen geläufiger, als mein richtiger Name."
Ihr richtiger Name. „Odilia."
„Odilia", nickte sie bestätigend.
„Oh..." Mehr brachte ich nicht zustande. Auch nicht, als ich meinen Blick zwischen ihr und Connor -oder sollte ich sagen: Cillian?!- hin und her schweifen ließ. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich von den beiden weit weniger bedroht, als ich hätte sollen. Das lag vielleicht an unserer kleinen Vorgeschichte und daran, dass sie mir geholfen hatten, aus Modoc zu fliehen.
„Ich bin sicher, du hast von mir gehört", holte sie aus und seufzte dramatisch. „Sie haben dir die Geschichte bestimmt erzählt."
„Haben sie."
„Gut." Sie nickte. „Das ist gut. Aber weißt du... Eine Geschichte hat niemals nur eine Seite."
Ich zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Und du willst... mir deine Seite berichten?" Mein Blick glitt zu Connor, den ich einfach nicht mit dem bösen Phönix-Hexer in Verbindung bringen konnte. Es widersprach einfach allem, was ich mit den beiden erlebt und von meinen Geschwistern gehört hatte.
Er sah mich einfach nur an. Mir fiel auf, dass er sich seit unserem letzten Treffen in Modoc kein Bisschen verändert hatte. Die dunklen Augen, die braunen Haare, das kantige Gesicht. Das sollte der irre Zauberer sein, der mich umbringen wollte? Das brachte ich einfach nicht auf die Reihe. Er hatte keine schräge Frisur, auch keine riesige Narbe, die ihn gekennzeichnet hätte. Er sah... völlig normal aus.
Anscheinend sind es wirklich immer die Unscheinbaren.
„Es sei denn, du bist an der wahren Geschichte nicht interessiert", unterbrach Felicity meine Gedanken.
„Die wahre Geschichte?" Ich war mir nicht sicher, ob ich dieser Frau auch nur ein Wort glauben würde.
„Ich kann auch wieder gehen, aber dann wird dieser Krieg niemals enden."
„Wovon redest du?"
Sie blieb hinter Connor stehen und sah mir in die Augen. „Begreifst du es immer noch nicht? Du bist... wie eine essenzielle Variable, ohne die die Gleichung nicht aufgehen wird. Du bist das Verbindungsglied zwischen ihnen..." Sie sah zu Connor. Cillian. „Und uns."
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Warum?"
„Die Liste an Gründen ist lang. Aber beginnen wir doch damit, dass du auf keiner Seite stehst, weil du den Krieg nie selbst erlebt hast."
„Denkst du, ja?" Wütend zog ich die Augenbrauen zusammen, als ich an die Frau in der Zelle dachte, der vermutlich gerade unaussprechliches angetan wurde. „Ich kenne die Geschichte, ich habe meine Seite gewählt."
„Hast du das?" Sie richtete sich auf und betrachtete mich studierend. „Hast du das wirklich?"
Ja, aber vielleicht hätte ich ihr das nicht ins Gesicht sagen sollen. Nur leider kam diese Erkenntnis viel zu spät. Wie war das nochmal mit dem Überlebensplan gewesen?
Jetzt war Connor derjenige, der sich aufrichtete und über den Tisch zu mir beugte. Er sah mich eindringlich an. „Wir sind hier nicht die Bösen, Beverly."
Ich konnte gar nicht anders, als aufzulachen. Noch bevor ich es bemerkt hatte, war ich von der ängstlichen Beverly zur sarkastischen Beverly geworden. Die, die die beiden kennen gelernt hatten. Ich beugte mich ebenfalls nach vorne und sah ihm bitter in die Augen.
„Du hast meinen leiblichen Vater umgebracht. Dir habe ich es zu verdanken, dass ich ihn niemals kennenlernen werde!"
„Haben sie dir das erzählt?" Er wirkte beinahe amüsiert.
„Ich weiß, dass du ihn verletzt hast, und er sein Leben gegeben hat, damit Iona es im Notfall mir schenken kann. Damit ich dich töten kann."
Er lehnte sich nickend zurück. „Ich verstehe. Weil deine Familie einen Krieg angezettelt hat, der lächerliche Ausmaße angenommen hat, die dazu geführt haben, dass dein Vater sich praktisch selbst das Leben genommen hat, um Iona auf den unwahrscheinlichen Fall deines Todes vorzubereiten, bin ich der Schuldige. Macht Sinn." Sprachlos über seine Dreistigkeit saß ich ihm gegenüber und starrte ihn einfach nur an. „Ich habe ihn angegriffen und verletzt, das stimmt, aber er hätte geheilt werden können. Und wer denkst du, hat unsere kleine Debatte angefangen?"
