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Beverly
Ungelogen: Es hatte mich fast umgebracht, all diese Dinge zu meinen Freunden zu sagen und sie kaltblütig wegzuschicken. Chase hätte sowas nichts ausgemacht, er hatte es schließlich Wochen lang bei Addie geschafft, aber in meinem Herzen und meiner Seele hatte es riesige Risse verursacht.
Aber ich konnte und wollte weder Chase, noch Trish, noch Aidan auch nur eine Sekunde länger hier wissen. Wer auch immer für Cillian arbeitete, würde in meiner Nähe bleiben, um mich zu beobachten, da war ich mir sicher. Und solange ich in ihrer Nähe war, waren sie auch in Gefahr. Es war dumm genug gewesen, sie überhaupt auf diese Reise mitzunehmen. Und noch dümmer war gewesen, nicht früher gehandelt zu haben.
Wenn ich sie nie wieder sehen durfte, um sie zu beschützen, dann war das ein Opfer, das ich bereit war zu bringen.
Natürlich war ich nicht so naiv, zu denken, dass sie so einfach von der Bildfläche verschwinden konnten. Mein Bauchgefühl verriet mir auch, dass sie früher oder später wieder meine größte Schwachstelle sein würden. Aber diesen Zeitpunkt wollte ich hinauszögern.
Ich hatte sie verletzt. Es war notwendig gewesen, sonst wären sie hier geblieben.
Es ist leichter, die Menschen zu verlassen, die wir hassen. Auch wenn es nur temporär ist. Nur war ich mir nicht sicher, ob sie mir verzeihen würden. Ob sie verstanden.
Als ich an Trish's traurige Haltung dachte, drehte sich mir der Magen um.
Als ich an Chase' wütende Worte dachte, wurde mir speiübel.
Und als ich an Aidan's verletzte Augen dachte, als ich mit ihm Schluss gemacht hatte, kauerte ich mich auf der Fensterbank zusammen und begann zu weinen.
Jetzt war ich wirklich alleine.
Ich wusste endgültig nichts mehr mit mir anzufangen.
Es wäre leichter gewesen, einfach tot zu bleiben. Aber Iona hatte mich ja selbstsüchtiger Weise zurückholen müssen.
Meine Freunde hatten mir Halt gegeben. Jetzt waren sie weg und ich fühlte mich verlorener, als je zuvor.
„Klopf, klopf."
Erschrocken sah ich auf. Ich hatte so laut geschluchzt, dass ich nicht bemerkt hatte, dass Lorcan in mein Zimmer gekommen war.
Zerknirscht lächelte er mich an. „Alles okay?"
„Bestens." Schniefend trocknete ich mir die Augen. Er betrachtete mich mitfühlend. Dann deutete er mit dem Daumen auf den Flur.
„Ich hab... mitbekommen, dass deine Freunde abgereist sind." Ich nickte. „Warum?"
„Weil ich sie rausgeschmissen habe."
„Warum?"
„Weil ich sie beschützen will."
Er lachte leise auf.
„Was ist daran lustig?", fauchte ich.
„Weil du sie nicht beschützen kannst. Höchstens vor Cillian. Aber das ist nur eine Gefahr von tausend anderen."
„Aber eine, über die ich die Kontrolle habe."
Lorcan kam zu mir, ich zog die Beine noch näher an und er setzte sich mir gegenüber auf die Fensterbank. Es war ein strahlend schöner Tag. Der Himmel war blau, die Baumwipfel wiegten sich im Wind hin und her.
„Sie hassen mich", flüsterte ich.
„Nein, das glaube ich nicht."
Ich sah ihn an. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie nicht hier haben will. Und dann habe ich mit meinem Freund Schluss gemacht. Sie hassen mich."
Er schmunzelte. „Sie sind mit dir hier her gekommen, oder nicht? Sie sind mit dir nach Schottland, haben dich nicht verlassen, als du beinahe gestorben bist, und wollten auch heute, nachdem... Aidan?" Ich nickte. „Nachdem Aidan beinahe gestorben ist, immer noch hier bleiben. Denkst du nicht, dass es ein bisschen mehr braucht, damit sie dich hassen?"
Ich senkte den Blick und schluckte schwer. „Vielleicht... Woher weißt du, was heute passiert ist?"
„Acacia hat es mir erzählt."
Das Mädchen, das meinetwegen totgeweiht war, natürlich. „Wird sie sterben?"
„Wir werden alle sterben."
Ich rollte mit den Augen. „Ich meinte, ob sie an dem Fluch sterben wird."
