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Aidan
Das Restaurant war wirklich nett. Ich wusste, dass Mom sich manchmal mit Kollegen hier zum Essen traf. Oder zu kleinen Weihnachtsfeiern. Ab und zu hatte sie Addie und mich auch mitgeschleift, als wir noch kleiner waren, aber wir hatten immer nur zwischen den Tischen und den aufgetakelten Erwachsenen fangen gespielt, sodass Mom uns irgendwann zu Hause gelassen hatte, bis wie älter waren und uns zu benehmen wussten. Sie liebte dieses Restaurant trotz allem, weil es so glamourös und teuer war. Vielleicht hatten Sita und Addie es genau aus diesem Grund ausgesucht. Weil es unserer Mutter gefallen und von der Tatsache ablenken würde, warum wir überhaupt hier waren.
Vor dem riesigen Gebäude sah ich Chase' Mercedes, also waren er und Trish schon da. Sita und Mitch liefen wir in der riesigen Eingangshalle über den Weg. Trev entspannte sich sichtlich, als er die beiden sah.
„Schön, euch alle zu sehen!", lächelte Sita und umarmte uns alle herzlich. Sie trug ein dunkelblaues Kleid und hatte sich ein knallbuntes Tuch über die Schultern geworfen. Trev's Onkel hielt sich wie immer dezent im Hintergrund und war der freundlich, lächelnde Beobachter, aber auf dem Weg zum Aufzug unterhielt er sich mit Trev über sein Studium.
„Zwei stramme Babies!", lachte Sita, als sie vor dem Aufzug ihre Hand auf Addie's Bauch legte, um die Energien der Würmchen zu erfühlen. Ich hatte diesem Blödsinn nie viel abgewinnen können, aber Addie war absolut begeistert von Sita's Vorhersagen, dem Aurenlesen und dem siebten Sinn, den sie zu haben schien. Aber seit ich wusste, dass Hexen existierten, fragte ich mich, ob Sita vielleicht eine war, ohne es so recht zu wissen.
Oder vielleicht wusste sie es, und wollte es natürlicher Weise geheim halten.
„Der Junge wird definitiv belesen", sagte sie. „Sehr ruhig. Das Mädchen ist ziemlich robust. Ich glaube, die beiden haben genau die richtigen Eigenschaften von ihren Eltern abbekommen." Addie lachte und die Türe zum Aufzug öffnete sich. Alles war aus Glas und mit einer angenehmen Beleuchtung. Wir mussten in den zehnten Stock, denn dort war das Restaurant, das wir ansteuerten.
„Und wie geht es dir?" Sita wandte sich an mich. „Du hast abgenommen. Und deine Aura hat vier verschiedene Farben, die um dich schwirren, wie Bienen um ihren Honig. Geht es dir gut?"
Ich lächelte sie an. „Ich bin sicher, meine Aura ist genauso strahlend blau wie immer."
„Nein, ich sehe grau... ein bisschen mehr silber als sonst... blau auch, aber es schwirren ein paar schwarze Flecken herum. Sehr düster, das sehe ich."
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Ich dachte eigentlich immer, dass eine Aura nur eine Farbe haben kann."
„Wo hast du denn den Blödsinn her?" Sie deutete auf Trev. „Seine Aura ist heute knallrot mit goldenen Sprenkeln."
„Und was bedeutet das?", wollte Addie sofort wissen. Sita zwinkerte.
„Es wäre doch nicht so spannend, wenn ich es direkt ausplaudern würde, oder?"
Addie schob die Unterlippe vor. „Was ist mit mir?"
„Deine Aura hat momentan sehr viele Farben, aber ich kann deine und die der Babies nicht auseinanderhalten, Süße. Aber da ich dich kenne, würde ich behaupten, dass deine größtenteils violett ist. Aber ich sehe auch gelb und orange."
Sita wandte sich wieder mir zu und erklärte, dass jeder Mensch zwar eine Grundaurafarbe hatte, die sich natürlich auch über die Jahre ändern konnte, aber gleichzeitig auch andere Farben in seiner Aura herumschwirrten, je nach Stimmung.