Wovon zum Teufel redet er?
„Gib ihr Zeit", meinte Odilia und verschränkte augenrollend die Arme vor der Brust. „Sie hat sich gerade monatelang von meiner toxischen Familie einwickeln lassen. Sie braucht einen Moment, um wieder klar sehen zu können."
Jetzt rollte ich mit den Augen. So hatte ich mir mein erstes Aufeinandertreffen mit Cillian und Odilia nun wirklich nicht vorgestellt. Ich hatte an... Lichtblitze oder schmerzhafte Zauber gedacht. Und Messer, an einen Haufen Messer und Schwerter, natürlich. Viel Blut, viel Geschrei, Tränen von epischem Ausmaß und den ein oder anderen heldenhaften Moment meinerseits.
„Mich würde interessieren...", begann Odilia und kniff die Augen in meine Richtung zusammen. „Was meine Familie für Geschichten über mich verbreitet. Was haben sie dir erzählt?"
„Nichts, was ich nicht eben mit eigenen Augen bestätigt bekommen hätte", zischte ich. Die beiden wollten mir weismachen, nicht die Bösewichte zu sein, hielten sich aber ein Gefangenenarsenal im Kerker. Absolut lächerlich.
Connor atmete angestrengt aus. „Du hast zwei Optionen, Beverly. Entweder hörst du dir an, was wir zu sagen haben, oder-"
„Oder was? Tötet ihr mich?"
Odilia lachte auf. „Das müssen wir nicht. Und wir wollen es auch gar nicht. Zumindest nicht, solange wir es nicht müssen."
Ich hatte keine Ahnung, worum es hier ging.
Sie kniff die Augen mit einem interessierten Lächeln zusammen. „Wie heißt dein hübscher Freund noch gleich? Aidan?" Sie lächelte mich an, als sie bemerkte, wie sehr ich mich verkrampfte, die Zähne zusammenbiss und die Nägel in meine Handflächen grub. „Ich könnte ihm einen kleinen Besuch abstatten, wie wär's?"
Sie blufft. „Du weißt nicht, wo du ihn finden kannst."
„Sei dir da nur nicht allzu sicher", lächelte sie. „Ich habe ihn schon ein paar Mal getroffen. Seine Dämonenmagie ist unverwechselbar. Ich weiß, dass er wieder in Kalifornien ist."
„Also stimmt es?", fragte ich bitter. „Ihr habt einen Spion?"
„Oh ja!" Sie nickte beinahe stolz. „Ich weiß, dass Aidan sich nicht allzu weit weg von deinem Haus aufhält."
Mein Haus. Bakersfield. Sie war dort.
Verdammt, sie bluffte ganz und gar nicht.
Selbst wenn sie Aidan nicht finden würde: Sie hätte auf Chase oder Trish oder Addie oder Trev stoßen können. Niemals würde ich das zulassen.
Ich biss die Zähne zusammen. „Na, schön. Ich höre."
„Nein", erwiderte sie. „Ich höre. Ich will wissen, was sie dir über mich erzählt haben."
„Wirklich?"
„Wirklich."
Ich atmete angestrengt aus und war ziemlich beeindruckt, als sie plötzlich aus dem Nichts einen Stuhl herzauberte und sich darauf niederließ. Aus dem Nichts konnte ich noch nichts erscheinen lassen. Kein Witz beabsichtigt.
„Ich dachte, hier ist keine Magie möglich", bemerkte ich.
„Für dich nicht, nein", erwiderte Odilia. Ich schluckte.
„Okay... Also... Ich weiß, dass du Iona's erstes und einziges Kind mit Looïc bist. Dass er gestorben ist, als du ein Baby warst und du eine Zeit lang nach Frankreich gebracht wurdest. Dann..." Ich versuchte mich an alles zu erinnern, das Iona mir damals im Rosengarten erzählt hatte. „Theodoric hat dich zurückgeholt. Er hat irgendeinen Deal oder so mit Looïc's Bruder ausgehandelt, damit er dich gehen lässt." Sie sah mich so ernst und aufmerksam an, dass ich beinahe Angst hatte, etwas Falsches zu sagen. „Du bist also in Irland aufgewachsen."