Lorcan blickte starr aus dem Fenster, als er nickte. „Ja. Ja, ich glaube schon. Und vermutlich ziemlich bald." Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Den Zaubertrank, den Arlen immer für sie hergestellt hat, braucht Geduld, Erfahrung und sehr viel Zeit. Seltene, teure Zutaten. Es ist also nicht so, als hätten viele Zauberer ein unermessliches Repertoire an diesem Trank. Basierend auf dem, was ich hörte, hattest du Glück, dass er genau einen solchen Trank dir verabreichen konnte." Genau. Ich hatte Glück, dass Acacia verflucht war, und Arlen zufälligerweise einen Trank für sie vorbereitet hatte, den er dann für mich vergeuden konnte. „Außerdem musste der Trank regelmäßig verabreicht werden... es ist..." Er sah mich zögerlich an.
„Also praktisch ohnehin schon zu spät." Ich presste die Augen zusammen und versuchte, nicht wieder in Tränen auszubrechen. „Gibt es denn nichts, was man tun kann?"
„Du kannst Cillian töten", sagte Lorcan, als wäre es eine tatsächlich machbare Option. „Das löst den Fluch. Aber ich denke ehrlich nicht, dass..."
„Dass ich das rechtzeitig schaffe?"
„Keiner erwartet von dir, dass du das tust." Er sah mir fest in die Augen. „Acacia am allerwenigsten. Und glaube mir, wenn ich dir sage, dass sie gerne auf den Zaubertrank verzichtet hat, um dir zu helfen."
„Sie hat das alles nicht verdient", murmelte ich kopfschüttelnd. „Ich... ich weiß fast nichts über sie. Und jetzt stirbt sie, nur weil ich unvorsichtig war, und in ein Labyrinth gegangen bin, als-"
„Es ist nicht deine Schuld."
Ich sah wieder aus dem Fenster. Natürlich war es nicht meine Schuld per se. Aber es war meine Schuld, dass sie früher sterben würde, als sie gemusst hätte. „Sie ist eine Königin. Ich hab das Todesurteil für eine Königin ausgesprochen."
„Du nicht. Es war Cillian. Und obwohl viele glauben, dass es unabsichtlich war, denke ich, dass es beabsichtigt war."
Ich sah auf. „Wieso?"
„Weil sie Mitglied im Consilium ist. Weil in Großbritannien ein sehr, sehr großer Anteil an Hexen und Zauberern lebt, über die sie herrscht. Weil Cillian wusste, dass sie irgendwann Oberhaupt im Consilium werden würde. Ob du es glaubst oder nicht, aber keiner hat das Consilium jemals so gut geführt oder ein Volk so einwandfrei regiert wie sie. Wenn sie weg ist..."
„Bricht Chaos aus." Ich nickte.
„Das ist es vermutlich, was Cillian denkt. Das ist vielleicht, was er möchte."
„Aber wieso?"
„Das Consilium trifft Entscheidungen für jeden von uns, Beverly. Wenn sich jemand nicht an die Regeln hält, entscheiden sie, welche Konsequenzen folgen. Wenn es Konflikte gibt, versuchen sie sie zu lösen. Nun stell dir vor, wie leicht es Cillian fallen würde, Angriffe zu planen und auszuführen, wenn der Zusammenschluss unserer Führer zerfallen würde und unsere Gesellschaft nicht mehr zusammenhalten kann."
Ich ließ meinen Kopf gegen die Steinmauer fallen. „Toll, und wenn alle Stricke reißen, haben wir vermutlich noch Corona im Consilium sitzen."
Er lachte nervös auf. „Hoffentlich nicht. Versteh mich nicht falsch, sie ist meine Schwester und ich liebe sie. Aber sie ist keine Königin. Und das weiß sie auch."
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Sie weiß das? Kommt mir nicht so vor." Sie schien mir eher wie eine tyrannische, verwöhnte Prinzessin. Ein Kind, das alle bestrafte, sobald man sein Spielzeug kaputt machte oder es ins Bett schicken wollte.
Lorcan fuhr sich durch die dunklen Haare. Irgendwie sah er dem Gemälde von Theodoric unfassbar ähnlich. Ob er auch vom Charakter her meinem richtigen Vater ähnelte? War Theodoric auch so ein Klugscheißer gewesen? War er so ruhig und witzig gewesen?
Hätte ich ihn gemocht?