Im Restaurant angekommen fragte uns ein Angestellter, auf welchen Namen wir den Tisch reserviert hatten.
„Campbell und Catrell", sagte Addie und wir wurden an unseren Tisch geführt. Wie erwartet saßen Trish und Chase schon da. Auch unsere Tanten und Onkel, sowie unsere Cousins und Cousinen waren schon da und unterhielten sich angeregt. Nur Mona und Tobias waren nicht da, aber als Addie in die Runde fragte, wo die beiden abblieben, antwortete unser Onkel Bryce, dass Tobias in Italien war und seien Freundin besuchte, und unsere Tante Sophia klärte uns über die Abwesenheit unserer Cousine Mona auf.
„Sie hat vor vier Monaten die Ausbildung zur Flugbegleiterin begonnen. Heute geht ihr erster Nachtflug. Ihr wisst ja, sie kann sich nicht immer aussuchen, wann und wohin sie fliegt."
Das verstand Addie natürlich und stürzte sich sofort in das Gespräch, wie es ihr in diesem Arbeitsfeld denn ging. Ob sie Spaß daran hatte. Roy fragte Trish, seit wann sie blond war und sie antwortete, dass sie eine Typveränderung gebraucht hatte.
Es war seltsam. In Mitten meiner Familie und meiner Freunde fühlte ich mich plötzlich wie ein Außenseiter. Als hätten mich die Wochen in Irland und die aufwühlende Zeit davor zu einem anderen Menschen gemacht. Als wäre ich ein Puzzlestück, das aus dem einen Bild herausgenommen und so zurechtgeschnitten worden war, bis es in ein anderes hineingepasst hatte. Und jetzt, da ich wieder versuchte, in das alte Bild zurück zu stolpern, passte ich nicht mehr so recht hinein. Weil sich etwas verändert hatte, auch, wenn ich nicht genau mit dem Finger darauf zeigen konnte.
Aber gut, wenn ich schon nicht in Wirklichkeit hier her gehörte, dann wollte ich Addie zuliebe zumindest so tun. Also fragte ich meinen Onkel Chris, wie es ihm ging, erkundigte mich bei meinem Cousin Roy nach seinem Jurastudium und unterhielt mich mit Mary und Shyla über das Collegeleben.
„Wo bleiben Mom und Dad?", fragte Addie irgendwann, als wir alle bereits die zweite Runde an Getränken bestellten und mein Magen langsam zu knurren begann.
„Die beiden stecken im Stau", erklärte unsere Tante bedauernd. „Aber ich bin sicher, sie sind bald da."
Addie nickte und versuchte zu lächeln, aber ich sah ihr trotzdem an, wie sehr es sie wurmte, dass unsere Eltern zu spät kamen und dass sie dachte, dass sie vielleicht gar nicht auftauchen würden. Ich verstand ihre Sorge bei Mom, sie würde vielleicht eine Notfall OP erfinden, um nicht hier sein zu müssen, aber Dad würde bestimmt dazustoßen.
Irgendwann beugte sich Chase über Trish hinweg zu mir. „Bin das nur ich, oder benimmt Trev sich komisch?"
Ich linste zu ihm hinüber. Er saß schweigend neben Addie und schien die Gespräche der anderen zwar mit seinen Augen zu verfolgen, wirkte jedoch so abwesend, dass ich bezweifelte, dass er das Gesagte überhaupt registrierte.
„Oh Gott...", murmelte ich.
Trish sah mich alarmiert an. „Was hast du gemacht?" Als ich nicht sofort antwortete krallte sie ihre Finger in meinen Unterarm und beugte sich warnend zu mir. „Aidan Gavin Campbell, was hast du gemacht?!"
„Gar nichts!", zischte ich, musste aber kleinlaut nachgeben. „Vielleicht hab ich sowas in der Richtung gesagt, wie: Wenn du weiter mit Addie zusammen sein willst, dann musst du dir nur über deine eigenen Gefühle im Klaren sein, weil ihre kaum zu übersehen sind."