„Schottland", korrigierte sie sofort. „Ich bin in Schottland aufgewachsen. Irland war... mein zweiter Wohnsitz, wenn du so willst."
Ich begann an meiner Wangeninnenseite herum zu kauen. „Iona hat mir gesagt, dass... dass Theodoric sich immer ein bisschen besser um dich gekümmert hat als sie."
Sie lachte auf. „Das hat sie gesagt? Eine niedliche Untertreibung, wirklich."
„Aber dann verstehe ich nicht, wie..." Ich sah zu Connor. „Wie du zulassen konntest, dass er Theodoric verletzt."
Sie lehnte sich zurück. „Menschen ändern sich."
„Theodoric hat dir Dinge beigebracht, die er sonst keinem beigebracht hat, oder?" Sie nickte und sah dabei beinahe traurig aus. „Er hat viel Zeit mit dir verbracht. Er hat sogar in Betracht gezogen, dich zu Schottlands Nachfolgerin zu machen, oder nicht? Obwohl du nicht seine leibliche Tochter warst." Sie sagte nichts darauf, sondern sah mich nur stumm an. „Du musst ihm sehr wichtig gewesen sein." Ausgerechnet jetzt, zum ungünstigsten Zeitpunkt, stieg wieder Mitleid in mir auf. „Iona hat dich jung verheiratet und... Das war's, schätze ich. Irgendwann hast du Connor -Cillian- kennen gelernt und beschlossen, auf... die dunkle Seite zu kommen."
„Die dunkle Seite?", warf Connor ein und seine Mundwinkel zuckten. Ich reagierte nicht, sondern hielt den Blick auf Odilia gerichtet.
„Du hast viel Scheiße verzapft."
„Wieso?", blaffte sie. „Wenn Corona von einem anderen Mann als ihrem Ehemann ein Kind erwartet hätte, hätte meine Mutter ohne zu zögern alles getan, damit das nicht raus kommt. So wie sie es bei Thomas getan hat."
Ach ja... Thomas. „Woher weißt du das eigentlich?"
„Ich hatte ihr Tagebuch. Schon vergessen? Ich habe es dir damals in Modoc gegeben. Du bist nicht die Einzige, die es gelesen hat." Ich nickte langsam. „Jeden anderen hätte sie in dieser Situation verteidigt bis aufs Blut, aber mich hat sie vor allen bloßgestellt, aus Irland und Schottland verbannt und mir mein Anrecht auf den Thron verweigert! Soll das gerecht sein?"
„Gut, du hast recht, das war mehr als... unfair", stimmte ich ihr zu. „Aber deshalb einen Krieg anzufangen?"
Sie lachte auf. „Du denkst allen Ernstes, dass wir diesen Krieg begonnen haben?"
„Was soll ich denn denken?!", rief ich wütend. „Du hast mich in einem Labyrinth abstechen lassen, Aidan mit einem Hexenbeutel beinahe umgebracht und mich hierher entführt. Ihr habt Brikeena's Mann umgebracht, sie ein Jahrzehnt festgehalten und Acacia mit einem Todesfluch belegt!" Ich war aufgesprungen und hatte beide Hände auf den Tisch gestemmt. „Und dort unten sitzen mindestens zwanzig Hexen und Zauberer in kleinen Zellen, seit ich-weiß-nicht-wie-lang! Also sag mir: Was soll ich denken, wenn du mir keinen Grund gibst, in Frage zu stellen, dass ihr beiden einen absoluten Vollschuss habt!"
Odilia blieb ganz ruhig und sah schon fast belustigt aus, doch ihre zornigen Augen verrieten sie.
„Du kennst tatsächlich nur die halbe Geschichte." Ich lachte ungläubig auf und ließ mich kopfschüttelnd wieder auf den Stuhl fallen.
„Die Sache im Labyrinth... Wir hatten nicht vor, dass du stirbst. Und das bist du auch nicht."
„Nein, ihr wolltet mir Angst machen!"
Odilia reagierte nicht. „Das mit dem Hexenbeutel war zugegebenermaßen ein kleiner Spaß meinerseits."
„Spaß?!" Ich spuckte das Wort förmlich aus. Sie beugte sich mit wutentbranntem Blick nach vorne.
„Hey, ich habe den Hexenbeutel nicht zusammengestellt." Unschuldig hob sie die Hände und ich stutzte.
„Acacia war sich... sicher, dass du es warst."