„Seit sie ein Kind war, wusste sie, dass sie eines Tages Schottland oder Irland oder sogar beide Länder regieren würde. Das heißt aber nicht, dass sie es wollte. Unsere Eltern waren gemacht dafür. Corona nicht. Sie versucht ihre Angst, Fehler zu machen, mit Arroganz und Tyrannei zu überdecken. Alle sollen sie respektieren, und ihre Entscheidungen für richtig empfinden, wenn sie es schon nicht tut."
„Das ist aber nicht... die richtige Lösung."
Lorcan zuckte mit den Schultern. „So ist es nun einmal. Nicht jeder ist dafür gemacht, Länder zu regieren und eine so große Verantwortung zu tragen. Arthur ist auch kein König, sollte Corona sterben, sitzt er auf dem Thron. Und er ist ein Anführer. Ein Kommandant, aber kein König." Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen. „Innis ist ein Familienmensch, mit einem Haufen Kindern. Sie bewegt sich lieber in der Menschenwelt und hat sich aus dem politischen Zeug schon lange rausgehalten. Ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen."
„Was ist mit dir?", fragte ich, weil er mir wie ein anständiger, vertrauenswürdiger Mensch vorkam.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich sehe zu gut aus, um den ganzen Tag vor einem Schreibtisch zu sitzen."
Ich musste lachen. Es tat gut, zu lachen.
„Wer soll den Job denn sonst machen?"
„Finley", sagte er ohne zu zögern. Sie hatte ich ganz vergessen.
„Wieso sie?"
„Weil sie nicht darauf vorbereitet wurde, zu regieren."
Verwirrt sah ich ihn an. „Aber sie ist eine der fünf Erstgeborenen."
Er schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Nein, ist sie nicht. Sie ist die letzte von uns. Corona, Arthur, Innis, ich und dann kommt sie."
„Ja, ich weiß." Ich verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
„Aber es gab noch jemanden vor Corona." Er stieß mich mit dem Knie an.
Ein Licht ging mir auf. „Odilia."
Lorcan nickte. „Finley hätte keine von uns sein sollen, und sie wurde auch nicht als solche erzogen. Erst, als unsere Mutter Odilia ihr Recht auf den Thron verweigert und sie praktisch aus Irland verbannt hat, ist sie auf Finley zurückgekommen und hat ihr alles beigebracht. Ihre Persönlichkeit, ihr Charakter... hat sich abseits von dem strengen Protokoll und der potentiellen Verantwortung entwickelt."
„Und deshalb denkst du, dass sie besser für den Job geeignet ist?", hakte ich nach.
Er grinste. „Viel besser." Dann stand er auf. „Komm mit."
Abwartend sah ich zu ihm auf. „Wohin?"
„Wir gehen deine Fähigkeiten trainieren."
„Ich hab heute schon geübt."
„Mit Misoa. Jetzt übst du mit mir. Und Brikeena nehmen wir auch mit, damit sie nicht Trübsal bläst, weil deine Freundin weg ist."
Ich warf einen Blick nach draußen. „Es wird bald Dunkel draußen."
„Magie schläft nicht."
Aber ich sollte es...
Ich seufzte. Es hatte keinen Zweck, sich gegen Lorcan zu wehren, also rutschte ich von der Fensterbank und verließ mit ihm zusammen mein Zimmer.
Gerade als wir um die Ecke biegen wollten, kam Iona aus einem der Zimmer und schloss leise die Türe hinter sich. Als sie mich sah, lächelte sie. Aus irgendeinem Grund, war sie sie letzte Person, die ich gerade sehen wollte.
„Maeve."
„Beverly", korrigierte ich mürrisch. Mir fiel auf, dass ich anscheinend ständig meinen Namen korrigieren musste. Erst hatte Chase mich ständig Bevy genannt, und nun nannten mich alle Maeve...
Bei dem Gedanken an Chase zog es mir den Magen zusammen. Was hätte ich alles darum gegeben, sein nerviges, neckendes „Bevy" in diesem Augenblick zu hören?
„Ich habe gehört, deine Freunde sind abgereist." Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, stieß ich angestrengt den Atem aus.
„Sind sie."
„Das tut mir leid." Das kaufte ich ihr nicht ganz ab. Sie legte eine Hand auf meinen Oberarm. „Falls du etwas brauchst, kannst du jederzeit-"
„Lass das!", fauchte ich und stieß ihre Hand weg. Wut stieg in mir hoch.
Iona sah mich halb verärgert, halb überrascht an. „Was soll das?"
Ich lachte verachtend auf und wollte mit einem düsteren Blick an ihr vorbei gehen.