Trish zog die Augenbrauen zusammen. „Wenn er heute Nacht mit Addie Schluss macht, weil er deinen Kommentar über deren Beziehung in den falschen Hals bekommen hat, dann bring ich dich um!" Mit verschränkten Armen lehnte sie sich zurück.
Ich hoffte inständig, dass Trev nicht dachte, er würde Addie weniger lieben, als sie ihn. Dass sie Besseres verdient hatte. Und hoffentlich hatte ich ihm keine Angst mit meinen Worten gemacht, von wegen Addie-würde-alles-für-dich-tun. Ich rieb mir die Nasenwurzel.
Ich hoffte so sehr, dass ich es nicht verbockt hatte. Vielleicht sollte ich mir einfach wünschen, dass Trev sie nicht verlassen würde. Dabei würde schon niemand umkommen, oder? Aber dann fiel mein Blick auf die vielen Messer und Gabeln und ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Auf keinen Fall würde ich meine schreckliche Gabe dazu missbrauchen, den beiden ihr Glück aufzuzwingen. Das mussten sie selbst schaffen.
Als der Kellner uns zum fünften Mal fragte, ob wir zu essen bestellen wollten, knallte plötzlich Mom's knallrote Hermés Tasche auf den Tisch.
„Für mich einen Chardonnay", ließ sie den Kellner wissen und ließ sich auf einem der beiden Stühle nieder, wohingegen Dad erst einmal zu Addie ging, sie lächelnd begrüßte und umarmte. Während er mir auf die Schulter klopfte und Trev sagte, dass er sich freute, ihn wieder einmal zu sehen, begann Mom sich über den Verkehr zu beschweren.
„Schrecklich! Beinahe zwei Stunden. Zwei Stunden von Tulare hier her. Unfassbar!" Sie warf Addie einen bissigen Blick zu und Dad ließ sich neben Mom nieder und begrüßte seiner Schwester. „Hättest du dir nicht eine christlichere Uhrzeit überlegen können, als die, in die genau der Abendverkehr hineinfällt?"
„Das nächste Mal such ich mir deinen Todestag aus, versprochen", murmelte Addie boshaft, sodass nur ich und Trev es hören konnten. Dad lächelte Addie aufmunternd auf und nahm sich die Speisekarte zur Hand, die der Kellner schon ganz zu Beginn auf jedem der Plätze deponiert hatte.
„Ich bin ohnehin überrascht, dass ihr dieses Restaurant gewählt habt. Ihr erwartet hoffentlich nicht, dass ich für das Essen zahle."
Addie zwang sich dazu tief durchzuatmen und warf Sita einen anschuldigenden Blick zu. Sie übernahm sofort das Steuer.
„Es war meine und Mitch's Idee", meinte sie besänftigend und Mom zog die Augenbrauen in ihre Richtung hoch. „Wir übernehmen die Rechnung."
Einige wollten widersprechen, dass es doch viel zu teuer sei, aber Sita hob die Hand. „Wir bestehen darauf."
Mitch sagte nichts dazu. Ich war mir ziemlich sicher, dass es alleine Sita's Idee gewesen war, er bis eben nichts davon gewusst hatte und sie ihn praktisch dazu nötigte, für die gesamte Rechnung aufzukommen. Aber wenn mich nicht alles täuschte, war der Besitzer dieses Restaurants einer von Mitch's Geschäftspartnern. Vielleicht würde er hier Begünstigungen bekommen?
Während Mom sich mit ihren Geschwistern über die Arbeit unterhielt, und wir „Kinder", wie sie uns gerne noch zu nennen pflegten, darüber philosophierten, ob das Lammkotelett mit dem Süßkartoffelpüree satte neunundsiebzig Dollar wert sein konnte, bedauerte Addie die Tatsache, dass sie nichts von den teuren Weinen trinken durfte, sondern nur Wasser in dem teuren Kristallglas schwamm.