„Vielleicht solltest du nicht alles glauben, was Acacia dir sagt", grinste Odilia. „Der Hexenbeutel wurde unter meiner Anleitung von jemandem zusammengestellt. Aber nicht von mir." Dann verschwand ihr Lächeln wieder. „Und dass Brikeena's Mann bei einem Angriff auf uns umgekommen ist, war Selbstverteidigung. Und die Menschen, die da unten in den Zellen sitzen, sind alles andere als unschuldig."
„Wirklich?", fragte ich provokant. „Oder passen sie einfach nicht in dein eigenes, kleines Rechtssystem?"
Ihr überlegenes Lächeln erstarb langsam aber sicher. „Du stehst auf der falschen Seite, Beverly."
„Was ist mit der alten Frau, die in der Zelle sitzt? Einer der beiden vermummten Gestalten hat sie... zusammengeschlagen", vermutete ich.
Odilia kniff die Augen zusammen. „Von allen Menschen hast du ausgerechnet mit ihr Mitleid?"
„Ihr haltet so viele Leute dort unten gefangen! Das war nur ein Beispiel! Ihr habt Brikeena zehn Jahre lang festgehalten!", erinnerte ich wieder. Wut kroch mir in die Knochen. Gott, wenn ich doch nur bei der ersten Begegnung mit den beiden gewusst hätte, was Sache ist. Ich hätte... Gut, ich hätte nicht viel machen können, aber es machte mich wahnsinnig, dass Felicity und Connor Odilia und Cillian waren.
Sowas kann man ja gar nicht erfinden...
Die beiden tauschten einen raschen Blick untereinander aus. Dann schob Odilia den Stuhl zurück, stand auf und ging aus dem Raum. Ich fragte mich, was jetzt gleich passieren würde, aber Connor hielt mich nur weiterhin mit seinem Blick gefangen.
„Möchtest du etwas trinken?", fragte er irgendwann.
„Was?"
„Ob du etwas trinken möchtest. Du musst Durst haben."
Mein Mund war tatsächlich ziemlich trocken, aber dass er nun tatsächlich aufstand, zur Türe ging und jemanden auf der anderen Seite nach Wasser fragte, hätte ich nicht gedacht. Keine Minute späte stellte er mir ein Glas Wasser und eine volle Karaffe vor die Nase und sah mich abwartend an.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Das trinke ich bestimmt nicht. Für wie blöd hältst du mich? Wer weiß, was da drinnen ist?"
Sein linker Mundwinkel wanderte nach oben, als er nach dem Glas griff und einen Schluck trank, ohne den Blickkontakt zu mir zu unterbrechen. Ich sah ihn unsicher an.
„Siehst du?" Er stellte das Glas wieder ab. „Das unheimliche Monsterwasser vom Schurken ist gar nicht so böse, wie alle immer denken."
Ich rollte mit den Augen. Eigentlich hatte ich nicht vor, tatsächlich zu trinken, aber jetzt, da das Wasser direkt vor mir stand, konnte ich gar nicht anders, als nach dem Glas zu greifen, es hinunter zu stürzen und mir gleich wieder nachzuschenken. Ich wusste nicht, wann ich zuletzt etwas getrunken oder gegessen hatte.
Connor hatte sich inzwischen wieder gegenüber von mir niedergelassen.
„Weißt du, dass deine Familie meine Frau getötet hat?", fragte er irgendwann in die Stille hinein. Das war in etwa ein Gespräch, das ich erwartet hatte. Unbehaglich stellte ich das Glas wieder ab, wischte mir mit dem Ärmel meines Pullis über den Mund und zwang mich dazu, seinem Blick standzuhalten.
„Weißt du, dass deine Familie meine Kinder getötet hat?", fragte er weiter. „Meine Brüder. Meine Schwestern. Meine Freunde." Er beugte sich über den Tisch. Mein irritierter Blick verriet mich. „Nein, warum hätten sie dir das auch erzählen sollen?" Er nickte und betrachtete mich eingehend. „Sie haben dir natürlich nur die Teile der Geschichte erzählt, die du hören solltest."
Die Türe ging wieder auf und ich drehte instinktiv den Kopf. Odilia war mit der alten Frau hereingekommen und schubste sie auf den Boden. Ihre Nase blutete und ihr rechtes Auge war ganz angeschwollen.
„Ist sie das?", fragte sie. „Meintest du sie?"
Ich nickte und wollte bereits aufstehen um der Frau zu helfen, aber Odilia stellte sich mir in den Weg.