„Dreh mir nicht den Rücken zu!" Ich blieb stehen, drehte mich aber nicht um. „Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht sagst, was los ist."
„Mir helfen?!" Ungläubig fuhr ich zu ihr herum und im nächsten Moment begann ich zu lachen. „Du hast mich doch von Anfang an im Stich gelassen!"
Sie zog die Stirn in Falten. „Was soll das heißen?"
„Meine Mutter dachte, dass mich der Teufel geschickt hat. Mein Vater dachte, dass ich nicht sein Kind bin, weil das Sexleben meiner Eltern offenbar am Nullpunkt angekommen ist. Meine Schwester hat mich gehasst, weil sie gespürt hat, dass ich anders bin." Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich etwas kaputt geschlagen. Iona betrachtete mich eingehend, während Lorcan sich dezent zurück hielt.
„Mit zehn Jahren wurde ich entführt, von einem Mann, der mich vergewaltigt, geschlagen und eingesperrt hat. Der Dämon, den du geschickt hast, um mich zu beschützen, hat versucht, meine Seele zu brechen, um sich mit mir zu verbinden. Mit gerade Mal sechzehn Jahren habe ich schon mehr Menschen umgebracht, als so mancher Mensch in seinem ganzen Leben!" Ich funkelte sie zornig an. „Und jetzt willst du plötzlich helfen? Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber dafür ist es ein bisschen zu spät!"
Ich brauchte keinen Mutterersatz. Man kann Dinge schlecht ersetzen, die man nie hatte.
Ich hatte gelernt, mich selbst aus der Scheiße zu ziehen. Und auch, wenn ich dabei meist auf die Schnauze fiel und mehr Probleme hatte als zu Beginn, wollte ich ihre Hilfe nicht.
Jegliche Wärme war aus ihren Augen gewichen, und ich betrachtete sie wie ein widerliches Insekt.
„Und du bist nicht meine Mutter. Also lass mich in Ruhe!"
~~ ~~
„Ihr kanntet Odilia gut, oder?", fragte ich, als ich mit Lorcan und Brikeena an derselben Lichtung stand, an der ich heute Vormittag noch mit Misoa Steine und Äste hatte schweben lassen.
Eigentlich hatten die beiden mit mir noch ein bisschen üben wollen, aber im Endeffekt war es darauf hinausgelaufen, dass wir uns auf ein paar große Steine, die noch warm von der Sonne waren, gesetzt und einfach nur geredet hatten.
So ähnlich war es mir auch damals mit Delilah ergangen, wenn wir uns vorgenommen hatten, zu lernen. Es hatte zu viele spannende Themen gegeben, die uns abgelenkt hatten, und so waren wir immer auf meinem oder ihrem Bett mit einer Packung Chips gelandet und hatten getratscht.
Vielleicht hatte Lorcan gemerkt, dass meine Konzentrationsfähigkeit, nach dem Anschlag auf Aidan, dem Streit und darauffolgendem Rausschmiss meiner Freunde und dem Wutausbruch meiner Mutter gegenüber, im Keller war. Vielleicht wollte er meine Ausgeglichenheit wieder herstellen.
Oder vielleicht war er auch einfach nur ein empathischer Mensch, der sich um mein Wohlbefinden bemühte.
Es war angenehm, mit den beiden im Wald zu sitzen, während die Sonne langsam unterging und der Himmel sich rosa färbte, und einfach nur zu reden. Nicht über Magie. Wir hatten über andere Dinge gesprochen.
Lorcan hatte mir ein Bild von sich und seiner Frau gezeigt. Es war das aller erste Foto, das von ihnen geschossen worden war und er trug es immer bei sich. Ich hatte lange gebraucht, bis ich verstanden hatte, dass das erste Foto vermutlich geschossen worden war, als er um die hundertfünfzig gewesen war, aber er hatte genauso ausgesehen wie heute. Und seine Frau war eine zahnstocherdünne, wunderschöne Japanerin. Die Tochter des ehemaligen Oberhauptes des Konsiliums. Es war eine arrangierte Ehe, aber er war glücklich, weil die beiden einander immer unterstützt und respektiert hatten. Seine sieben Kinder und der Haufen an Enkeln waren überall auf dem Globus verteilt. Er bekam weder diese noch seine Frau häufig zu sehen, seit die Sache mit Cillian in den Vordergrund gerückt war und Theodoric gestorben war. Er wollte seine Familie aus diesem Krieg raushalten.