Das Essen war verdammt gut, aber ich musste trotz all des unruhigen, aufgeregten Geredes ständig an Beverly denken. Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie sich fehl am Platz fühlen? Sie war in solchen Restaurants groß geworden, sie wusste sich zu benehmen und Lammrippchen für achtzig Dollar wären ein Schnäppchen für sie gewesen. Aber ich glaubte nicht, dass sie sich auch nur eine Sekunde hier wohl gefühlt hätte.
Sollte ich sie jemals heiraten, werde ich sie danach in ein Burgerrestaurant ausführen, beschloss ich in Gedanken.
Kurz vor dem Dessert erhob sich Sita und mit ihrem Glas und wartete, bis ihr jeder seine Aufmerksamkeit schenkte.
„Es ist vielleicht noch ein bisschen früh, einen Toast auszusprechen. Aber mir fällt kein besserer Weg ein, um euch beiden meine Glückwünsche auszusprechen." Sie lächelte Addie und Trev an. „Ihr beide habt alles Glück der Welt verdient und ich hoffe, dass die kleinen Wonneproppen der Beginn davon sein werden."
Alle bis auf Mom hoben die Gläser und Addie lachte. „Ihr seid zu süß."
„Habt ihr denn schon Namen für die zwei?", fragte Shyla neugierig.
„Also, der Junge heißt Ace. Nur bei dem Mädchennamen diskutieren wir noch."
„Streiten", erwiderte Chase. „Sie meinte streiten."
Shyla lachte. „Naja, ein paar kleine Zankereien gehören dazu."
„Trev ist für Aubrey oder Audra. Und Addie ist für Freya."
„Den Nuttennamen", erklärte Trev und Kichern und Schmunzeln zog sich über den Tisch, während Addie die Augen verdreht.
„Ich liebe dich auch."
„Liebst du mich genug, um mich zu heiraten?", gab Trev zurück.
„Was?", fragten Addie und Mom gleichzeitig. Nur klang Mom's „Was" wie das Bellen eines schockierten Hundes und Addie's „Was" wie die Frage, die man einem Lehrer stellt, wenn man gerade nicht aufgepasst hat.
Trev sah sie weiterhin mit bohrendem Blick an, während Addie's Blick flüchtig aber unwohl über den Tisch glitt, um die Blicke der anderen einzuschätzen.
Geschockt trifft es wohl am ehesten.
„Trev, das finde ich nicht sonderlich witzig", sagte sie schließlich, woraufhin er ohne zu zögern in die Tasche seines Jaquettes griff und die kleine, dunkelblaue Box herausholte, die er mir vor Weihnachten in dem Diner über den Tisch zugeschoben hatte.
Erschrockenes, glückliches Aufatmen ging über den ganzen Tisch und Addie schlug sich promt die Hände vors Gesicht mit einem Ausruf, der entweder der eines winselnden, geschlagenen Hundes gerecht werden könnte, oder aber... Nein, ich hab sonst keinen Vergleich.
Ich tauschte ungläubige Blicke mit Trish und Chase. Chase grinste mich ungläubig an und Trish strahlte von einem Ohr bis zum anderen. Unsere Cousinen beugten sich aufgeregt über den Tisch und waren kurz davor, in Tränen auszubrechen, Roy betrachtete das Spektakel gespannte und meine Onkel und Tanten lächelten einfach nur rührselig vor sich hin.
Mom's fassungslosen Blick muss ich wohl nicht näher beschreiben. Dad hingegen warf mir einen Blick zu, der puren Stolz zum Ausdruck brachte. Seiner kleinen Tochter wurde gerade ein Antrag gemacht.
Addie schaffte es endlich die Hände von ihren Augen zu ihrem Mund gleiten zu lassen und linste beinahe ängstlich auf den Ring, den Trev ihr nun in dem geöffneten Schächtelchen präsentierte.
„Adeline Payten Campbell." Er schob den Stuhl zurück und kniete sich vor sie. Irgendjemand stieß ein freudiges Quietschen aus und Sita griff nach Mitch's Hand. Mein Herz pochte mir vor Aufregung bis zum Hals. Trish verschränkte die Finger ineinander und drückte sich gegen meine Rücken, um das Spektakel noch genauer betrachten zu können. Addie's Schultern begannen zu beben, aber sie gab keinen Laut von sich.