„Willst du wissen, wer das ist?", zischte sie, stützte sich an den Stuhllehnen links und rechts ab und kam meinem Gesicht näher als mir lieb war. Ab diesem Moment erkannte ich endgültig nichts mehr von Felicity in ihr wieder.
„Ihr Name ist Gara Brooklynn. Geboren 1753. Eine unserer Schwestern." Ich betrachtete die runzelige Haut und die grauen Haare. Es war schwer vorstellbar, dass sie tatsächlich meine Schwester sein sollte. Ich war die freche Brikeena, die missmutige Finley oder die zickige Canna gewohnt. Alle schön, vital und... jung eben.
In Gara's Augen lag nur Hass, als sie Odilia vom Boden aus fixierte.
„Sie hat meinen Sohn umgebracht", zischte Odilia und Tränen der Wut sammelten sich in ihren Augen. Ihr Zorn raubte mir die Luft zum Atmen. „Sie hat meinen Sohn ermordet, als er fünfzehn Jahre alt war."
Mein erster Impuls war, ihr zu sagen, dass sie log. Aber dann musste ich an den Grabstein denken und daran, dass der Junge, Teegan, der dort beerdigt war, auch nicht viel älter geworden war. Odilia sah mir an, dass ich daran dachte.
„Ja", nickte sie bitter.
„Es war kein Zufall, dass ich dort gelandet bin", flüsterte ich.
„Nein." Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Das war es nicht. Ich wollte, dass du das Grab meines Sohnes mit eigenen Augen siehst. Ich wollte, dass du dort landest und siehst, was sie mir angetan haben. Es war meine Idee, den Ataria zu verzaubern, damit du bei seinem Grab landest." Sie stieß sich weg von mir.
„Ich dachte... einen Ataria zu verzaubern ist... unmöglich?", stammelte ich mit belegter Stimme.
„Wieso?", höhnisch drehte sie sich zu mir. „Nur, weil Theodoric die Ataria zwischen Schottland und Irland erschaffen hat? Der großartige Theodoric? Seine Magie ist auch nicht unüberlistbar."
Sie drehte sich voller Verbitterung zu der alten Frau um. „Bemitleidest du sie immer noch? Eine Frau, die einen fünfzehnjährigen Jungen umgebracht hat? Obwohl er nie etwas getan hat?"
„Er hat gelebt, das war genug!", krächzte Gara und Odilia trat wutentbrannt nach ihr. Ich zuckte zusammen und mir war klar, dass ich die Situation irgendwie entschärfen musste, sonst würde es Tote geben.
Ich sah beinahe hilfesuchend zu Connor, aber er betrachtete mich nur stumm und schien meine Reaktionen abzuwarten.
„War er ein Zauberer?", fragte ich Odilia schnell. „Dein Sohn. War er ein Zauberer mit Phönixblut?"
„Natürlich nicht", krächzte Gara. „Was für eine dumme Frage! Dann hätte ich ihn nicht töten können. Er war kein Zauberer." Ich war mir nicht sicher, ob ihre Verachtung mir oder Odilia galt.
Ich war überrascht. Und verwirrt. Verwirrt trifft es wohl eher. Odilia warf mir einen wütenden, aber triumphierenden Blick zu. Als hätte sie sagen wollen: „Siehst du? Sie hat Teegan grundlos getötet."
„Ich... Ich habe noch nie von ihr gehört... Ich meine, im Schloss, keiner hat von Gara geredet, oder sie auch nur erwähnt", brachte ich schließlich hervor.
„Weil sie denken, dass sie schon längst tot ist", spuckte Odilia aus. „Und vermutlich wollten sie nicht, dass du erfährst, dass alle unterstütz haben, Teegan umzubringen. Sie alle haben meinen Sohn umgebracht, einfach... weil er mein Sohn war!" Der Zorn in ihren Worten jagte mir eine Heidenangst ein, aber ich wollte es ihr nicht unbedingt zeigen. Also biss ich die Zähne zusammen und versuchte nach außen hin ruhig zu wirken, als ich Gara ansah.
„Du hast... Teegan getötet. Völlig grundlos?"
„Grundlos!", sie lachte auf und versuchte sich auf dem Boden aufzurichten. „Er wäre doch genauso geworden wie seine Mutter."
Wieder trat Odilia nach ihr, diesmal fester. Irgendetwas knackte abartig und Gara stieß einen kehligen Schrei aus.