Und Brikeena erzählte von ihrer... wie nenne ich es? Sie berichtete von ihrer experimentierfreudigen Zeit nach dem Tod ihres Mannes und den Dingen, die sie in Cillian's Fängen erlebt hatte. Sie war viel herumgekommen. Sie hatte es geliebt, sich zu verlieben. Mehrfach. Irgendwo zu stranden und sich komplett neu zu erfinden. Aber obwohl Iona es versucht hatte, hatte sie sich nie wieder verheiraten lassen und allen potentiellen Ehemänner, die Iona ihr vorgestellt hatte, in Angst und Schrecken weggejagt, mit Sprüchen wie: „Wenn wir beide heiraten, bin ich in weniger als drei Tagen wieder Witwe."
Einmal hatte sie es sogar durchgezogen, zumindest behauptete sie das. Ein junger Zauberer war eingeladen worden und Iona hatte ihn und Brikeena einander näherbringen wollen.
Brikeena hatte ihn bei einem Spaziergang durchs Schloss übers Geländer geschubst. Dann hatte sie lauthals geschrien und einen Heulkrampf vorgetäuscht. Iona war natürlich mächtig wütend darüber gewesen, besonders, da die Familie des jungen Zauberers seitdem mit ihr auf Kriegsfuß stand, aber sie hatte nicht beweisen können, dass Brikeena diesen Mann tatsächlich ermordet hatte und auch nie wieder versucht, Brikeena zu verheiraten.
„Wir sind mit Odilia aufgewachsen", nickte Lorcan. „Natürlich kannten wir sie gut. Wieso?"
Ich rutschte auf dem Stein herum, weil mir die spitzen Kanten unangenehm ins Fleisch drückten.
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie... wie jemand solche Dinge tun kann. Damit meine ich, sich einem so derartig bösen Menschen wie Cillian anzuschließen und seine eigene Familie auslöschen zu wollen. Damit einverstanden zu sein, seinen Stiefvater umzubringen, der ihr so viel Gutes getan hat." Gut, ich wusste von Iona, dass nicht Cillian für Theodoric's Tod verantwortlich war, sondern Theo selbst, da er Iona sein eigenes Leben für mich gegeben hat, aber das wussten die beiden nicht. Und Tatsache war, dass Odilia zugelassen hatte, dass Cillian Theodoric verletzt hatte. „War sie schon immer so boshaft?"
Lorcan und Brikeena tauschten einen eigenartigen Blick untereinander aus. Ich war mir nicht sicher, was ich von ihm halten sollte.
„Weißt du, wenn du jemanden suchst, der Odilia verteufelt, solltest du lieber zu Corona gehen", meinte Brikeena dann und ließ ihre Füße im kühlen Wasser kreisen.
„Wie darf ich das verstehen?"
„Odilia ist... Wenn du mich fragst, ist alles, was sie getan hat absolut nachvollziehbar. Nachvollziehbar. Nicht gerechtfertigt."
Iona hatte mir ein wenig von Odilia erzählt. Dass sie sie nicht gut behandelt hatte, weil sie Looïc's Tochter war. Dass Theodoric sich um sie gekümmert hatte. Dass Odilia die rechtmäßige Erbin des irischen und französischen Throns war, Iona das aber unter allen Umständen hatte verhindern wollen.
Ich sah ein ungeliebtes Mädchen. Aber deshalb einen solchen Hass auf seine ganze Familie zu entwickeln? Odilia und Cillian hatten doch angefangen, sie zu rächen und Leute umzubringen. Sie hatten diesen Krieg begonnen.
„Ich will nur wissen, wie sie war, bevor das alles passiert ist..." Vielleicht würde es mir irgendwie weiterhelfen. Zumindest hatten mir das die ganzen Thriller und Krimis beigebracht, die ich früher mit Vicky im Fernsehen gesehen hatte. So nach dem Motto: Kenne deine Freunde gut, aber kenne deine Feinde besser.
„Ehrgeizig", sagte Lorcan schließlich. „Sie war kein Naturtalent und Iona hat sich nicht so sehr um sie... bemüht, wie um uns. Deshalb hat Odilia sich fast alles selbst beigebracht. Sie war so unfassbar ehrgeizig. Und wirklich, wirklich gut."