„Willst du etwas absolut Verrücktes tun und meine Frau werden?"
Sie schluchzte auf. „Wenn du versprichst, mich nie wieder Adeline zu nennen, dann ja!" Sie fiel ihm um den Hals. „Ja, ja, ja!"
Trish begann lachend zu klatschen und es dauerte nicht lange, bis meine Cousinen heulend miteinstimmten, Chase und ich uns anschlossen, alle auf unserem Tisch zu klatschen begannen und bald das gesamte Restaurant eine Standig Ovation vollführte, sobald sie mitbekamen, dass sich eben zwei junge Leute verlobt hatten.
Ich bekam gerade noch mit, wie Mom, die als Einzige sitzen geblieben war und nicht klatschte, den Kellner, der an ihr vorbei ging, am Ärmel festhielt und zu sich zog. „Ich brauche einen Whiskey."
Addie wischte sich die Tränen vom Gesicht und zitterte am ganzen Körper, als Trev ihr den Ring über den Finger streifte.
„Wow, der passt sogar", grinste er.
„Er passt perfekt", heulte Addie und betrachtete den sündhaft teuren Ring, von dem ich eigentlich gedacht hatte, dass Trev ihn nach allem, was vorgefallen war, zurückgebracht hatte. Unfassbar, dass er ihn behalten hatte. „Das ist der schönste Tag in meinem Leben. Ich liebe dich so sehr!"
Ich kämpfte mich zwischen den Stühlen hindurch, und nahm meine Schwester in die Arme. Immer noch zitternd drückte sie mich halb schluchzend, halb lachend an sich.
„Ich freu mich so für dich, Ads."
„Wusstest du davon?", fragte sie, als sie mich wieder losließ und sich erneut die Tränen von der Wange tupfte. „Verdammt, mein Make-up."
Ich lachte. „Ich wünschte ich hätte davon gewusst, glaub mir." Anscheinend hatten meine Worte nicht dazu geführt, dass Trev mit ihr Schluss machen, sondern Addie wirklich heiraten wollte.
Ich sollte Paarberater werden.
Alle anderen Beziehungen außer meine eigene konnte ich anscheinend kitten.
„Komm her!", rief Trish mit Tränen in den Augen, drängte mich zur Seite und drückte Addie an sich. „Du ahnst gar nicht, wie glücklich ich bin!" Und das, obwohl sie den Kerl hasste, der Addie eben einen Antrag gemacht hatte.
Obwohl Trev Umarmungen hasste, ließ er es heute zu und ich klopfte ihm auf die Schulter. Selten hatte ich ihn so strahlen sehen, als wäre eben eine Last von ihm gefallen, die er seit Monaten mit sich herum schleppte.
„Alter", lachte Chase und drückte Trev ebenfalls. „Jetzt sitzt du wirklich in der Schlangengrube. Glückwunsch!"
„Hey!", rief Addie empört und Chase schloss sie in eine Umarmung.
„Ich freu mich doch für euch. Aber ein bisschen Skepsis ist angebracht, oder?"
Sie schlug ihm auf die Schulter. „Lass deinen widerlichen Sarkasmus nur für eine Sekunde."
Es dauerte ewig, bis sich der Trubel ein wenig gelegt hatte, weil nicht nur unsere Familie Addie und Trev umarmen und beglückwünschen wollte, sondern auch einige wildfremde Leute in Anzügen und Kleidern von den anderen Tischen.
Als wir schließlich alle wieder saßen und versuchten, uns von dem Schock zu erholen, sagte Mom mit einem aufgesetzten Lächeln, die Hände um das Whiskeyglas geschlossen: „Wunderbar! Ich freue mich von ganzem Herzen für euch. Und wenn ihr dann mal dabei seid, einen Hochzeitstermin auszuhandeln, legt den Scheidungstermin bitte auch gleich fest, damit ich mir für den Nervenzusammenbruch meiner Tochter freinehmen kann."