Sie bringt sie um, stellte ich ungläubig fest. Sie bringt sie um, wenn du nichts machst.
Wieder drehte Odilia sich zu mir. „Sie hat meinem Sohn das Leben genommen. Du hast also bestimmt nichts dagegen, wenn ich es ihr gleich tue." Sie zog ein Messer unter ihrem Pullover hervor. „Ich habe sie ohnehin schon viel zu lange leben lassen."
„Nein!", rief ich und sprang reflexartig auf. „Das kannst du nicht machen, das geht nicht!" Ob ich das nun sagte, weil ich wirklich nicht wollte, dass sie Gara umbrachte, oder weil ich einfach nicht dabei zusehen wollte, war eine andere Frage.
Odilia betrachtete mich lange. „Gut, ich werde es dir leicht machen. Gara oder Aidan?"
Ungläubig blinzelte ich sie an. Ich musste mich verhört haben, oder? „Das meinst du nicht ernst, oder?"
„Ich versuche nur, dich einzuschätzen." Sie kniff die Augen zusammen. „Ich will wissen, wo deine Prioritäten liegen. Und lass mich dir sagen, dass du dir keinen Gefallen damit tust, wenn du dich für sie entscheidest." Sie zeigte auf Gara und sah mir dabei fest in die Augen.
Ich begann zu lachen.
Ja, ich weiß. Es hätte nicht unpassender sein können, aber die Ironie war einfach zu köstlich. Wieso kam ich immer wieder in Situationen, in denen ich über Leben und Tod von anderen Menschen entscheiden musste? Ich biss mir auf die Zunge und versuchte abzuwägen, wie ernst es Odilia war. Ob sie ihre eigene Schwester tatsächlich töten würde.
Sie dachte, dass meine Entscheidung mich definierte. Gut, sollte sie das denken. Aber ich fand, dass mir ihre Entscheidung, alles verraten würde, das ich über sie wissen musste.
„Soll ich mich auf den Weg nach Kalifornien machen?", fragte sie und machte einen Schritt auf mich zu. Jetzt, da sie keine Vierzehnjährige mehr war, war sie sogar ein bisschen größer als ich und sah ernst auf mich herab.
„Nein." Ich wollte, dass meine Stimme fest und entschlossen klang, aber ich klang einfach nur ängstlich und erbärmlich.
„Dann sag mir, dass ich Gara töten soll." Ich fragte mich, was für ein Psychospielchen sie gerade mit mir trieb. „Sag es!"
Ich sah an Odilia vorbei zu Gara, die meinen Blick auffing, aber nur Verachtung für mich übrig zu haben schien.
Konnte ich das tun? Konnte ich jemanden töten, um einen anderen zu retten? War das fair? Nein, natürlich nicht!
Aber es ging um Aidan. Einen Menschen, den ich liebte. Und um Gara, eine Frau, die ich eben erst kennen gelernt hatte.
Überlebe. Es geht um dich, du musst überleben. Du überlebst nicht. Nicht ohne Aidan.
Würde ich Iona je wieder unter die Augen treten können, wenn ich Odilia gleich sagen würde, dass sie Gara töten sollte?
Würde ich je wieder in den Spiegel sehen können, wenn ich ihr sagte, dass sie Aidan töten sollte?
„Nein", wisperte ich schließlich. Ich konnte es nicht. Ich konnte ihr nicht sagen, dass sie Gara töten sollte. Ich brachte diese Worte einfach nicht über mich.
Ich erkannte Überraschung in Odilia's Augen. Gara sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an und aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie Connor sich zurücklehnte.
Dann drehte Odilia sich entschlossen um, zerrte Gara auf die Beine und zog sie wieder aus dem Raum. Erschrocken sah ich ihr nach.
„Was tut sie jetzt?" Meine Stimme war nicht mehr als ein piepsendes Flüstern.
„Was glaubst du?" Ich drehte mich zu Connor.
Felicity war keine Mörderin.
Aber Odilia war es vielleicht.
Um meine Angst zu verdrängen setzte ich mich ihm wieder gegenüber. Es wurde Zeit, Cillian in Connor zu entdecken, denn bis jetzt hatte ich noch keine sonderlich großen Unterschiede wahrnehmen können.
„Also, schön." Ich schluckte schwer und versuchte nicht an die zwei Möglichkeiten zu denken, zwischen denen Odilia mich hatte wählen lassen. „Wer bist du?"
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