„Ja, ich denke nicht, dass es einen Zauber gibt, den sie nicht beherrscht oder nicht erlernen kann." Brikeena nickte eifrig. „Unser Vater hatte ein Buch mit Zaubern, die vielleicht eine Handvoll Zauberer und Hexen beherrschen, weil sie so schwierig sind. Odilia hat sie alle in einem Jahr perfektioniert. Sie war wirklich gut. Und sie hat viel geschluckt. Sie wusste, dass Iona sie furchtbar behandelt hat, aber sie hat alles hinuntergeschluckt und ohne Widerworte erduldet. Erst, als die Sache mit Cillian herausgekommen ist und die Tatsache, dass sie von ihm ein Kind erwartet hat, und unsere Mutter sie endgültig rausgeschmissen und ihr das Recht auf den Thron verweigert hat, ist sie an die Decke gegangen."
„Wirklich?" Ich begann an meinem Daumennagel herumzukauen. „Ich dachte eher, dass sie... temperamentvoll war und vielleicht Emotionsmagie verwendet hat."
„Emotionsmagie ist unkontrollierbar", erwiderte Brikeena. „Und Odilia hasst es, die Kontrolle zu verlieren."
Ich betrachtete die unruhige Wasseroberfläche und ließ mir alles durch den Kopf gehen. Vielleicht hätte ich mich gut mit ihr verstanden, wenn Iona sie durch ihr Verhalten nicht so kaputt gemacht hätte.
„Habt ihr Cillian jemals gesehen?", fragte ich und sah auf. Lorcan schüttelte den Kopf, aber Brikeena blieb still. Sofort fiel mir auf, wie dumm diese Frage war und ich atmete erschrocken auf. „Entschuldige, ich wollte nicht-"
„Ist schon gut...", sagte sie schnell und schüttelte mild den Kopf. „Es ist nur... Ich habe ihn nicht oft gesehen. Die meiste Zeit hatte ich nichts mit ihm oder Odilia zu tun, ich... saß nur in einer kleinen Zelle." Sie hörte auf, ihre Füße durch das Wasser gleiten zu lassen. „Tag ein Tag aus war ich in dieser steinernen Zelle mit den metallenen Gitterstäben. Keinerlei Magie möglich. Kein Fenster nach draußen. Nur... die Wärter, die ab und zu Schichtwechsel hatten und mir etwas zu essen und trinken gebracht haben." Ihr Blick wurde kalt. Ihre Stimme matt. „Zehn Jahre lang. Ich bin fast verrückt geworden."
Das konnte ich nachvollziehen.
„Wieso haben sie dich nicht..."
„Umgebracht?", fragte sie und sah mir direkt in die Augen. Mir fuhr ein Schauer über den Rücken und der leichte Wind brachte mich zum Zittern.
„Keine Ahnung. Ich denke... Weißt du, Odilia und ich wir waren lange Zeit wie beste Freundinnen. Wir haben uns wirklich gut verstanden und sie hat mir viel beigebracht. Ich hab sie wirklich gerne gemocht." Sie sah schon beinahe schuldbewusst aus, als sie den Blick wieder abwandte. „Vielleicht hat sie bestimmt, dass ich nicht getötet werde."
„Wie bist du entkommen?"
Sie schloss die Augen. „Ich will wirklich nicht weiter darüber reden."
Also ließ ich es sein und wandte mich wieder an Lorcan, der seine Schwester traurig ansah. Ob er wohl zu den Leuten gehört hatte, die sie damals aufgegeben hatten?
„Ich weiß nicht, ob es mir weiter hilft, aber kann ich... kann ich das Buch sehen, aus dem Odilia diese superschweren-nur-eine-Handvoll-Zauberer-beherrschen-sie Zaubersprüche hat?"
Er sah mich nachdenklich an. „Es war das Buch unseres Vaters. Es steht irgendwo in der Bibliothek in Schottland und ich hab keine Ahnung wo. Du könntest Corona fragen."
„Ich hatte gehofft, dass du das sagst."
Er schmunzelte. „Oder Arlen. Ihn kannst du auch darum bitten." Das klang akzeptabel.
„Darf ich fragen, wozu du das Buch brauchst?", fragte Brikeena.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich will wissen, auf was ich mich einstellen muss. Sie scheint uns immer näher zu kommen, ich will nur... vorbereitet sein." Außerdem hatte Misoa gemeint, dass ich von hundert auf eins musste, was meine Magie anging. Sie hatte bestimmt nicht unrecht, aber das bedeutete auch, dass ich bei hundert starten konnte, und an schweren Zaubern arbeiten konnte, oder?
„Es wird dunkel." Brikeena zog die Schultern hoch. „Lasst uns zurückgehen, bevor wir uns im Wald die Beine brechen."
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