Mom's Worte wischten Addie ihre Glückseligkeit aus dem Gesicht, wie ein Schwamm eine Algebragleichung von der Tafel.
„Grace, ich bitte dich." Ihre Schwester, Sophia, schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Kannst du dich nicht für deine Tochter freuen?"
Mom sah ihre Schwester ungläubig an. „Freuen?" Dann sah sie wieder zu Addie. „Ich soll mich freuen, dass sich meine neunzehnjährige Tochter, die keine Ausbildung und nicht die geringste Ahnung vom Leben hat, von einem vorbelasteten Möchtegern-Juristen hat schwängern lassen, weil sie zu dumm war, sich vor frühzeitigen Missgeschicken zu schützen?"
„Grace!", mahnte Dad.
„Du hast doch keine Ahnung, wovon du da redest", zischte Addie und ihr stiegen die Tränen in die Augen. Sie beugte sich vor und funkelte unsere Mutter an. „Du hast keine Ahnung, was dieses Missgeschick für mich bedeutet!"
„Es bedeutet offensichtlich, dass du denkst, deine Unachtsamkeit mit einer vollkommen lächerlichen Hochzeit zu entschuldigen."
„Mom", knurrte ich. Dieses Gespräch wäre unter vier Augen unangenehm genug gewesen, aber Mom stelle Addie vor unserer ganzen Familie bloß.
Meine Schwester lachte auf. „Ja, klar, ich bin diejenige, die ungewollt schwanger geworden ist! Dass gerade du, die Mutter des Jahres, mir sowas vorwirft ist doch ein Witz. Vielleicht hättest du vor zwanzig Jahren vorsichtiger sein sollen!"
„Ja, vielleicht hätte ich das. Dann müsste ich mich jetzt nicht dafür schämen, dass meine einzige Tochter eine komplette Enttäuschung ist, die bei Teenager-werden-Mütter mitmachen könnte und sich durch ihr dummes, unüberlegtes Handeln das komplette Leben versaut hat!"
Darauf konnte keiner etwas sagen. Jeder saß geschockt am Tisch, unfähig sich zu bewegen und fassungslos über die Dinge, die Mom eben gesagt hatte.
Ich erwartete, dass Addie aufspringen und Gläser und Teller durchs ganze Restaurant fliegen würden. Dass sie schreien und toben und eine riesige Szene machen würde.
Doch sie saß einfach nur stumm da und sah unsere Mutter an, während sie sichtlich gegen die Tränen ankämpfte.
„Du solltest dich schämen, so mit deiner Tochter zu reden", sagte Mom's Bruder schließlich in die Stille hinein.
„Du hast keine Kinder, du weißt nicht, wovon du sprichst, also halte dich da raus, Chris!", schoss sie wütend zurück.
Trev und ich wollten gleichzeitig nach Addie's Hand greifen, als sie den Kopf hängen ließ, aber sie zog sie uns beiden weg, wischte sich die einzelne Träne von der Wange, sammelte ihre Gedanken und als sie wieder aufsah, lächelte sie Mom traurig an.
„Danke", flüsterte sie, womit vermutlich keiner am Tisch gerechnet hatte. Mom am aller wenigsten. Addie wurde ernst, stand auf und atmete durch. „Ich bin dir dankbar dafür, dass du all die Jahre über genau die Mutter warst, die du auch heute noch bist. Wirklich." Ihr Blick war stählern. „Damit hast du mir zumindest deutlich gezeigt, wie ich es bei meinen Kindern nicht machen werde." Ich hielt den Atem an, weil ich einerseits nicht mit so etwas gerechnet hatte, und andererseits Mom's wutentbrannten Kommentar schon beinahe hören konnte, aber sie trank lediglich einen Schluck Whiskey und hielt ihren Blick starr auf Addie.
„Und du hast recht", fuhr meine Schwester fort. „Ich bin nicht wie du. Nicht im Geringsten und das werde ich auch nie sein. Aber ich denke, dass ich darauf eher stolz sein kann, als mich dafür schämen zu müssen."
Damit verließ sie entschlossen den Tisch und ließ uns alle in betretenem Schweigen zurück.
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